Das Alte in der neuen Ordnung*

[Old Traditions in the New Order]

Hendrik Simon Institut für Politikwissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt / Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung simon@soz.uni-frankfurt.de

In ihrer Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels argumentierte Susan Sontag 2003, der Gegensatz zwischen »alt« und »neu« stehe im Zentrum dessen, was wir unter Erfahrung verstünden. Mehr noch: »Alt« und »neu« seien die ewigen, unumstößlichen Pole aller Wahrnehmung und Orientierung in der Welt. Ohne das Alte kämen wir nicht aus, weil sich mit ihm unsere ganze Vergangenheit, unsere Weisheit, unsere Erinnerungen, unsere Traurigkeit, unser Realitätssinn verbinde. Ohne den Glauben an das Neue wiederum kämen wir nicht aus, weil sich mit dem Neuen unsere Tatkraft, unsere Fähigkeit zum Optimismus, unser blindes biologisches Sehnen, unsere Fähigkeit zu vergessen verbinde – diese heilsame Fähigkeit, ohne die Versöhnung nicht möglich sei. Mit anderen Worten: Erst eine noch so unpräzise und temporal begrenzte Unterscheidung zwischen »alt« und »neu« gestattet es uns, soziopolitische Phänomene historisch zu vergleichen, zu ordnen, zu periodisieren, und sie schließlich als Geschichte(n) zu erzählen. »Alt« und »neu« – diese mit dem |Konzept des »Fortschritts« eng verbundene Dichotomie ist grundlegend nicht nur für Kants kosmopolitische Teleologie, für Hegels Dialektik, für den »alten« und »neuen« Marxismus, sondern auch für moderne Völker-Rechtsgeschichte(n). Das zeigt auch das gut lesbare und pointierte Buch von Oona A. Hathaway und Scott J. Shapiro. Und umso interessanter sind die teleologischen Verkürzungen, die die Autoren vornehmen, um ihr Narrativ vom Neuen zu bedienen.

Die beiden in Yale lehrenden Völkerrechtler stellen die für die Disziplin grundlegende Frage nach Vergangenheit, Transformation und Genese der modernen normativen Ordnung zwischenstaatlicher Gewalt. Im Zentrum von The Internationalists steht die These, dass der Briand-Kellogg-Pakt vom 27.August 1928 mit der erstmaligen weltweiten Kriegsächtung »eines der revolutionärsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte« sei – ein Ereignis, »das unsere Welt letztlich friedlicher« gemacht habe (xiii). Die Autoren behaupten, dass der Pakt in Forschung und kollektiver Erinnerung bislang wenig beachtet oder aber als gescheitert angesehen wurde. Das stimmt zwar für die zeitgenössische Rezeption, scheint angesichts jüngerer Forschungen hingegen nicht mehr zutreffend.1 Dennoch ist die normative Bedeutung des Briand-Kellogg-Pakts in weiterer historischer Perspektive, also mit Blick auf seine Genese und Wirkung, weiterhin erforschungswürdig, wie nicht zuletzt die breite und geradezu euphorische öffentliche Rezeption des Buchs von Hathaway und Shapiro beweist. Es besteht offenbar Interesse an völkerrechtshistorischen Studien zum (vor-)modernen Kriegsdiskurs, zumal, wenn sie sprachlich so ansprechend verfasst sind.

Dabei handelt es sich bei The Internationalists – allen postkolonialen Impulsen in der jüngeren Völkerrechtsgeschichte zum Trotz – um eine »klassische« völkerrechtliche Fortschrittsgeschichte westlich-liberaler Provenienz:2 Die Autoren sind überzeugt, dass ein rechtliches Verbot des Krieges – also ein Mehr an Recht – zugleich auch zu einem Mehr an Frieden geführt hat. Um aber überhaupt einen solchen normativen Fortschritt in historischer Perspektive konzipieren zu können, bedarf es wiederum eines Rückgriffs auf den eben angesprochenen Gegensatz zwischen »alt« und »neu«. So wirke die »neue Weltordnung« geradezu wie ein »photographisches Negativ« (vii) antagonistisch zur »alten Ordnung« vor 1928: Während in der alten Ordnung Krieg als Sanktion eines Rechtsbruchs legal gewesen sei, sei er in der neuen Ordnung illegal. Während in der alten Ordnung Eroberungen, Gewaltandrohungen und Tötungen im Krieg stets legitim, ökonomische Sanktionen hingegen illegitim gewesen seien, seien Eroberungen und Gewaltandrohungen in der neuen Ordnung illegitim, ökonomische Sanktionen und die strafrechtliche Ahndung von Kriegsverbrechen hingegen legitim. Die Autoren gehen so weit zu behaupten, dass, während in der alten Ordnung Macht und Recht identisch gewesen seien (xv), der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 die Herausbildung einer »besseren« (422), weil friedlicheren Ordnung in Gang gesetzt habe. The Internationalists stellt damit auch ein Plädoyer für die Verteidigung der internationalen Rechtsordnung angesichts aktueller Herausforderungen dar – gedacht werden darf etwa an den Krieg in Syrien, ISIS, die Ukraine-Krise, oder den weltweiten Aufstieg von Populismus, Chauvinismus und Nationalismus (419). Zur empirischen Unterfütterung ihrer These, dass die neue Ordnung friedlicher sei als die alte, haben Hathaway und Shapiro eine Vielzahl an Dokumenten und empirischen Daten herangezogen.

