Nina Kühnle wendet sich in ihrer Untersuchung in erster Linie sozialgeschichtlichen Fragestellungen zu. Im Eingangskapitel wirft sie die zentrale Ausgangsfrage ihrer Arbeit auf: Handelt es sich bei der sog. »Ehrbarkeit« in Württemberg tatsächlich um eine »ständegeschichtlich einzigartige Sondergruppe« unter den städtischen Oberschichten in Deutschland (8), die man in dieser Form tatsächlich nur in Württemberg antrifft? Und handelt es sich bei dieser »Ehrbarkeit« um einen halbwegs abgrenzbaren stadtbürgerlichen Stand, der sich von den Patriziaten anderer, zumal süddeutscher Städtelandschaften in signifikanter Weise unterscheidet? Eben dies war die mittlerweile allerdings überholte These des württembergischen Landeshistorikers Hansmartin Decker-Hauff: Ihm zufolge bildete die württembergische Ehrbarkeit einen ganz spezifischen Stand, der sich dadurch ausgezeichnet habe, dass bei ihm allein die ausgeübten Ämter und Funktionen die Standeszugehörigkeit begründet hätten. In der eingehenden Auseinandersetzung mit dieser These zeigt die Verf. sodann deren Schwachstellen auf (12–17), wobei sie an die Kritik von Gabriele Haug-Moritz anknüpft, die in ihrer Monographie über die württembergische Ehrbarkeit von Decker-Hauffs Konzept nicht mehr viel übrig gelassen hat: Die Ehrbarkeit bestand nicht – das dürfte mittlerweile feststehen – aus der Gruppe der Amtsinhaber; letztere kamen vielmehr zu Amt und Würden, weil sie aus der Ehrbarkeit stammten (17). »Ehrbarkeit« ergab sich demzufolge nicht aus einem Amt, sondern umgekehrt aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Angesichts dessen spricht die Verf. in ihrer Arbeit auch nicht von »der Ehrbarkeit«, sondern von »städtischen Führungsgruppen« oder der »Stadtelite« (26f.), hier im Anschluss an die neuere Sozialgeschichte, die bekanntlich seit geraumer Zeit eine besondere Vorliebe für das Wort »Elite« entwickelt hat.
Im zweiten Teil gibt die Verf. einen Überblick über die Territorialbildung der Grafschaft Württemberg, bei der den Städten – durchgehend Klein- und Kleinststädte (34ff.) – eine Schlüsselstellung zukam, die sich dann in der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Territorialverwaltung Württembergs und der sie prägenden »Amtsverfassung« fortgesetzt hat (75ff.), bei der Stadtherrschaft und Ämterverwaltung auf das Engste miteinander verklammert waren. Denn den städtischen Führungsgruppen kam dabei nicht nur das Stadtregiment, sondern zugleich auch die landesfürstliche Territorialverwaltung in den Ämtern zu. |
Dieser Teil setzt freilich nur den Rahmen für die sodann im dritten Teil folgende Darstellung der städtischen Führungsgruppen in Württemberg. Zunächst stellt Kühnle die städtischen und herrschaftlichen Ämter (Kap. 3.2.1) vor, die von den »städtischen Führungsgruppen« typischerweise ausgeübt wurden. An erster Stelle stand dabei das meist zwölfköpfige Stadtgericht (81), die eigentliche Stadtregierung. Daneben der Vogt, kein städtisches, sondern ein Amt der Territorialverwaltung von zentraler Bedeutung (82). Der Vogt stand an der Spitze von Stadt- und Amtsregierung, fungierte als Stellvertreter des Stadt- und Landesherrn und hatte den Gerichtsvorsitz inne. In zweiter Reihe erscheinen der Schultheiß (83), dessen Funktion, vor allem in Abgrenzung zum Vogt, allerdings ziemlich unklar bleibt, und der Keller als dem obersten Finanzverwalter von Stadt und Amt (83). Schließlich der Rat, der im Laufe des 15. Jahrhunderts als genuin-gemeindliches Gremium mit bis zu zwölf Mitgliedern entstand, und der Bürgermeister. Die Kompetenz- und Funktionsabgrenzung zwischen diesen verschiedenen Organen der Stadt- und Territorialverwaltung bleibt allerdings unklar. Die Frage ist, ob man hier nicht doch stärker zwischen Amtsverwaltung und städtischer »Selbstverwaltung« unterscheiden muss. Vor allem bleibt völlig unklar, was man sich unter jenen »Amtleuten« oder »Amtmännern« vorzustellen hat, auf die die Verf. dann S. 329ff. vielfach Bezug nimmt? In den Quellen erscheinen sie sehr häufig, die Verf. führt sie aber in ihrer Darstellung der städtischen und territorialherrschaftlichen Ämter nicht auf. Oder ist der Amtmann, in der frühen Verwaltungsgeschichte bekannt als der Stellvertreter des Landesherrn im »Amt«, identisch mit dem Vogt?
