Diskursgeschichte des Völkerstrafrechts*

[The History of the Discourse of International Criminal Law]

Milan Kuhli Universität Hamburg milan.kuhli@uni-hamburg.de

Das vorliegende Buch von Annette Weinke ist aus ihrer Habilitationsschrift hervorgegangen, die 2013 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht und angenommen wurde. In den Worten der Autorin liegt dieser Studie die Idee zugrunde, »anhand des deutschen Fallbeispiels eine Diskursgeschichte des modernen Völkerstrafrechts im 20. Jahrhundert zu schreiben« (330). Konkret heißt dies: »In Anknüpfung an Begriffe und Methoden, die sich in den letzten Jahren im Zusammenhang mit den beiden Forschungstrends der Transitional Justice und der juridischen Vergangenheits-, Geschichts- und Erinnerungspolitik herausgebildet haben, soll anhand der Diskussionen über deutsche staatliche Gewalt im 20. Jahrhundert der Frage nachgegangen werden, welche diskursiven Strategien und sozialen Praktiken in verschiedenen Kontexten eingesetzt wurden, um gegenüber einem internationalen oder nationalen Publikum die Illegalität beziehungsweise Legalität bestimmter Gewaltmaßnahmen zu begründen« (10f.). Die Verfasserin konzentriert sich dabei in vier Haupt|kapiteln und einem abschließenden Kapitel auf »den außergerichtlichen Raum von Regierungen, Ministerien, Zivilgesellschaft und Wissenschaft« (11), den sie anhand von gedruckten und ungedruckten Quellen beleuchtet.

I. Die Untersuchung beginnt mit dem Kapitel »Den Haag – Versailles«, dessen zeitlicher Bogen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Weimarer Zeit reicht. Die Verrechtlichung des Krieges, die bereits vor der Jahrhundertwende debattiert wurde und die eine Ausprägung in den Haager Abkommen von 1899 und 1907 fand (30ff.), erlebte nach den Worten Weinkes im Ersten Weltkrieg einen »Testfall«, sodass schon kurz nach Kriegsbeginn international über deutsche Völkerrechtsverstöße diskutiert wurde (104f.). Die Autorin schildert in diesem Kontext die während des Krieges stattfindende Unternehmung der Alliierten, deutsche Gewalttaten »sowohl für historische Zwecke als auch im Hinblick auf mögliche strafrechtliche Sanktionen zu dokumentieren« (31): Der erstmals 1915 erschienene Bericht der sogenannten Bryce-Kommission über deutsche Gewalttaten diente laut Weinke zur Informierung der Weltöffentlichkeit, trug aber auch »maßgeblich dazu bei, die anfangs ablehnende Haltung der Liberalen gegen den britischen Kriegseintritt aufzuweichen« (49f.). In die zeitgleich einsetzende Debatte über eine völkerrechtliche Bestrafung der deutschen Verantwortlichen flossen nach Ansicht der Verfasserin nicht nur Gerechtigkeitserwägungen (»Weltfriedensordnung«), sondern auch nationalistische Zielsetzungen ein (46f.).

II. Es folgt das zweite Kapitel (»Washington – Nürnberg – Bonn«), das vor allem den Völkerstrafrechtsdiskurs im Zweiten Weltkrieg, daneben aber auch den Hintergrund des Beitritts der jungen Bundesrepublik zur Völkermordkonvention zum Gegenstand hat. In Bezug auf das Weltkriegsgeschehen richtet die Autorin den Blick sowohl auf die deutsche Seite als auch auf diejenige der Alliierten. Weinke konstatiert dabei einen wesentlichen Unterschied zum Ersten Weltkrieg: Während es dort »vor allem Rechtswissenschaftler der Ententestaaten gewesen waren, die das Thema deutscher Völkerrechtsverletzungen frühzeitig auf die politische Tagesordnung gebracht hatten, verliefen die Frontlinien im Zweiten Weltkrieg zunächst in umgekehrter Richtung. Kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen meldeten sich namhafte deutsche Völkerrechtler zu Wort und warfen der britischen Regierung in einer absurden Verdrehung der Tatsachen vor, einen ›verbrecherischen Angriffskrieg‹ gegen das Deutsche Reich vom Zaun gebrochen zu haben«. Es sollte »fast zwei Jahre dauern, ehe die internationale Debatte über die deutsche Kriegsführung langsam in Gang kam« (170f.). Laut Weinke bildeten sowohl Negativerfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg als auch interne Meinungsverschiedenheiten Gründe für dieses Zögern der Alliierten (110).

Deutlich früher als die politische Führung haben Wissenschaftler, Friedensaktivisten und Verfolgte des NS-Regimes agiert (112). In dieser Hinsicht befasst sich die Autorin unter anderem mit dem polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin, der sich während des Krieges für eine Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts einsetzte (117ff.). Dessen 1944 erschienenes Buch Axis Rule in Occupied Europe rechnet Weinke zu einem »neuartigen Typus der juridischen Geschichtsschreibung. Diesem lagen drei mehr oder weniger fest umrissene Motivlagen zugrunde: Erstens sollten Öffentlichkeit und Nachlebende über die weitreichenden Verfolgungs- und Vernichtungsabsichten des Dritten Reiches aufgeklärt werden; zweitens betrieb man eine Form der forensischen Spurensicherung, die als Grundlage für spätere Anklageerhebungen dienen konnte; drittens war man bestrebt, die im Gang befindliche völkerrechtliche Diskussion über deutsche Massengewalt in einem menschenrechtlichen Sinne zu beeinflussen« (172f.). Lemkins spätere Bedeutung für die Völkermordkonvention dürfte der Grund dafür sein, warum die Autorin die Geschichte des westdeutschen Beitritts zu diesem Vertragswerk ebenfalls bereits im zweiten Kapitel nachzeichnet (159ff.).

