Innerhalb des von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Ausschnitts der keilschriftlichen Überlieferung kommt dem Codex Hammurapi eine herausragende Bedeutung zu, die wohl selbst das Gilgamesch-Epos mit seiner Sintfluterzählung in ihren Schatten stellt. Dementsprechend umfangreich wurde der Codex Hammurapi durch die Fachwissenschaft gewürdigt. Wie so oft bedingt dies eine gewisse Iteration der im Schrifttum anzutreffenden Aussagen. In diesem Sinne bietet auch vorliegender Band jedenfalls in seinen Details wenig Neues.
Barmash, die ihre Studie als histoire totale begriffen haben will, präsentiert den Codex Hammurapi in der Einleitung (1–17) einerseits als Kulminationspunkt einer in Herrscherinschriften und älteren Rechtssammlungen fassbaren Traditionslinie. Andererseits soll er als über ein Jahrtausend tradierter und fixierter Text eine kopernikanische Wende im intellektuellen Leben Mesopotamiens markieren und zum Startpunkt eines neuen Traditionsstroms geworden sein. Letztere Idee wird indes erst im abschließenden 7. Kapitel (251–277) wieder aufgegriffen, wo Barmash eine Rezeption zumindest gewisser Denkmuster in den Nachbarregionen Mesopotamiens wahrscheinlich macht. Verheißungsvoll angekündigt, gelangt die Betrachtung des Einflusses, den der Text auf das antike griechische oder gar römische Recht ausgeübt haben soll, hingegen zum altbekannten Ergebnis, dass ihr die nötige Quellengrundlage fehlt. Insgesamt bildet die Rezeptionsgeschichte aber eher einen Nebenaspekt der Arbeit. In ihrem Zentrum steht die gleichfalls schon in der Einleitung skizzierte Debatte um die Natur jenes Textes, deren Beantwortung seiner Einordnung in ältere Traditionen dient:
Kapitel 1 (19–47) ist zunächst der Materialität der im Louvre ausgestellten Stele, dem wichtigsten, aber nicht einzigen Textzeugen, gewidmet. Hinsichtlich der Ikonographie stützt sich Barmash überwiegend auf eine Arbeit Schmandt-Besserats, blendet aber die kurz zuvor erschienene Studie von Elsen-Novák/Novák1 aus. Die hier gebotene Interpretation der bildlichen Szene am Stelenkopf überspannt den Bogen: Zum einen überbetont Barmash die Innovativität und Einzigartigkeit der Darstellung eines dem Sonnengott Šamaš direkt und ohne störendes Zwischenelement gegenüberstehenden Hammurapi, die ihre besondere Verbundenheit symbolisieren soll. Weitere Beispiele solcher Darstellungen hat Seidl bereits vor Jahrzehnten zusammengestellt.2 Zum anderen wird die szenische Darstellung am Stelenkopf bloß mit der Erwähnung Šamaš’ im sog. Prolog kontextualisiert. Auf diese Weise nivelliert Barmash geflissentlich die Diskrepanz zwischen Bild und Text, die sich aus der im Text dargestellten Einsetzung Hammurapis durch den Stadtgott Marduk statt durch Šamaš ergibt. Daneben illustriert Barmash anhand von Textbeispielen die Verbindung der Götter mit dem Recht im Denken Mesopotamiens. Im Übrigen beschränkt sie sich auf Plattitüden der Art, dass die Stele in ihrer Monumentalität der Manifestation von Macht diene. Soweit sie dabei auf die Erhaltung von Hammurapis Namen abstellt, kann sich Barmash wiederum auf ein breites Schrifttum stützen, das sie aber nur ausschnittsweise berücksichtigt.3
Die folgenden Kapitel bilden eine inhaltliche Einheit. Auf abstrakterer Ebene adressiert Kapitel 2 (49–86) das Recht als Aspekt mesopotamischer Herrscherideologie. Einmal mehr weist auch Barmash auf die zentralen Konzepte kittum und mīšarum hin, von welchen ersteres eine Art (statisches) Naturrecht adressiere,4 letzteres hingegen die (dynamische) Herbeiführung eines jenem Na|turrecht entsprechenden Zustands. Als diesem Zweck dienende Instrumente begegnen in der Überlieferung neben einer judiziellen Tätigkeit des Königs selbst vor allem sog. Gerechtigkeitserlasse und Codizes, für welche Barmash jeweils Quellenbeispiele nennt. Erstere will sie chronologisch in zwei Gruppen unterteilen: In vor-altbabylonischer Zeit seien solche Erlasse zum einen vorwiegend durch Inschriften sowie Hymnen bezeugt und hätten zum anderen der Sicherung sozialen Friedens gedient; ab altbabylonischer Zeit seien sie als regulatorische Eingriffe in das Wirtschaftsleben überliefert. Zentrales Anliegen dieses Kapitels ist aber die Diskussion des Verhältnisses jener Quellengattungen zueinander. Anknüpfend an und in Abgrenzung zu entsprechenden Ansätzen Finkelsteins und Veenhofs zeigt Barmash auf, dass Prolog und Epilog des Codex Hammurapi in Rhetorik und Inhalt gewisse Ähnlichkeiten zu Hymnen und Inschriften aufweisen, während die sog. Rechtssätze zumindest formale Ähnlichkeiten mit den Gerechtigkeitserlassen haben.
