CHILE und die Geschichte des Versicherungsrechts*

[CHILE and the History of Insurance Law]

Albrecht Cordes Goethe-Universität Frankfurt am Main cordes@jur.uni-frankfurt.de

Welch ein Auftakt! Mit drei Büchern auf einmal präsentiert der Augsburger Rechtshistoriker Phillip Hellwege sein großes Forschungsfeld, die Geschichte des Versicherungsrechts, der Öffentlichkeit. Zwei Sammelbände und eine Monografie, im Sommer 2018 fast gleichzeitig erschienen, werden dem Projekt die gebührende Aufmerksamkeit sichern. Die Forschungsmittel entstammen dem »Horizon 2020«-Programm des European Research Council (ERC), von dem Hellwege einen »Consolidator Grant« erhalten hat. Mit diesen Mitteln finanziert er sein Vorhaben »Comparative History of Insurance Law in Europe« – kurz: CHILE.

Die zugehörige Schriftenreihe »Comparative Studies in the History of Insurance Law – Studien zur vergleichenden Geschichte des Versicherungsrechts (HIL)« erscheint bei Duncker & Humblot und beginnt mit einem Überblicksband zur Versicherungsgeschichte (HIL 1) mit acht Länderberichten nebst Einleitung und Zusammenfassung. Zwei knappe, eher oberflächliche Querschnittsreferate aus der Sicht der Sozial- und der Wirtschaftsgeschichte beschließen den Band. Die Berichte setzen sich zu einer chronologischen Reise durch das christliche Europa zusammen. Auf das Mittelmeer (Italien – Frankreich – Spanien) folgen gleich drei Beiträge zu Belgien und den Niederlanden, wodurch hier ein Schwerpunkt der Darstellung entsteht. Dann folgen noch England/Schottland, Deutschland und Skandinavien. Die besonders gelungenen Beiträge von Mauro Fortunati (Italien) sowie Dirk Heirbaut und Dave De ruysscher (Belgien) seien hervorgehoben.

Die Frage, an der sich die meisten Autoren abarbeiten, ist das Verhältnis der Seeversicherung zu anderen Versicherungstypen, vor allem jenen auf Gegenseitigkeit, unter denen die Feuerversicherung eine frühe wichtige Rolle gespielt hat. Entstammen die ältesten Wurzeln des Versicherungsrechts allein der Seeversicherung? Oder sind die verschiedenen Formen von Beistandsvereinbarungen auf Gegenseitigkeit eine gleichwertige, unabhängig danebenstehende Quelle? Das scheinen die beiden Pole zu sein, zwischen denen die jeweiligen nationalen Diskurse oszillieren; vor allem in Deutschland betont die bisherige Literatur gern die seit der Karolingerzeit überlieferten Beistandsversprechen als unabhängige zweite Wurzel. Welchen weiteren Nutzen eine überzeugende Antwort auf diese Fragen zu bieten hätte, wird allerdings nicht thematisiert.

Reizvoll ist es, dass die Beiträger sich alle auf den beiden Ebenen der historischen und der historiographischen Untersuchung bewegen. Letzteres rechtfertigt dies auch die Einteilung der Berichte anhand der heutigen Grenzen, was für eine rein historische Untersuchung nur begrenzt sinnvoll wäre, da sich beispielsweise in Brügge, Antwerpen und Amsterdam intensive, nicht an modernen Grenzen endende Begegnungen und gegenseitige Beeinflussungen der internationalen Prinzipien beobachten lassen oder in Italien nicht von »dem« italienischen Versicherungsrecht gesprochen werden kann, weil dort jede der großen Stadtrepubliken ihr eigenes Süppchen kochte.

Die historiographischen sind zugleich nationale Diskurse. Das ist ein vielleicht nicht überraschender, aber trotzdem eindrücklich belegter Befund des Bandes und auch des ganzen Forschungsvorhabens: Bis heute wirken die aktuellen nationalen Grenzen als Beschränkungen, geradezu als Scheuklappen, und die einschlägigen Studien in den |Nachbarländern werden nur selektiv zur Kenntnis genommen. Dabei ist es jedenfalls bei den Seeversicherungen eine besonders interessante Frage, wann sie aus den lokalen (venezianischen, genuesischen usw.) Anfängen herauswachsen und zu internationalen Phänomenen werden.