III. Im dritten Kapitel (»Bonn – Ludwigsburg – Jerusalem«) widmet sich die Verfasserin der »Vergangenheitsbearbeitung« im Nachkriegsdeutschland (178). In diesem Kontext beleuchtet sie unter anderem die Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG: »Während die Bewegung gegen die Todesstrafe in so gut wie allen westeuropäischen Nachkriegsstaaten als klassisches Projekt der Linksliberalen und Sozialdemokraten gelten konnte, hatte sich in Westdeutschland die nationalistische Rechte das Thema frühzeitig zu eigen gemacht« (179). Ein weiterer Fokus des Kapitels liegt auf dem historischen und juristischen Umgang mit der These vom »Endlösungsbefehl« (193ff.) sowie auf dem Eichmann-Prozess, der in dem Werk Hannah Arendts Reflexion fand (211ff.). Nach Ansicht von |Weinke entfalteten aber weder der Jerusalemer Prozess noch Arendts Reportage unmittelbare Auswirkungen auf die deutsche Rechtsprechung (225, 236).

IV. Das vierte Kapitel trägt den Titel »Salzburg – Bonn/Berlin« und beleuchtet die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges. Der erste Teil der Kapitelüberschrift (»Salzburg«) rekurriert auf die sogenannte Transitionsforschung, die ein heuristisches Instrument der vorliegenden Arbeit bildet und in diesem Kontext auch zu ihrem Untersuchungsgegenstand wird (20). Eine zentrale Etappe der Entwicklung dieser Forschungsrichtung bildet nach Auffassung der Autorin eine Konferenz, die im Jahre 1992 in Salzburg stattfand (254ff.) und anhand derer die Verfasserin Probleme dieser Forschungsdisziplin aufzeigt (257).

Im zweiten Schwerpunkt bezieht sich das vierte Kapitel (»Bonn/Berlin«) auf die »deutsche Diktaturaufarbeitung« in der Zeit nach der Wiedervereinigung, die sich laut Weinke dadurch auszeichnet, dass man bereits »frühzeitig und dezidiert auf strafrechtliche Strategien« (269) setzte. Nach Auffassung der Autorin traf der Zusammenbruch der DDR auf einen Zeitgeist, »der durch eine verstärkte gesellschaftliche Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs gekennzeichnet war« (237). Weinke kritisiert dabei, dass die Strafverfolgung von DDR-Unrecht durchgeführt wurde, »ohne dass man sich zuvor in einer gesellschaftlichen Debatte über die Notwendigkeit von Strafprozessen und damit zu verfolgende Strafzwecke verständigt hatte« (271). Andererseits wurde von verschiedenen Seiten über die Einrichtung eines außergerichtlichen Tribunals diskutiert (275ff.) – eine Idee, die nach Ansicht der Autorin jedoch »in der Öffentlichkeit überwiegend auf Skepsis« stieß (280).

V. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Verfasserin eine interessante Abhandlung vorlegt, die anhand ausgewählter Quellen zentrale Debatten beleuchtet. Es gelingt der Autorin, zahlreiche Wechselwirkungen zwischen Geschichtsbildern, historischen Narrativen, juristischer Bewertung und juridischer Geschichtsschreibung aufzuzeigen. Dass hierbei so mancher Diskussionsbeitrag (z.B. derjenige von Hermann Jahrreiß – 116ff.) ausführlicher nachgezeichnet wird als andere, mag unter dem Blickwinkel der Exemplifizierung verständlich sein. Interessant wäre es allerdings gewesen, wenn sich Weinke noch tiefergehend mit dem auf 217ff. nur kurz erwähnten Fritz Bauer befasst hätte. Zu kritisieren ist außerdem, dass nicht alle Aussagen der vorliegenden Studie mit konkreten Quellenangaben versehen sind; so finden sich beispielsweise im Kontext der Aussage, »viele westdeutsche Schwurgerichtskammern« hätten »den behaupteten ›Endlösungsbefehl‹ als Strafmilderungsgrund« bewertet (207), keine direkten Verweise auf konkrete gerichtliche Entscheidungen. Auch ist ergänzend zu betonen, dass das von der Verfasserin angesprochene sogenannte »›Richterprivileg‹ […], das zu einer fast völligen Straflosigkeit der NS-Juristen geführt hatte« (274), bereits in Gustav Radbruchs Beitrag Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht von 1946 Erwähnung findet.1

An der hier rezensierten Studie ist positiv hervorzuheben, dass die kritisch beleuchteten Aktivitäten von Wahrheitskommissionen (u.a. 253, 268) und Debatten über Amnestien (290ff.) sowie Kriegsverantwortlichkeiten (61ff.) anschaulich machen, welche Spannweite eine völkerstrafrechtliche Diskursgeschichte haben muss. In dem Maße nämlich, in dem die Durchführung bzw. Nichtdurchführung von Strafverfolgung und die Debatten hierüber mit anderen Elementen einer Transitional Justice bzw. Vergangenheitsbewältigung einhergehen, muss eine Diskursgeschichte des Völkerstrafrechts auch diese anderen Elemente im Blick haben. In diesem erweiterten Fokus liegt der Wert von Weinkes Buch.

Notes

* Annette Weinke, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 19), Göttingen: Wallstein Verlag 2016, 372 S., ISBN 978-3-8353-1766-6

1 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung I (1946) 105–108; vgl. hierzu auch Thomas Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl., Heidelberg 2016, 225f.