Mit dem Titel »Liberalizing Contracts« deutet Anat Rosenberg bereits den wissenschaftlichen Anspruch ihres Buches an. Sie nimmt sich vor, die englische Vertragsgeschichte des viktorianischen Zeitalters von deren (wissenschafts-)historischem Ballast zu befreien. Insbesondere will sie zeigen, dass der liberale Atomismus nicht, wie dies vielfach angenommen worden sei, breite kulturelle Resonanz erfahren habe. Prägend sei vielmehr ein relationaler Liberalismus gewesen, der – anders als sein atomistisches Pendant – nicht das Vertragsversprechen des Einzelnen und dessen Willen in den Vordergrund stelle, sondern von den sich daraus ergebenden, dauernden wechselseitigen Beziehungen ausgehe.
In der These, der atomistische Individualismus des Vertragsrechts sei auch ökonomisch, politisch und ideologisch stark rezipiert worden, sieht die Autorin ein Hauptnarrativ der Vertragsgeschichte der viktorianischen Zeit. Dieses Narrativ sei von Albert Venn Dicey begründet und durch die Geschichtsschreibung nie in Frage gestellt worden; und zwar selbst nicht von Autoren, die als Triebfedern der Vertragsgeschichte des 19. Jh. andere Faktoren auszumachen suchten als den Liberalismus jener Zeit (46ff.). Ferner versucht sie darzulegen, dass im 19. Jh. Ständegesellschaft und Vertragsgesellschaft, bzw. deren gedankliche Grundlagen, nicht im Verhältnis des alternativen Entweder-Oder gestanden hätten, sondern in einem |Spannungsverhältnis zueinander parallel existierten (19ff.).
Methodisch stützt sich Rosenberg hauptsächlich auf die Auswertung von Romanen des literarischen Realismus aus der viktorianischen Zeit in England. Sie rechtfertigt ihr Vorgehen mit der herausragenden kulturellen Bedeutung des literarischen Realismus, die allgemein anerkannt sei. Die Werke dieser Epoche zeichneten sich gerade dadurch aus, dass diese, obwohl fiktional, Schilderungen möglicher Wahrheit und ein Spiegel gesellschaftlicher Fragestellungen in konkretisierter Form seien. Besonders die zentrale Bedeutung des (Vertrags-)Versprechens (»promise«) sei in der Romanliteratur prominent aufgegriffen und verarbeitet worden (2ff.).
Um die rezipierten Formen liberalen Denkens in der viktorianischen Romanliteratur zu identifizieren, untersucht Rosenberg die Darstellung des Kreditvertrags als typische Form des Vertrags(-versprechens) im aufstrebenden Kapitalismus, der Abstraktion von vertraglichen Beziehungen vom jeweiligen sozialen Kontext sowie des Verhältnisses von Vertrag und Freiheit als grundlegende Säule liberalen Denkens selbst. Mit Blick auf jeden dieser drei Themenkomplexe liest (»I read«) die Autorin jeweils zwei Werke des literarischen Realismus aus der Zeit von 1848–1886 vergleichend.
In »Vanity Fair« von William Makepeace Thackeray und »The Way We Live Now« von Anthony Trollope betrachtet Rosenberg die kreditvertraglichen Beziehungen der jeweiligen Hauptfiguren Becky Sharp und Augustus Melmotte. Beide versuchen Kredite für ihren gesellschaftlichen Aufstieg zu nutzen. Rosenberg identifiziert sie als Fremdkörper innerhalb der englischen Gesellschaft, da beide ausländischer Herkunft seien sowie in Konflikt mit gesellschaftlichen Normen gerieten. Sowohl Becky also auch Melmotte seien in ihrem Aufstiegsstreben am Adel orientiert, was Ausweis für ein Fortleben des Statusdenkens sei (65ff.). Das Scheitern der Hauptcharaktere interpretiert Rosenberg so, dass die Autoren Thackeray und Trollope den Kreditvertrag nicht etwa als das typische Instrument der viktorianischen Marktwirtschaft ansähen, sondern im Gegenteil als ein kulturelles Hindernis für einen rationalen Markt (9, 77).
Auch die Losgelöstheit oder Abstraktion der vertraglichen Beziehungen vom jeweiligen sozialen Kontext sieht die Autorin nicht positiv rezipiert, sondern in »Ruth« von Elizabeth Gaskell sowie »Bleak House« von Charles Dickens kritisch hinterfragt. Ruths Geschichte beginne als losgelöstes (abstraktes) Individuum, das bereit war, Geld für körperliche Hingabe, jedoch ohne Liebe, zu akzeptieren. Als isoliertes Wesen gebe es aber keine Wahlmöglichkeiten und somit keine Verantwortung (97, 103). Im weiteren Verlauf des Romans werde sie durch das Aufbauen persönlicher Beziehungen sozialisiert und könne dadurch moralisch »richtige« Entscheidungen treffen und materiellen Vorteilen widersagen (105ff.). Charles Dickens mache seine Ablehnung deutlich, indem er das »always connect, never abstract« zum moralischen Imperativ erhebe (10). Im Roman »Bleak House« werde dies durch die Figur des Schuldners Skimpole verdeutlicht, der für die Immoralität der Loslösung vom jeweiligen sozialen Kontext stehe. Für ihn bleibe sein Selbst die einzige Realität. Andere gescheiterte Schuldner erschienen weniger verurteilungswürdig, da diese »in touch with life« und »socially involved« seien (115ff.).
