Es ist nicht zu übersehen, dass spätestens seit der Jahrtausendwende in den Geisteswissenschaften ein gesteigertes Bedürfnis nach einer Historisierung der eigenen Zunft existiert, bei der es nicht um die eher pflichtschuldige Übung eines einleitenden Forschungsstandes geht, von dem aus die eigene Arbeit vorangetrieben wird, sondern die die Wissensbestände des Fachs selbst zum Thema hat. Auch die Rechtsgeschichte reiht sich hier ein in einen allgemeinen Trend zu (geisteswissenschaftlicher) Wissenschaftsgeschichte1 und vielleicht ist es nicht verfehlt, mit Ernst-Wolfgang Böckenförde und seiner 1961 erschienenen (philosophischen) Dissertation2 einen gleichermaßen frühen wie wirkmächtigen rechtsgeschichtlichen Innovator zu identifizieren.
Jedes historische Buch hat darüber hinaus seine eigene Geschichte. Die im Januar 2018 an der Bucerius Law School in Hamburg angenommene und im gleichen Jahr publizierte Habilitationsschrift Johannes Liebrechts war – so die Selbstauskunft im wenige Zeilen umfassenden Vorwort – zunächst als Promotionsvorhaben bei Karl Kroeschell und eben Böckenförde geplant; die wissenschaftlichen ›Spuren‹ beider sowie Liebrechts ›Nähe zu ihnen‹ hätten – dies ist deutlich zu spüren – das Projekt initiiert wie begleitet. In seiner Dissertation widmete sich Liebrecht dann jedoch zunächst Leben und Werk Heinrich Brunners, woran sich eine kürzere Studie über Fritz Kern und dessen These des ›guten alten Rechts‹ anschloss.3 Beide Arbeiten bilden das (vielzitierte) Fundament für Liebrechts drittes Buch; Brunner als Exemplum der ›Heroengeneration‹ (so die immer wieder zu lesende Phrasierung) der älteren Rechtsgeschichte, Kern als Weichensteller einer entschiedenen Hinwendung zur ›Geistesgeschichte‹ als ›neuem Zugang für die Mediävistik‹ (so der Untertitel jenes Buches). Darauf aufbauend analysiert er nun diesen ›Kategorienwandel in der rechtshistorischen Germanistik der Zwischenkriegszeit‹ (so der Untertitel der hier zu besprechenden Monographie), die er als ›junge‹ Rechtsgeschichte von ihren Vorläufern im 19. Jahrhundert abhebt. Dieser Abgrenzung liege nicht nur ein (biologischer) Generationenwechsel, »ja Generationenbruch« zugrunde (368), sondern auch und vornehmlich der »massive ›Wirklichkeitssturz‹ [Joachim Fest] von 1918, den die deutschen Germanisten heftiger und traumatischer erlebten als ihre internationalen Kollegen« (383).
In drei zwar verzahnten, doch im Grunde eigenständigen Teilen (dazu 11–13) geht Liebrecht, umrahmt von einer Einleitung (1–18) und einer Zusammenfassung (367–388) sowie den üblichen Verzeichnissen, dieser Neuausrichtung nach. Kapitel 1 handelt von »Franz Beyerles Erneuerung von Rechtsgeschichte und Recht« (19–106), Kapitel 2 thematisiert »Heinrich Mitteis und seine Überwindung des antiquarischen Stoffhebens« (107–235) und Kapitel 3, systematischer ausgerichtet, umreißt »Auf der Flucht vor der juristischen Form: Felder methodischer Innovationen in der Zwischenkriegszeit« (237–365). Die Auswahl von Beyerle (* 30. Januar 1885; † 22. Oktober 1977) und Mitteis (* 26. November 1889; † 23. Juli 1952) als den beiden zentralen Untersuchungsgegenständen, die freilich nicht einer klassischen biographischen Annäherung unterworfen werden, wird sachlich mit ihrer exponierten Rolle als den »meinungsführenden Germanisten der Zwischenkriegsepoche« (12, auch 101) begründet. Diese |Engführung auf zwei Wegbereiter des Wandels (immer wieder durch Querverweise auf Kern als im Grunde Dritten im Bunde [insbesondere etwa 330] ergänzt) ist, darauf wird noch zurückzukommen sein, gleichermaßen nachvollziehbar wie diskutabel. Ein wenig nachgeordnet erscheint das dritte Kapitel, in dem »nach den hauptsächlichen Foren methodischer Erneuerung [gefragt wird]« (13) und das möglicherweise als einführender Teil eine ebenso sinnvolle Position gefunden hätte. In teils gedrängter, teils ausführlicher Form werden hier die fachinternen Probleme der Kriegs- und Zwischenkriegszeit (241–257), die neu aufflammenden Editionsbemühungen (257–276), die Entdeckung der Rechtsarchäologie (276–292) und die Perspektivenerweiterung durch die Volkskunde (292–306) behandelt, bevor »Die völkische Versuchung« pejorativ als »Sackgasse« (306–323) der »Geistesgeschichte« gegenübergestellt wird (323– 365). Dabei sei es, wenngleich ein »Schlüssel für den überwältigenden Erfolg dieses historiographischen Ansatzes«, »von heute aus besehen allerdings befremdlich diffus«, »[w]as und wieviel seinerzeit als geistesgeschichtliche Methode verstanden werden konnte« (328). Es ging – so lässt sich dieser Teil vielleicht zusammenfassen – um Ideen und Anschauungen, um Bewusstes und Unbewusstes, um Fragen der Kulturgeschichte, Methoden der Soziologie oder Erklärungsansätze der Psychologie und vielerlei mehr. Um es auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen: Es ging also am dringlichsten um ein Anders als zuvor.
Das zentrale Motiv ist folglich die Dynamik der Veränderung, und Liebrechts Darstellungsabsicht beschränkt (oder anders: konzentriert) sich auf die Beschreibung der Geschichte der Rechtsgeschichte als Werdegang. Die konkreten inhaltlichen Ergebnisse interessieren ihn nur als Illustrationsmittel dieses Wandels. Sowohl Beyerle als auch Mitteis seien davon getrieben gewesen, mit der rechtsdogmatischen Lehre der vorausgegangenen Generation der Rechtshistoriker zu brechen und das etablierte Gebäude des Faches durch einen neuen Bau zu ersetzen (vgl. dazu die sinnfällige, mit einem ausführlichen Zitat des Ethnologen Frobenius über die sequenzielle Zerstörung und Wiedererrichtung von Termitenhügeln durch eine jüngere Generation derselben Art einsetzende Einleitung, 1ff.); hierfür ursächlich sei im Wesentlichen die sogenannte und (wie man hinzufügen möchte) mittlerweile gut erforschte, auch durch den »Wirklichkeitssturz« von 1918 ausgelöste »Krise des Historismus« in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts gewesen (etwa 88f. zu Beyerle und 113ff. zu Mitteis). (Biographische) Erklärungen oder Begründungen werden zwar keineswegs vollständig aus dem Gang der Untersuchung entfernt, scheinen jedoch nur am Rande auf – etwa die »Verwurzelung« Beyerles in seiner »alemannischen Heimat« als Kondition seiner »liebevolle[n] Begeisterung für die kleinräumig-aufrichtige Welt des Mittelalters« (85) –, ohne dass solcherlei Spuren konsequent weiterverfolgt würden. Leicht spöttisch liest sich hier die kurzgefasste Absage, aus der spezifischen Vater-Sohn-Konstellation der Familie Mitteis – Vater Ludwig war romanistischer Rechtshistoriker – Erkenntnisgewinn zu ziehen: »[E]her verwegen« wäre es, »[i]m Eifer eines Biographen hieraus auf die Gründe für [Heinrichs] wissenschaftliche Ausrichtung zu schließen« (109). Durch die damit einhergehende Entindividualisierung wird die Erneuerung der Rechtsgeschichte implizit auf einer allgemeinen, transpersonalen Ebene verortet, was ein wenig an Böckenfördes Konzept der zeitgebundenen Fragestellungen und Leitbilder erinnert.
