Editorial
DOI:
https://doi.org/10.12946/rg23/005-008Abstract
Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit am 3. Oktober 1990 die Deutsche Demokratische Republik ihren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes vollzog – ein Staat verschwand von der Landkarte. Ein neuer Rechtsraum entstand.
Markiert die Wiedervereinigung aber auch eine Zäsur in der Rechtswissenschaftsgeschichte? Wie hat sich die Rechtswissenschaft in Deutschland in diesen 25 Jahren entwickelt: in Jahrzehnten, die zugleich von einer dynamischen Globalisierung, vor allem aber durch Digitalisierung und Ökonomisierung des Rechts- wie auch des Wissenschaftssystems gekennzeichnet sind? – Am Max-Planck-Institut haben wir uns mit dieser Frage seit einigen Monaten im Gespräch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen juristischen Teildisziplinen beschäftigt.1 In diesem Zusammenhang ist auch der Beitrag von Julian Krüper entstanden, in dem er einleitend die Frage nach der Möglichkeit einer Zeitgeschichte der Verfassungsrechtswissenschaft stellt, einen weiten Überblick über die Debatten gibt und diese nicht zuletzt auf den Begriff des ›Abschieds vom Interim‹ bringt.
Im Fokus dieses Hefts geht es ebenfalls um die Veränderung von Rechtsräumen: im ersten Jahrtausend und im 19. und 20. Jahrhundert. Die zehn Beiträge stammen aus unterschiedlichen Kontexten. Sie verbindet das Nachdenken über ›Rechtsräume‹ – einen von vier Forschungsschwerpunkten am Max-Planck-Institut. In den ersten sieben Aufsätzen stehen »Ausprägungen von Zentralität in Spätantike und frühem Mittelalter – Normative und räumliche Dimensionen« im Mittelpunkt; so lautete auch das Thema einer Tagung, zu der Hartmut Leppin vom Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Goethe-Universität und Wolfram Brandes und Caspar Ehlers, die im Forschungsfeld ›Recht als Zivilisationsfaktor im ersten Jahrtausend‹ am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte zusammenarbeiten, im Jahr 2012 eingeladen hatten. Da die Spätantike und das frühe Mittelalter allgemein als Epochen der Dezentralisierung oder gar Regionalisierung gelten und gerade in den letzten Jahren viele Arbeiten sich mit Peripherien beschäftigten, sollte es besonders um Ausprägungen von Zentralität gehen. Denn während über das Konzept der Peripherie viel debattiert und die Bedeutung von Entwicklungen an den Peripherien hervorgehoben wurde, hat der komplementäre Begriff der Zentralität weitaus weniger Beachtung gefunden. Die Fragestellung der Tagung richtete sich dabei nicht allein auf politische Strukturen, sondern auf verschiedene Formen von Zentralität, wobei sowohl im weitesten Sinne (›faktisch‹ existierende) Hierarchien als auch (auf die Zukunft gerichtete) Intentionen zum Tragen kommen sollten. Die Beiträge können das weite Feld natürlich nicht erschließen. Sie sollen aber Denkanstöße geben, um die Transformation der Mittelmeerwelt nicht allein von der Dezentralisierung her zu denken, die die Auflösung eines großen Reiches mit sich brachte, sondern auch aus der Perspektive der neuen Zentren und der Bandbreite ihrer spezifischen Funktionen.
Die folgenden drei Aufsätze stammen aus der atlantischen Welt. Zu einem panel ›La Formación de Espacios Jurídicos Iberoamericanos (S. XVI–XIX): Actores, Artefactos e Ideas‹ im Rahmen der AHILA Tagung ›Entre espacios: La historia latinoamericana en el contexto global‹ und einer dem gleichen Thema gewidmeten anschließenden Tagung im September 2014 hatten Benedetta Albani und Thomas Duve vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte zusammen mit Samuel Barbosa (USP, Brasilien) eingeladen. Es sollte darum gehen, wie sich Rechtsräume in der Kommunikation zwischen Alter und Neuer Welt ausgeprägt haben.2 Der größte Teil der Beiträge wird in einem Dossier im Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas – Anuario de Historia de América Latina 52 (2015) publiziert.3 Drei repräsentative Beiträge zum 19. und 20. Jahrhundert haben wir in diesen Fokus aufgenommen: aus dem portugiesisch-brasilianischem Imperium, aus dem nach den Unabhängigkeiten keineswegs unverbundenen hispanoamerikanischen Rechtsraum, aus dem kirchlichen Rechtsraum, in dessen Zentrum Rom lag. Der Fokus wird abgeschlossen mit einigen Reflexionen zu Rechtsräumen von Massimo Meccarelli (Università di Macerata, Italien).
Die Debatte schließlich nimmt ebenfalls ein Thema auf, das im Jahr 2014 diskutiert oder vielmehr: nicht diskutiert wurde. Peter Oestmann (Universität Münster, Deutschland) hatte auf dem 40. Deutschen Rechtshistorikertag in Tübingen zu einem Gespräch aufgefordert, was wir eigentlich in unserer Forschung unter ›Theorie‹ und ›Praxis‹ verstehen. Die an seinen Vortrag anschließende Diskussion folgte allerdings der Logik vieler großer Tagungen: Wer sich zu Wort meldete, sprach vor allem von sich oder anderen Einzelheiten. Eine Debatte zur vom Vortragenden aufgeworfenen übergeordneten Fragestellung blieb aus. Auf unsere Einladung,4 diese schriftlich nachzuholen, gingen einige interessante Antworten ein.
Dass es andernorts vielleicht noch lebendiger zugeht, etwa in Frankreich, zeigt sich an mancher Rezension in der Kritik. Einen Einblick in eine ganz andere Welt gibt schließlich die Marginalie: In ihr wird ein Prozess gegen Würmer geschildert und transkribiert, der 1653 in Mexiko stattfand. Jorge Traslosheros (UNAM, Mexiko D. F.) weist zu Recht darauf hin, dass es sich hier um mehr als ein Kuriosum handelt – nicht nur, weil auch heute wieder vermehrt über den status von Menschen und Tieren im Recht diskutiert wird.
1 Die Beiträge erscheinen im Jahr 2015 in einem Sammelband Thomas Duve / Stefan Ruppert, Rechtswissenschaft in der Berliner Republik.
2 Vgl. dazu den einleitenden Text Albani / Barbosa / Duve (2014).
3 http://www.degruyter.com/view/j/jbla
4 http://www.rg.mpg.de/762391/notice14_11-20
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