In erster Linie ist ihr Buch allerdings eine völkerrechtliche Ideen- und Wissenschaftsgeschichte: Die Weltordnung ist den Autoren zufolge vorwiegend durch die Herausbildung rechtspazifistischer Ideen transformiert worden. Diese rechtstheoretische Diskursgeschichte ist wiederum spiegelbildlich konzipiert. Auf der einen Seite drängen die Protagonisten der neuen Ordnung voran, eine vergleichsweise homogene Gruppe anglo-amerikanischer »Internationalisten«, darunter zwei miteinander konkurrierende Friedensaktivisten, der Jurist Salmon Levinson und der Historiker James T. Shotwell, zudem US-Diplomat Sumner Welles sowie der Völkerrechtler Hersch Lauter|pacht. Auf der anderen Seite verharrt eine zeitlich und geographisch höchst diverse Gruppe von »Interventionisten«, die zu den Protagonisten der alten Ordnung stilisiert werden: der vermeintliche »Vater des Völkerrechts«, Hugo Grotius, der berühmt-berüchtigte deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt, der japanische Philosoph Nishi Amane sowie der ägyptische Islamist Sayyid Qutb.

Interessant sind dabei insbesondere die Bezüge zwischen diesen Denkern und den jeweils politisch Mächtigen: Levinson und Shotwell publizierten nicht im luftleeren Raum des akademischen Elfenbeinturms gegen den Krieg, sie suchten vielmehr seit 1918 hartnäckig den öffentlichen und politischen Diskurs direkt zu beeinflussen. Von Levinsons Pamphlet »The Legal Status of War« (1918) wurden innerhalb von sechs Monaten mehr als 350.000 Exemplare gedruckt. Briand bezog sich unmittelbar auf ein Memorandum von Shotwell, Kellogg wiederum war mit Levinsons Pamphlet »The Outlawry of War« vertraut und korrespondierte mit dem Juristen, auch wenn sich Kellogg 1929 an Salmon Levinsons Vornamen nicht mehr erinnern konnte (oder wollte), womöglich, weil Kellogg erfahren hatte, dass neben ihm auch Levinson für den Friedensnobelpreis nominiert worden war (der schließlich aber Kellogg zugesprochen wurde). Ein anderes zentrales Beispiel für das Wechselspiel zwischen Politik und Recht sind Grotius’ Traktate zur Legitimität von Krieg. So ist Grotius für Hathaway und Shapiro denn auch in erster Linie ein »herausragender Philosoph des Krieges«, der die legitimen Mittel im Kriege zwar in gewissem Rahmen begrenzt sehen wollte, dem es allerdings vorrangig darum gegangen sei, passende Kriegslegitimationen für seine niederländischen Auftraggeber herauszuarbeiten, wie Kant später kritisieren sollte. Wenngleich die Behauptung der Autoren, Grotius habe Recht und Macht letztlich gleichgesetzt, kaum überzeugt, verweisen Hathaway und Shapiro anhand der Helden und Anti-Helden ihrer Geschichte anschaulich auf die Politisierbarkeit vermeintlich »objektiver« Juristen – im Positiven wie im Negativen.

Allerdings scheinen Hathaway und Shapiro die normative Bedeutung von Juristen in Kriegsdiskursen insgesamt doch zu überschätzen. Gerade die Ausführungen zu Grotius erwecken den Eindruck, der Meisterjurist habe nicht nur Recht als diskursives Vokabular und Argument systematisiert, sondern damit vielmehr selbst Völkerrecht gesetzt. Einen Beweis hierfür bleiben die Autoren allerdings schuldig. Die jüngere politische Geschichtsforschung hat hingegen argumentiert, dass Grotius zwar durchaus von Mächtigen seiner Zeit, etwa von Gustav II. Adolf, rezipiert wurde, er allerdings keineswegs als allgemein verbindliche rechtliche Autorität angesehen wurde.3 Während juristische Ideen bei Hathaway und Shapiro besondere Aufmerksamkeit genießen, werden andere normative Quellen einseitig ausgewertet: Belegen die über 400 von Hathaway und Shapiro analysierten Kriegserklärungen im Zeitraum zwischen 1492 und 1945 wirklich, dass Recht und Macht in der alten Ordnung identisch waren? Oder verweist die historisch konstante Rechtfertigungsbedürftigkeit von Krieg nicht vielmehr gerade darauf, dass Gewalt in der Außenpolitik auch schon vor 1928 als problematisch angesehen wurde?