Das sich im Verlaufe der Lektüre einstellende Bild ist jedoch von hoher Suggestivkraft. Eng entlang der Werke seiner Protagonisten argumentierend und immer wieder reichhaltig in den Anmerkungen aus den umfangreichen Korrespondenzen zitierend (die moderne Forschung bleibt dagegen auf die notwendigsten Verweise begrenzt), kann der spezifischen Sicht des Autors im Grunde nicht widersprochen werden. Und in der Tat ist die Geschichte der Rechtsgeschichte der Zwischenkriegszeit auf diese Weise darstellbar. Doch könnte, wenn man nicht den progressiven, sondern konservativen Fachvertretern (so problematisch eine solche Kategorisierung ist) das Wort erteilte, in gleicher Weise ein Panorama der Beharrung, der Traditionswahrung entstehen, worauf Liebrecht in einigen Randbemerkungen selbst aufmerksam macht. Und hätte man sich den Außenseitern des Faches zugewandt, wäre wiederum eine andere Geschichte entstanden. Unter der Prämisse, die Veränderung(en) des Faches darzulegen, sind Beyerle und Mitteis folglich eine konsistente, aber eben auch voraussetzungsreiche Wahl: Der eine, weil er »mit scharfer und spitzer Rhetorik die Glaubenssätze der Klassikergeneration [überwindet]«, dabei den »dadurch gewonnenen offenen Raum sogleich mit eigenen, kaum glaubwürdigeren Lehm-Figuren eines ursprünglichen Privat|rechts [füllt]« (103), der andere, weil er »die Rechtsgeschichte vom Leitbild einer sauber von der allgemeinen Geschichte separierten Dogmenhistorie befreien wollte« (191) und »die eindrucksvollen Frühmittelalterbilder und -theorien der wilhelminischen Rechtshistoriker durch einen neuen, nicht weniger großartigen Plan des Hochmittelalters [ersetzte]« (195). Oder anders formuliert: Beyerle, der die Rechtsgeschichte ihrer starren Systematik und damit einhergehenden »Lebensferne« enthob (97–101) und Mitteis, der die Rechtsgeschichte »historisch« dachte und machte (226), ließen die juristisch-dogmatischen Paradigmen ihres Faches hinter sich und ersetzten diese durch eine dezidierte Hinwendung zur ›Geistesgeschichte‹.
Obschon keineswegs explizit verbalisiert, wird beim Lesen gleichsam Liebrechts Hochachtung vor den Größen des Fachs immer wieder deutlich, unabhängig davon, ob sie der ›älteren‹ oder ›jüngeren‹ Rechtsgeschichte angehör(t)en. Gleiches gilt für die ›Geistesgeschichte‹, die als »Überbietung« (323), als »Erneuerung« (329) positiv konnotiert ist, jedoch »keineswegs […] das Erneuerungsparadigma dieser Jahre schlechthin« gewesen sei (327). Dass die Wissenschaftsgeschichte Liebrechts (vgl. hierzu auch seine Positionsbestimmung, 2–6) in unverkennbarer Tradition zu dieser ›Geistesgeschichte‹ steht (wenngleich sie einen anderen Gegenstand hat), ist dementsprechend wenig überraschend. Folglich könnte die Besprechung ebenfalls mit ›Wie wir wurden, wer wir sind‹ überschrieben werden. Es bliebe einzig zu hinterfragen, ob die Diagnose, die »Konzentration auf Texthistorien und Editionen« sei heute »befremdlich« (264), in dieser Form zutrifft. Vielmehr scheint es dem Rezensenten, dass sich nicht nur die rechtsgeschichtliche Mediävistik, durch die neudeutsch Digital Humanities genannten Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung und -präsentation bereichert, gerade hierdurch neue Erkenntnisse zu alten Fragen erhofft: Eadem mutata resurgo?
* Johannes Liebrecht, Die junge Rechtsgeschichte. Kategorienwandel in der rechtshistorischen Germanistik der Zwischenkriegszeit (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 99), Tübingen: Mohr Siebeck 2018, XIV + 471 S., ISBN 978-3-16-156546-5 (Habil.)
1 Vgl. etwa nur: Hans-Peter Haferkamp, Die Historische Rechtsschule (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 310), Frankfurt am Main 2018; Joachim Rückert, Unrecht durch Recht. Zur Rechtsgeschichte der NS-Zeit (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 96), Tübingen 2018.
2 Vgl.: Ernst Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (Schriften zur Verfassungsgeschichte 1), Berlin 1961 (21995).
3 Johannes Liebrecht, Brunners Wissenschaft. Heinrich Brunner (1840– 1915) im Spiegel seiner Rechtsgeschichte (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 288), Frankfurt am Main 2014; Ders., Fritz Kern und das gute alte Recht. Geistesgeschichte als neuer Zugang für die Mediävistik (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 302), Frankfurt am Main 2016.