Bleibt das stadtverfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Interesse hier unbefriedigt, so fällt das Bild bei der anschließenden sozialgeschichtlichen Charakterisierung der städtischen Führungsgruppen (Kap. 3.2) umso plastischer aus. Kühnle beschreibt sie als eine territoriale Funktionselite (90), die sich durch Kooption über Generationen hinweg auf den entscheidenden Stellen der Stadt- und Ämterverwaltung halten konnte (91). Die Verf. schildert im Einzelnen die wirtschaftlichen Grundlagen dieses Kleinstadtpatriziats, den Aufbau familiärer Netzwerke durch entsprechende Heiratsstrategien und die Repräsentation von Reichtum und Macht zu Lebzeiten und danach, im Hausbau und in der Memorialkultur, sichtbar in Grabplatten, Altarbildern und frommen Stiftungen. Diese höchst anschauliche sozialgeschichtliche »Schichtenanalyse« ermöglicht auch dem Rechtshistoriker interessante Einsichten, so etwa in Kap. 3.2.5, in dem Kühnle die am Ausgang des Mittelalters unter den städtischen Führungsgruppen rasch ansteigende Bedeutung des Universitätsstudiums beschreibt: Im Einzelnen wird hier das Vordringen des juristischen Gelehrtentums in den städtischen Führungsschichten dargestellt. Noch im Spätmittelalter spielte das Studium hier eine geringe Rolle; für die Besetzung der Ämter hatte es augenscheinlich noch keine Relevanz, viel wichtiger waren Abstammung, Beziehung und Reichtum (147). Zudem verließen die meisten Jurastudenten die Universität, jedenfalls im Spätmittelalter, noch ohne Examen. Das Studium war hier noch nicht Karrierevoraussetzung, sondern diente als Repräsentationsmittel, um den Reichtum der Familie zu demonstrieren (148).
Im vierten, verfassungsgeschichtlich interessantesten Teil werden dann schließlich die Formierung von »Landschaft« und Ständen in Württemberg und deren politisches Agieren gegenüber den Landesherren dargestellt. Sie schildert im Einzelnen jene Kette von Herrschaftsverträgen, an denen die Landschaft zumindest beteiligt war, indem sie von den Abgeordneten der Landschaft mitbeschworen wurden. Das beginnt mit der sog. Leonberger Regimentsordnung, durch die die Landschaft erstmals einen vertraglich festgelegten Anteil an der Ausübung der Regierungsgewalt erhielt (277), setzt sich fort im Uracher und Münsinger Vertrag (1473 und 1482), in denen der Landschaft nicht unerhebliche Kontroll- und Schiedsgerichtsfunktionen übertragen wurden, und gipfelt schließlich im Tübinger Vertrag von 1514, der »Magna Charta« der amtsstädtischen Ehrbarkeit (352), zugleich der Beginn des landschaftlichen Steuerbewilligungsrechtes. Die württembergischen Landtage, die nun zunehmend den Landesherren als eigener Machtfaktor im Rahmen des »dualistischen Ständestaates« entgegentraten, waren ausschließlich eine Vertretung der urbanen Eliten; die Landgemeinden blieben vollkommen ausgeschlossen. Die Landtage haben also absolut nichts zu tun mit einer demokratisch herbeigeführten »Repräsentation des ganzen Volkes«, wie die Verf. zutreffend hervorhebt (304). Die »Wahl« war allein durch Verwandtschaft, Vermögen und Ansehen bestimmt (305). Insbesondere bei den bäuerlichen Unruhen des sog. »Armen Konrad« |1514 ist der ausgeprägte Gegensatz zwischen der Ehrbarkeit als einer städtischen sozialen Elite auf der einen Seite und dem Land sowie den städtischen Unterschichten sehr deutlich zutage getreten.