Das Verhältnis von Freiheit und Vertrag sieht die Autorin in George Eliots »Middlemarch« sowie in Thomas Hardys »The Mayor of Casterbridge« ebenfalls problematisiert. Die theoretisch gegebene Freiheit, Verträge abzuschließen, sei durch Erwartungen in relationalen Beziehungsgeflechten sowie durch Erwartungen an männliche Geschlechterrollen beschränkt (127ff.).
Rosenberg versucht, mit ihrem Werk frischen Wind in die Debatte um die Bedeutung des Liberalismus in der Vertragsgeschichte des 19. Jh. in England zu bringen. Ihre unkonventionelle Herangehensweise, nämlich die Untersuchung von Romanen des literarischen Realismus als Prüfstein für die kulturelle Rezeption liberaler Konzeptionen, weitet den Blick auf ein Feld der Geschichtsschreibung, welches vielen als weitgehend abgegrast gelten mag. Die Herausarbeitung der vertraglichen Beziehungen in den untersuchten Werken gelingt ihr gut, genau wie die Analyse der dort gespiegelten Geschlechterrollen, auf die sie immer auch einen Schwerpunkt zu legen versucht. Sie findet ferner plausible Argumente dafür, dass das alte Statusdenken weiter nachwirkt.
Auf der anderen Seite bedarf etwa das von ihr behauptete Narrativ der breiten kulturellen Rezeption des atomistischen Individualismus, welches sie auf die Formel »atomism as culture« bringt, weiterer Begründung. Sie geht davon aus, dass es im Nachgang an eine Vorlesungsreihe Diceys 1917 in Harvard, welche später unter dem Titel »Lectures |on the Relation between Law and Public Opinion in England during the Nineteenth Century« veröffentlicht wurden, entstanden sei und schließlich als Allgemeinplatz (»common wisdom«) angesehen wurde. Dicey untersuchte zwar die Auswirkungen liberalen Gedankenguts auf das Recht im England der viktorianischen Zeit. Jedoch lässt sich nicht erkennen, dass der in seinem Werk beschriebene Utilitarismus in der Gefolgschaft Benthams deckungsgleich mit dem hier beschriebenen atomistischen Individualismus wäre (vgl. etwa 14f.). Dicey geht zwar von der Übernahme des utilitaristischen Gedankenguts in den politisch einflussreichen Schichten sowie den politischen Parteien aus (24, 27f., 120ff.), dies kann aber nicht mit der gesamten Kultur gleichgesetzt werden. Ferner untersucht er auch nicht die Entwicklung des klassischen Vertragsrechts, sondern die Gesetzgebung zu jener Zeit (vgl. nur 3), und schließlich bleibt die Autorin einen Nachweis für die Rezeption Diceys in dem von ihr behaupteten Sinne schuldig.
Leider fehlt es den Untersuchungen auch an einem zusammenfassenden Fazit. Im Rahmen der eigentlichen Auseinandersetzung mit der Literatur ist ihr methodisches Vorgehen nicht immer nachvollziehbar, da die Rückbindung an ihre eigentliche Forschungsfrage fast fehlt. Sie erläutert kaum, wie sich ein relationales Liberalismusverständnis in den untersuchten Werken genau manifestiert und was konkret Differenzen zu einem atomistischen Modell wären. Gerade der Vergleich mit juristischen Texten, deren Vertragsmodell sie dem atomistischen Individualismus zuordnet, fehlt nahezu vollständig. Die am atomistischen Individualismus identifizierte Kritik etwa in den Werken von Dickens und Gaskell spricht nicht notwendig gegen eine breite kulturelle Rezeption atomistischen Gedankenguts, da auch die Literaturform des Realismus vorhandene gesellschaftliche Entwicklungen problematisieren und hinterfragen kann, anstatt sie nur abzubilden.
Mit »Liberalizing Contracts« wagt Rosenberg einen neuen Blick auf die Vertragsrechtsgeschichte des 19. Jh. und das Narrativ vom »Zeitalter des Liberalismus«. Auch wenn sie ihre aufgeworfenen Thesen nicht in vollem Umfang untermauern konnte, ist ihr Werk ein wichtiger Beitrag, der daran erinnert, dass in der historischen Forschung auch und gerade als gesichert geltende Erkenntnisse fortlaufend kritisch hinterfragt werden sollten.
* Anat Rosenberg, Liberalizing Contracts. Nineteenth Century Promises Through Literature, Law and History, London: Routledge 2018, 263 S., ISBN 978-1-138-92370-6