Der Band HIL 2 beschäftigt sich auf 300 Seiten mit der »Past« und im letzten Viertel mit »Present and Future« der Tontinen, einem eigenartigen Rechtsinstitut, von dem der Rezensent vor der Lektüre des Buches noch nie gehört hatte; auch danach ist er nicht ganz sicher, was es ist. Immerhin herrscht im Zentrum des Phänomens Klarheit. Es geht um eine Verabredung, bei welcher der Veranstalter am Anfang von allen Teilnehmern eine Kapitalsumme erhält, die dauerhaft bei ihm verbleibt. Als Gegenleistung zahlt er dafür allen Teilnehmern eine jährliche Leibrente, z.B. 5% ihres Kapitals. Die Pointe ist die folgende: Wenn die Teilnehmer nach und nach sterben, werden die Raten der Verstorbenen den Überlebenden zugeschlagen. Deren Rente steigt also, bis schließlich der letzte Überlebende die Anteile aller Teilnehmer seiner Tontine erhält.

Manches daran ist kurios, angefangen mit dem dubiosen Namenspatron, einem Hochstapler namens Lorenzo Baroncini aus Rom, Sohn eines Gärtners und einer Wäscherin, der mit Informationen, die er sich durch Spionage und auf anderen anrüchigen Wegen beschaffte, handelte und aufstieg. Er usurpierte den vornehmen Namen Tonti – manchmal auch adlig »de Tonti« –, musste aus Italien nach Frankreich fliehen, schaffte es dort, als angesehener neapolitanischer Bankier und ehemaliger Gouverneur von Gaeta durchzugehen, ein Ruhm, den ihm auch der Wikipedia-Artikel in seiner Fassung vom 16. Mai 2019 noch lässt. Die hier referierte, weniger freundliche Variante seiner Vita stützen Riesch/Gallais-Hamonno (19–47) allerdings auf den Bericht des mit Tonti verfeindeten Zeitgenossen Camillo Tutini. Vielleicht handelt es sich also nicht um Hochstapelei, sondern um üble Nachrede. Tonti passt aber jedenfalls mit dieser nebulösen Vita gut in das halbseidene Milieu von Quacksalbern, Alchimisten und Schwindlern, die mit den unterschiedlichsten Mitteln die nach 1648 maroden Kassen der Fürstentümer zu füllen versprachen und dazu dem Publikum das Geld aus der Tasche zogen. Am meisten verblüfft, dass manche dieser Figuren tatsächlich das Ohr einflussreicher Finanzminister gewannen, Tonti etwa das von Kardinal Mazarin am Hofe Ludwigs XIV. Doch drei Projekte, erste Tontinen durchzuführen, scheiterten, Tonti geriet in Geldnot, spionierte für Spanien und landete in der Bastille. Erst nach seinem Tod organisierte die französische Krone einige erfolgreiche Tontinen.

Das erste nach dem oben skizzierten Muster organisierte Geschäft fand aber schon 1657 in Danzig statt. Auch die Niederländer wurden früh aktiv, und vor der Wende zum 18. Jahrhundert hatten in vielen europäischen Ländern derartige Veranstaltungen stattgefunden. Der Sammelband geht sie nach drei einleitenden Beiträgen Land für Land durch, ist also ähnlich organisiert wie Band 1. Am Schluss stehen vier Beiträge über Gegenwart und (die vermutlich nicht sehr strahlende) Zukunft der Tontinen und noch einmal zwei vergleichende Zusammenfassungen. Wiederum ist der Herausgeber zugleich der fleißigste Autor und sorgt durch gut gegliederte Einleitungs- und Schlusskapitel dafür, dass dem Leser stets klar ist, welche Rolle die einzelnen Beiträge in seinem Gesamtkonzept spielen. Nur selten begegnen Sammelbände, die so stringent durchorganisiert sind.

Der Band schwankt ein wenig zwischen Wort- und Begriffsgeschichte, weil er sich einerseits primär an den Ausschreibungen orientiert, die sich selbst »Tontinen« nennen, andererseits frühe Ausschreibungen einbezieht, die noch nicht »Tontinen« heißen und andererseits manche Tontinen wegen struktureller Unterschiede als »misnomers« ausblenden will. Interessant ist etwa, dass der Terminus heute in Afrika und Ostasien begegnet und dort Kleinkreditgemeinschaften im informellen Sektor bezeichnet, bei denen alle einzahlen und der Reihe nach Existenzgründungskredite an die Mitglieder vergeben werden. Methodisch problematisch ist dieses Vorgehen trotzdem, weil auch innerhalb dessen, was sich nach Hellwege Tontine nennen ›darf‹, der Spielraum der Gestaltungsmöglichkeiten ziemlich groß ist. Wo hier die Grenze gezogen wird, ist nicht ganz klar.