Für Letzteres – und gegen die von Hathaway und Shapiro entwickelte Dichotomie von alter und neuer Ordnung, die sie um das Jahr 1928 herum konstruieren – scheint aus Sicht des Rezensenten durchaus einiges zu sprechen: Denn der »radikale Plan«, Krieg als Mittel der Politik einzuschränken oder gar zu verbieten, findet sich keineswegs erst zu Beginn des 20.Jahrhunderts, wie von den Autoren behauptet. Ein besonders prominenter Vordenker der pazifizierenden Kraft des Völkerrechts, Immanuel Kant, erhält im vorliegenden Band erstaunlich wenig Aufmerksamkeit. Auf ihn sollte sich im »langen 19. Jahrhundert« jedoch ein Großteil der sich nun professionalisierenden Disziplin des Völkerrechts beziehen. So forderte Johann Caspar Bluntschli unter Bezug auf Kant – und ausdrücklich gegen das Konzept des Krieges als Instrument der Politik im Sinne des Carl von Clausewitz gewandt – eine moralische und recht|liche Kriegsächtung. Ebenso wenig wie diese rechtstheoretischen Vordenker der »Internationalisten« des 20. Jahrhunderts werden Versuche einer Institutionalisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen in der politischen Praxis des 19. Jahrhunderts von Hathaway und Shapiro berücksichtigt. Dabei entwarf das Konzert der europäischen Großmächte – dieser Begriff fällt im Band an keiner Stelle – eine internationale Friedensarchitektur, die auf machtvollem Zwang, zugleich aber auch auf Normen basierte. Letztere oszillierten zwischen Recht und Macht, ohne dass beide Begriffe einander gleichzusetzen waren. Aggressionskriege wurden seit dem Wiener Kongress geächtet, Interventionen hochkontrovers diskutiert (und immer nur als Ausnahme gutgeheißen), erste Einschränkungen des »Rechts zum Krieg« normiert. Mit anderen Worten: Der »radikale Plan«, Krieg als Mittel der Politik einzuschränken oder gar zu verbieten, findet sich, wenn auch mangels Kriegsverbot noch in feinen Konturen, bereits im 19. Jahrhundert.4 Allerdings kommt das 19. Jahrhundert im Band von Hathaway und Shapiro als eigenständige Ära überhaupt nicht vor. Es wird – das hat in der Völkerrechtsgeschichte eine gewisse Tradition – unter die »alte Weltordnung« von ca. 1600 bis 1928 subsumiert.

Nun schmälert dieser Befund, der sich freilich ebenfalls aus jüngerer Forschung ergibt, die oben genannten Vorzüge von The Internationalists nicht entscheidend. Es handelt sich dennoch um ein lesenswertes Buch. Besonders die Kapitel zum Diskurs der Kriegsächtung zwischen 1918 und 1928 betonen die potenziell hohe Bedeutung der Zivilgesellschaft in politischen Prozessen der Verrechtlichung – gerade in Zeiten von Unilateralisten wie Trump ein wichtiger rechtspolitischer Appell. Dennoch offenbart die viel beachtete Monographie eine grundlegende Problematik der für die Historiographie vielleicht notwendigen, aber eben auch unterkomplexen Dichotomie von »alt« und »neu«: (Auch) für die Völkerrechtsgeschichte ist diese Dichotomie so schwierig, weil radikale Umbrüche selten sind (zu denken wäre vielleicht an die Völkerrechtsdiskurse in der Französischen Revolution), Innovationen häufig vorgedacht wurden und sich meist in längerfristigen Entwicklungen ankündigen. »Alt« und »neu« mögen, mit Susan Sontag, die unverzichtbaren Pole aller Wahrnehmung und aller Orientierung in der Welt sein. Sie sollten aber nicht dazu verleiten, die Zwischen- und Grautöne, die sich dieser einfachen Dichotomie entziehen, zu überdecken.

Notes

* Oona A. Hathaway, Scott J. Shapiro, The Internationalists: How a Radical Plan to Outlaw War Remade the World, New York: Simon & Schuster 2017, 608 S., ISBN 978-1-5011-0986-7

1 Siehe an einschlägigen Monographien etwa Eva Buchheit, Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 – Machtpolitik oder Friedensstreben? Münster 1998; Bernhard Roscher, Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928: Der »Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik« im völkerrechtlichen Denken der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2004.

2 Dieser Aspekt wird vertieft diskutiert bei Charlie Peevers, Liberal Internationalism, Radical Transformation and the Making of World Orders, in: European Journal of International Law 29,1 (2018) 303–322, online: http://www.ejil.org/pdfs/29/1/2853.pdf.

3 Anuschka Tischer, Offizielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit: Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis, Münster 2012.

4 Hendrik Simon, The Myth of Liberum Ius ad Bellum: Justifying War in 19th-Century Legal Theory and Political Practice, in: European Journal of International Law 29,1 (2018) 113–136, online: https://academic.oup.com/ejil/article/29/1/113/4993231.