Hieran anknüpfend analysiert Barmash den Codex Hammurapi in Kapitel 3 (87–135) als eigentliche Herrscherinschrift, deren Aussagen durch die Rechtssätze bloß ausgemalt erscheinen. Diese Feststellung ist wichtig, weil sie der seit dem frühen 20. Jahrhundert beobachtbaren Tendenz entgegenwirkt, die Rechtssätze als eigentlichen Inhalt des Textes, Prolog und Epilog gleichsam nur als Beiwerk zu begreifen. Auf Grundlage von Arbeiten Ries’, vor allem aber Hurowitz’ werden sowohl Vorlagen als auch die kunstvolle Komposition jener Textabschnitte analysiert. In Kapitel 4 (137–201) rücken dann die Rechtssätze in den Fokus, die Barmash in enger Verknüpfung zur Schreiberausbildung behandelt: So wie Schreiber juristische Konzepte, Institute und Begriffe anhand von Beispielsfällen erlernten, dienten auch die Rechtssätze als exempla, die bestimmte Rechtsprinzipien nicht benennen, aber demonstrieren sollten. Darauf, dass sich dies insbesondere durch geschickte Kombination verschiedener Beispielsfälle resp. Rechtssätze erreichen ließ, hat in anderem Kontext auch schon der Rezensent hingewiesen.5 Zum einen ordnet Barmash dies in den weiteren Kontext literarischer Traditionen ein, die sich einerseits in der listenartigen Zusammenstellung der Rechtssätze und andererseits in der Präsentation von Wissen im Konditionalschema niederschlage.6 Zum anderen skizziert sie die Zusammenstellung paradigmatischer Regelungskomplexe, deren Arrangement zu Clustern, thematische Gruppierung sowie die gruppierungsübergreifende Anordnung identischer Rechtsfolgen als Techniken zur Verdeutlichung solcher Prinzipien und zugleich Ausdruck altmesopotamischen Rechtsdenkens. Auch hierbei kann sie sich auf ein breites Schrifttum stützen, das seinerseits auf bahnbrechenden Vorarbeiten Koschakers und Petschows beruht. Diese Deutung wird durch einen Exkurs (203–218) plausibel gemacht, der vor allem die Schreiberausbildung beleuchtet. Anhand der Rechtssätze zur Adoption lässt Barmash jene Perspektive auf die altorientalischen Codizes im kurzen 5. Kapitel konkret werden (219–229).
Sodann wendet sie sich im 6. Kapitel (231–250) dem zentralen Problem der Rechtsnatur des Codex Hammurapi zu. Die Feststellung, dass nur vereinzelte, den Rechtssätzen allenfalls sinngemäß entsprechende Rechtsfälle überliefert sind, führt zur altbekannten Einsicht, dass sich nicht belegen lässt, ob der Text anwendbares Recht setzt oder zumindest angewandtes Recht reflektiert. In Abgrenzung zur bisherigen Diskussion betont Barmash, dass Zitation eines Gesetzes keine Voraussetzung für die Berufung auf seine Geltung ist. Der Text, so meint sie, stelle keine allgemeinen Regeln auf, sondern drücke exemplarisch aus, was als angemessen empfunden wurde. Weil Schreiber jenes Rechtsempfinden verinnerlichten, hätten sie als judiziell tätige Funktionäre dann im Sinne des Codex entschieden. Damit verwechselt Barmash Rechtsnatur mit Rechtstechnik. Die Idee, Recht durch Normierung von Ausbildungsmaterial zu setzen, lässt sich etwa auch zweieinhalb Jahrtausende später in Ost-Rom fassen. Ob der von Barmash als Ausbildungsmaterial verstandene Text nun im Sinne von ›Institutiones Hammurapi‹ auf eine Anordnung mit Geltungsanspruch oder doch auf freie Willkür des |jeweiligen Schreibers oder gelehrte Diskussion zurückführbar ist, ist damit keineswegs entschieden – und wird wohl nie entschieden werden.
Von großem Wert ist hingegen die monographische Zusammenführung der disparate Aspekte betreffenden und über viele Fachmedien verstreut geführten Diskussion. Sie steht als besonderes Verdienst der Autorin für sich.
* Pamela Barmash, The Laws of Hammurabi at the Confluence of Royal & Scribal Traditions, New York: Oxford University Press 2020, X + 320 S., ISBN 978-0-19-752540-1
1 Gabriele Elsen-Novák, Mirko Novák, Der »König der Gerechtigkeit«, in: Baghdader Mitteilungen 37 (2006) 131–151.
2 Ursula Seidl, Babylonische und Assyrische Flachbildkunst des 2. Jahrtausends v. Chr., in: Winfried Orthmann (Hg.), Der Alte Orient (Propyläen Kunstgeschichte 18), 2. Aufl., Berlin 1985, 298–327, dort etwa Nrn. 183, 184b, 187.
3 Unerwähnt bleibt etwa Karen Radner, Die Macht des Namens (SANTAG 8), Wiesbaden 2006.
4 Weitere Anregungen hierfür hätte die Arbeit von Kai Lämmerhirt, Wahrheit und Trug (Alter Orient und Altes Testament 348), Münster 2010, bieten können.
5 Steffen M. Jauss, Kasuistik – Systematik – Reflexion über Recht, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 21 (2015) 185–216, 186f.
6 Vgl. Guido Pfeifer, Das Recht im Kontext normativer Ordnungen des Alten Orients, in: ZRG (RA) 135 (2018) 17–19.