Ein Sammelband zur Würdigung von Thibaut, der Ergebnis der 2014 im Heidelberger Internationalen Wissenschaftsforum stattgefundenen Tagung zum 200. Jubiläum des berühmten Kodifikationsstreits ist, konnte nur Hans Hattenhauer gewidmet sein. Denn ihm gebührt das Verdienst, vor etwa einem halben Jahrhundert die Texte des Streits zusammen mit anderem einschlägigem Material neu herausgegeben zu haben. Im Übrigen ist die Wiederentdeckung von Thibaut gerade auf Hans Hattenhauer zurückzuführen, und so ist es kein Zufall, dass einer seiner Schüler, Rainer Polley, die ausführlichste Forschung über diesen bedeutenden Juristen veröffentlicht hat.
Der hier zu rezensierende Band ist wichtig, weil man nach den Untersuchungen von Dörte Kaufmann und Antonio Pau die Notwendigkeit einer Veröffentlichung spürte, welche die essenziellen Aspekte der vielschichtigen Persönlichkeit Thibauts ausloten sollte. Eine ausführliche Besprechung der neunzehn Beiträge dieses Bandes würde den begrenzten Rahmen einer Rezension sprengen, so dass es angebracht scheint, eine Auswahl zu treffen und sich nur auf jene Aufsätze zu beschränken, die – direkt oder indirekt – vornehmlich dem Thema der Kodifikation gewidmet sind. Einzige Ausnahme: der Beitrag von Johann Braun, der ein heutzutage aus ethischer Sicht noch heikles Thema behandelt. Die übrigen Beiträge können hier nur in aller Kürze erwähnt werden: Zunächst sei auf die Aufsätze zu dogmatischen Aspekten hingewiesen, wie z.B. den von Christian Hattenhauer über die natürliche Person, den von Christoph Becker über Verkauf und den von Christian Baldus über Besitz und Eigentum. Von großem Interesse sind darüber hinaus auch alle Beiträge, die sich mit Thibauts internationaler Rezeption beschäftigen: in Frankreich (Götz Schulze schreibt über Thibauts Verhältnis zum französischen Recht und Jean-François Gerkens über die problematische Rezeption in Belgien und Frankreich), in Italien (Mario Varvaro), in Spanien (Francisco Javier Andrés Santos) und in Russland (Martin Avenarius). Auch spezifische Beiträge fehlen nicht, wie der von Rainer Polley, der weit mehr als nur das Urteil von Thibauts Lehrstuhlnachfolgern präsentiert, der von Dörte Kaufmann, die einen Aspekt ihrer früheren Monographie vertieft und zwar Thibauts Rolle als Vertreter der Universität im Badischen Landtag, sowie Nicolaus Cramers ausführliches Verzeichnis der Vorlesungsmit- und -nachschriften und schließlich Harald Pfeiffers Aufsatz zum Einfluss der Musik auf Thibauts Werk. Alle diese Essays tragen dazu bei, ein umfassendes Bild von der Persönlichkeit und der Größe des Bürgers und Gelehrten Thibaut zu zeichnen, dessen Bedeutung die Anhänger der Historischen Schule stets zu schmälern versucht hatten.
Betrachten wir nun aber den Beitrag von Johann Braun näher, der Thibauts Haltung gegenüber der Berufung jüdischer Rechtsgelehrter an Universitäten untersucht. Es soll hier nicht auf die genaue Rekonstruktion aller Einzelfälle eingegangen werden. Ein Fall kann für alle stehen und dabei handelt es sich vielleicht um den bekanntesten, wenigstens unter Philosophen: Die Rede ist von Hegels Schüler Eduard Gans. Er studierte und promovierte 1819 in Heidelberg, aber erst nachdem er sich taufen ließ, wurde er 1825 in Berlin als Extraordinarius ernannt. Trotz des Emanzipationsediktes von 1812 durfte er dennoch als Jude keine akademische Laufbahn eingehen. Heutzutage würde man das kurzerhand als Antisemitismus und Rassismus verurteilen, und tatsächlich überrascht es, dass Savigny gegen die Aufnahme von Gans als Professor an die Juristische Fakultät war und zwar wegen seiner jüdischen Abstammung. Allerdings stimmt es einen nachdenklich, dass auch Thibaut sich gegenüber Zimmer entsprechend verhalten hatte. Daraus entnimmt man, dass man damals Christ sein sollte, um Jura an einer deutschen Universität lehren zu dürfen. In unserer heutigen demokratischen Gesellschaft, welche die Religionsfreiheit anerkennt, wäre dies inakzeptabel. Braun |hebt aber zu Recht einen Punkt hervor, der nicht vernachlässigt werden darf: die »doppelte Loyalität«, d.h. gegenüber der eigenen Religion (der jüdischen) und all dem, was sie vorschreibt, und gegenüber einer Religion von Bürgern, die einem Staat angehören, der sich auf anderen Prinzipien gründet (im Wesentlichen Christen). Dies erlaubt uns eine historische Kontextualisierung des Problems. Aber Brauns aktualisierender Schluss wirkt befremdend, weil er doch unterstellt, dass solche Positionen heute noch gelten könnten. Kann diese »doppelte Loyalität« heute noch zu Problemen führen, bestehen diese bestimmt nicht darin, dass man Katholik, Protestant, Jude oder Muslim ist, sondern dass man allgemeinverbindliche Prinzipien nicht respektiert, wie z.B. die Achtung der Menschenwürde. Aktualisierende Lektüren sind aus philosophischer Sicht interessant, gleichzeitig aber auch riskant.