Diese Vielfalt der verfolgten Interessen und Gestaltungsmöglichkeiten wird besonders in dem Band HIL 3, Hellweges Monografie über die deutschen Tontinen, deutlich. In Deutschland lassen sich nämlich die deutlichsten Indizien für eine Antwort auf die Hauptfrage des Bandes HIL 2 finden. Der hatte sich das Ziel gesetzt, den Einflüssen der Tontinen auf das Recht der Lebensversicherungen nachzuspüren, das in der versicherungsrechtlichen Literatur häufig behauptet, aber nie so recht bewiesen wurde. Dazu gehörten die |Berücksichtigung des Alters der Teilnehmer, auf das in den frühen Tontinen noch keine Rücksicht genommen worden war, die Aufstellung und Berechnung von Sterbetafeln, die Kappung der exorbitant hohen Ansprüche der letzten Überlebenden und weitere Modifizierungen. Rechtshistorisch ist das Buch HIL 3 vor allem deshalb interessant, weil Hellwege die Quellenbasis für deutsche Tontinen erheblich verbreitern kann. Diesen Quellenfunden widmet er die erste Hälfte des Buchs (Teil C, 35–106). Während man bisher allenfalls von rund zwei Handvoll Tontinen wusste und sich dabei vor allem auf das 17. Jahrhundert konzentrierte, kann Hellwege nun nicht weniger als 48 von Staaten, Provinzen und Kommunen und sechs weitere von Pensionsfonds veranstaltete Tontinen präsentieren. Bei der ersten Gruppe liegt der Schwerpunkt in der 2.Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Tontinen der Pensionsfonds folgen etwas später und stammen aus der Zeit von 1778–1838. Sie gehören nach Hellwege einer eigenen, zweiten Periode der Geschichte der Tontinen an. Eine dritte Phase folgt im späten 19. Jahrhundert (bis 1905), als amerikanische Versicherungsgesellschaften ein Kombinationsprodukt aus Lebensversicherung und Tontine mit Erfolg in Europa vermarkten.

Hellwege sieht in dieser 2. und 3. Phase auf der Seite der Kunden eine Verengung auf ein konkretes Interesse, nämlich die Sicherung einer Pension. So ist der Untertitel des Bandes »From a multi-purpose financial product to a single-purpose pension product« gemeint. Das trifft vermutlich zu, denn über die Gründe der Zeichner, also derjenigen, die Geld in die Tontinen einzahlten, kann man in der Anfangs- und Blütezeit der Tontinen oft nur spekulieren. Es lassen sich Motive erahnen, die denen der Teilnehmer an den beliebten Wetten, Lotterien und Spekulationen des 17./18. Jahrhunderts ähneln: Wer am längsten lebt, gewinnt – auch finanziell. Aber der Versorgungsaspekt, der auch schon den seit dem Mittelalter weit verbreiteten Rentengeschäften zugrunde lag, dürfte ebenfalls eine Rolle gespielt haben, zumal man nicht nur sich selbst, sondern auch einen dritten Begünstigten in die Tontine einkaufen konnte.

Auf der Seite der Veranstalter ist wohl in erster Linie zwischen der öffentlichen Hand, die Tontinen einfach aus fiskalischen Gründen zur Stopfung der Löcher im öffentlichen Haushalt veranstaltete, und privaten Unternehmen in den besagten Phasen 2 und 3, die mit dem Modell Kunden gewinnen und Marktanteile erobern wollten, zu unterscheiden.

Das Thema Versicherungsgeschichte ist durch die dreifache Anstrengung von Phillip Hellwege und seinen Mitstreitern mit einem Schlag auf die Bühne der rechtshistorischen Forschung getreten. So ist das Unternehmen ohne Frage erfolgreich gestartet. Hellwege hat seinen Gegenstand durch die Betonung des Rechts der Versicherungen aus dem Schatten der rein historischen oder ökonomischen Betrachtung herausgerückt, und außerdem ist durch die Konzentration von zwei der drei Bände auf den trotz allem etwas exzentrischen Gegenstand ›Tontinen‹ jetzt schon ein zweites wichtiges Ziel von CHILE erreicht: Niemand wird, wenn es künftig um die Geschichte des Versicherungsrechts geht, nur noch an die Seeversicherung denken.

Notes

* Phillip Hellwege (Hg.), A Comparative History of Insurance Law in Europe. A Research Agenda (Comparative Studies in the History of Insurance Law – Studien zur vergleichenden Geschichte des Versicherungsrechts (HIL) 1), Berlin: Duncker & Humblot 2018, 253 S., ISBN 978-3-428-15499-9; Ders. (Hg.), The Past, Present, and Future of Tontines. A Seventeenth Century Financial Product and the Development of Life Insurance (Comparative Studies in the History of Insurance Law – Studien zur vergleichenden Geschichte des Versicherungsrechts (HIL) 2), Berlin: Duncker & Humblot 2018, 413 S., ISBN 978-3-428-15615-3; Ders. (Hg.), A History of Tontines in Germany. From a multi-purpose financial product to a single-purpose pension product (Comparative Studies in the History of Insurance Law – Studien zur vergleichenden Geschichte des Versicherungsrechts (HIL) 3), Berlin: Duncker & Humblot 2018, 190 S., ISBN 978-3-428-15616-0