Für den Verfassungshistoriker, der sich mit der Tradition der alteuropäischen »Herrschaftsverträge« und deren Fortwirken im Konstitutionalismus befasst, liegt der Wert der Arbeit vor allem in der mit zahllosen Quellen unterlegten und daher höchst anschaulichen Darstellung einer Entstehungsgeschichte von »Ständen« und deren spannungsreicher Interaktion mit dem Landesherrn. Auch in Württemberg waren die Stände eine Sekundärbildung, die der Entstehung des Territoriums nachfolgte; die Stände wurden also vom herrschaftlichen Element geformt, stiegen dann aber zum Widerpart der fürstlichen Landesherrschaft auf. Mit einer Vielzahl von Quellen kann die Verf. diesen Aufstieg in höchst anschaulicher Weise vorführen. Auch in Württemberg waren es zwei Schwachpunkte fürstlicher Landesherrschaft, die diesen Aufstieg besonders antrieben: Die finanzielle Unterstützungsbedürftigkeit des Landesherrn und die Schwächung der Landesherrschaft durch eine unsichere Nachfolgesituation beim Tod des Fürsten.
Bei dieser positiven Bilanz fällt es nicht schwer ins Gewicht, dass die Verf. eine der zentralen Ausgangsfragen, die sie zu Beginn ihrer Arbeit aufgeworfen hat, nämlich die sozialgeschichtliche Frage nach der »Einzigartigkeit« der württembergischen »Ehrbarkeit« als einer spezifisch württembergischen Form einer städtischen Oberschicht, nicht weiterverfolgt hat. Das wäre ohnedies nur bei einem vergleichend angelegten Ansatz möglich gewesen, bei dem man andere Territorien entsprechender Größe und mit ähnlicher Städtedichte hätte einbeziehen müssen. Denn nur so lassen sich eventuelle »Sonderentwicklungen« in einem Territorium erkennen. Dass die württembergische »Ehrbarkeit« als solche kein sozialgeschichtliches Spezifikum darstellt, hat die neuere vergleichende Landesgeschichtsforschung klargelegt, wie ja die Verf. im ersten Teil zeigt. Aber es ist andererseits zu vermuten, dass sich für die dominante Stellung der »Ehrbarkeit« im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Herrschaftsgefüge Württembergs wohl nur schwer eine Parallele in einem anderen Territorium finden lässt. Die beherrschende Stellung der »städtischen Führungsgruppen« im frühneuzeitlichen Ständewesen Württembergs war einmal dadurch bedingt, dass große Teile des einst landsässigen Adels nicht, wie es in den größeren Territorien des Reichs die Regel war, in den werdenden Territorialstaat der Frühen Neuzeit eingebunden und ständisch integriert wurden, sondern diese im Gegenteil aus dem Territorium ausgeschieden sind und Reichsunmittelbarkeit erlangt haben. Nachdem dann mit der Reformation in Württemberg auch der Prälatenstand verschwunden war, wurde der »Dritte Stand«, also die »Landschaft«, gegenüber dem Landesherrn schließlich allein tonangebend. Nun gab es zwar im Alten Reich auch andernorts solche »Landschaften«, wie etwa in Baden oder in Vorarlberg, aber diese wurden gänzlich von einem (groß-)bäuerlichen »Dorfpatriziat« (K.S. Bader) beherrscht. Eine derartig stadtbürgerlich dominierte Landschaft wie diejenige Württembergs wird sich andernorts kaum finden. In Württemberg kommt noch hinzu, dass die Landschaft starken Einfluss jedenfalls auf die untere Ebene der Territorialverwaltung nehmen konnte, weil den Städten in der württembergischen »Amtsverfassung« eine Schlüsselstellung zukam. Die ausgeprägte Machtstellung der stadtbürgerlichen Eliten in Württemberg dürfte wohl in der Tat ziemlich singulär gewesen sein. Aber ein Vergleich dieses Befundes mit den Verhältnissen in anderen Territorien hätte der Arbeit Kühnles eine ganz andere Richtung gegeben, die von der Verf. sicherlich gar nicht beabsichtigt war. Immerhin bietet die Untersuchung von Nina Kühnle nunmehr eine solide Grundlage für einen solchen Vergleich und sie deutet in ihrem Fazit (Kap. 5) auch an, wo man hierbei u.a. ansetzen könnte, nämlich bei »der Rolle des Niederadels, dessen Rückzug aus der Lokaladministration überhaupt erst die Freiräume schuf, in die die städtischen Führungsgruppen dann vorstoßen konnten« (446).
* Nina Kühnle, Wir, Vogt, Richter und Gemeinde. Städtewesen, städtische Führungsgruppen und Landesherrschaft im spätmittelalterlichen Württemberg (1250–1534) (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 78), Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2017, 544 S., ISBN 978-3-7995-5278-3