Kommen wir nun endlich zu den Aufsätzen, die am meisten dazu beitragen, uns ein Bild von dem Juristen Thibaut in seiner Zeit zu vermitteln. Während Gerhard Lingelbach Thibauts Jahre in Jena unter die Lupe nimmt, konzentriert sich Klaus-Peter Schroeder auf die späteren Heidelberger Jahre. In Jena erarbeitete Thibaut sein wichtigstes juristisches Werk: das System des Pandekten-Rechts, das 1803 veröffentlicht und mehrmals, mit verschiedenen Änderungen, nachgedruckt wurde. Mit diesem Werk führte Thibaut die Gattung Lehrbücher zum Pandektenrecht in Deutschland ein, die während des gesamten Jahrhunderts sehr erfolgreich war. In Frankreich lehrte man den Code Napoléon, in Deutschland das »gegenwärtige Römische Recht« und das konnte nichts anderes als das »Pandektenrecht« sein. Gewöhnlich wird der »Usus modernus pandectarum« auf die Historische Schule zurückgeführt, weil sich Deutschland durchgehend bis zur Einführung des BGB gerade auf diesen Usus stützte. Die Juristen der Historischen Schule benutzten in ihrer Rekonstruktion der römischen Rechtsinstitute eine systematische Methode, wobei sie begriffliche Abstraktionen vornahmen. Diese Methode bestand für Savigny in der Erkennung einer dem Recht immanenten »organischen Verknüpfung«, für Puchta wird es sich um eine »logische Verknüpfung« handeln. Dies ist alles schon bekannt, doch ist es interessant festzustellen, dass auch bei Thibaut ein systematisches Bedürfnis vorhanden ist, das jedoch anders als dasjenige ist, das sich mit der Historischen Schule durchsetzt. Grundlage dieses Unterschieds ist ein anderer Begriff von Rechtswissenschaft, aber leider findet man in Lingelbachs Beitrag keine Spur von diesen Aspekten.
Schroeders Beitrag, der den Band eröffnet, hat einen eher biographischen Ansatz. Ausführlich rekonstruiert werden hier die Beziehungen zwischen Thibaut, Heise und Martin, die das »Juristische Triumvirat« entstehen ließen, welches später für die Neugestaltung der juristischen Studien in Heidelberg und Thibauts Wirken als Professor bedeutend wurde. In dieser genauen Rekonstruktion von Thibauts Persönlichkeit konnte jedoch eine Erwähnung des berühmten Kodifikationsstreits nicht fehlen, der von Hans-Peter Haferkamp gründlicher analysiert wird. Schroeder hat sehr gut das Wesentliche der Auseinandersetzung begriffen: Das Ziel einer nationalen Rechtsordnung sollte für Thibaut durch die Gesetzgebung erfolgen, für Savigny dagegen durch die Rechtswissenschaft. In Thibaut lebt noch jener aufklärerische Geist der »Wissenschaft der Gesetzgebung«, um es mit Filangieris Worten zu sagen, den Savigny für vollkommen unangemessen hält. Und da man so zum »klassischen« Thema des Kodifikationsstreits gekommen ist, sollte man nun auf Hans-Peter Haferkamps Beitrag eingehen, der gerade der Beziehung zwischen Thibaut und der Historischen Schule gewidmet ist. Sein grundlegendes Argument ist, dass es sich um einen Streit »über die Leistungsfähigkeit einer Wissenschaft vom Römischen Recht« handele (60). Dieser Streit sei schon vor dem eigentlichen Kodifikationsstreit in der unterschiedlichen theoretischen Entwicklung der zwei Wissenschaftler nachweisbar. Nun hatten Thibaut und Savigny – wie schon unterstrichen wurde – zweifelsohne zwei ungleiche Auffassungen von Rechtswissenschaft und dies implizierte sicher auch ein unterschiedliches Verständnis des römischen Rechts. Aber eine solche Erklärung fände ich zu dürftig. Der grundsätzliche Unterschied lag vor allem in der Art, das Recht aufzufassen. Savigny begreift das Recht nie als gesetzt, sondern als Ergebnis einer spontanen Entwicklung, die vom Stand der Juristen geleitet werden soll. Das Recht ist nicht etwas Gesetztes, vom Gesetz Festgelegtes. Im Unterschied dazu sind für Thibaut die Begriffe des Rechts und der Gesetzgebung grundlegend. Der ganze Sinn des Streits liegt in der unterschiedlichen Hingabe, die der eine der Gesetzgebung und der andere der Rechtswissenschaft widmet. Die wichtigste Rechtsquelle überhaupt ist für Savigny die Rechtswissenschaft, für |Thibaut dagegen die Gesetzgebung. Thibaut hat den gesetzlichen Staat im Sinn, in dem die gesetzgebende Gewalt herrscht. Savigny steht dagegen als der erste große Kritiker dieses Modells da. Diese Interpretation des Streits mag sicher nicht neu sein, aber meines Erachtens ging es bei der Kontroverse im Wesentlichen immer um die Art, wie man das Recht aufzufassen hatte. Wie für die École de l’Exégèse gibt es auch für Thibaut keinen Unterschied zwischen Recht und Gesetz. Savignys Denkweise entspricht genau dem Gegenteil. Daher die Auseinandersetzung über die Kodifikation, die dann zwangsläufig politische Züge annahm. Aus diesem Grund scheint mir Stephan Meders Versuch, die Theorie der Interpretation Thibauts als eine Theorie »zwischen freier Rechtsfindung und gesetzestreuer Rechtsanwendung« darzustellen, wenn auch lobenswert, nicht sehr überzeugend. Die Grundlage, um Thibaut als »Vorreiter einer modernen Hermeneutik« (129) zu präsentieren, scheint unzureichend. Im Buch Theorie der logischen Auslegung des Römischen Rechts kann man Hinweise zu einer »extensiven Auslegung« als »wahren Akt der gesetzgebenden Gewalt« finden, jedoch versucht Thibaut weiterhin, die Notwendigkeit einer authentischen Interpretation für sich zu beteuern, und kritisiert Augustin von Leyser, der das Gegenteil behauptet, wie selbst Meder ehrlicherweise zugibt (140). Auch im Hinblick auf die Auslegung ist der Gegensatz zu Savigny beträchtlich. Diesbezüglich sei es mir hier erlaubt, einen Aspekt hervorzuheben. Gerade als Vertreter der Kodifikation sieht Thibaut für den Richter eine untergeordnete Rolle im Vergleich zu der des Gesetzgebers vor. Savigny strebt dagegen mit seiner Rechtsfortbildungslehre danach, Richter politischen Entscheidungen zu unterziehen, die nicht vom Gesetzgeber, sondern vom akademischen Juristenstand getroffen wurden. Bei Thibaut bleibt der Richter also dem Gesetzgeber und bei Savigny der Auslegung der Rechtslehre untergeordnet. Savigny übergibt die Auslegung und im Allgemeinen die Ermittlung des objektiven Rechts an einen ideologisch geprägten Stand von Rechtsakademikern, die den Auftrag hatten, die Richter zu unterweisen und letzten Endes zu neutralisieren, da sie Staatsbeamte waren. Das Recht der Juristen zählte und hatte immer mehr Geltung im Vergleich zum neuen Gesetzgebungsrecht. Das Fortbestehen der Rechtsordnung wurde von den Juristen gewährleistet, notfalls auch gegen die anderen Staatsgewalten. Es besteht kein Zweifel daran, dass diejenigen, die wie Thibaut das Gesetzbuch befürworteten, eine entgegengesetzte Meinung vertraten. Deswegen ist der Beitrag von Andreas Deutsch überraschend. Ihm zufolge habe nämlich das neue Gesetzbuch nicht an der Tatsache gerüttelt, dass auch Thibaut im Grunde genommen die Juristen den Gesetzbüchern vorzog (155). Savigny hatte Thibauts entgegengesetzten Standpunkt perfekt verstanden, und Deutsch behauptet, Savigny liege falsch. Da scheint mir Deutsch zu irren.
Was ist uns Thibaut? Wie ich schon vor längerer Zeit zu zeigen versucht habe und zwar mit Forschungen, die das Interesse Hans Hattenhauers erweckt hatten (Ideologie della codificazione in Germania), kann nach Thibaut ein demokratisches System auf die entscheidende Rolle des Gesetzgebers nicht verzichten. Würde man nämlich den Juristen die ganze Macht geben, so käme dies einer Unterordnung der Völker unter die Eliten gleich, wie man heutzutage sagen würde.
* Christian Hattenhauer et al. (Hg.), A.F.J. Thibaut (1772–1840). Bürger und Gelehrter, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 385 S., ISBN 978-3-16-154996-0