Ein Kompendium in Wort und Bild*

[A Compendium in Words and Pictures]

Andrzej Gulczyński Adam-Mickiewicz-Universität, Poznań guland@amu.edu.pl

Wenn man heute über den Sachsenspiegel nachdenkt, denkt man (zumindest im Kreise von Historikern und Juristen) an Heiner Lück, Professor an der Martin-Luther-Universität in Halle. Seine wissenschaftlichen Arbeiten zum Sachsenspiegel haben bereits umfangreiche Studien, Quelleneditionen und kritische Ausgaben von Faksimiles der illustrierten Handschriften hervorgebracht. Mit dem hier besprochenen Band liegt nun eine synthetische Darstellung dieser Arbeiten vor, die den Sachsenspiegel mit Blick auf Entstehung, Inhalt, Verbreitung bis hin zur Verwendung in jüngerer Zeit beschreibt und somit seine Bedeutung herausstellt.

Das Werk ist in acht Kapitel gegliedert, die wiederum in kleinere Unterabschnitte aufgeteilt sind. Wie in den Handschriften sind Wort und Bild auch in Lücks Werk gleichwertig und von Anfang an parallel verwendet, ohne dass der Band als Bildband zu verstehen ist. Interessant sind auch einzelne Zwischenkapitel, die thematische Erweiterungen bilden. Diese Perlen wurden »Porträt« und »Spezial« genannt und bilden einen wichtigen Teil des besprochenen Stoffes.

Im ersten dieser Porträts wird Eike von Repgow vorgestellt, der nur in wenigen Quellen erwähnte große Verfasser des Sachsenspiegels. In weiteren Porträts finden wir die »legendären« Schöpfer des Sachsenspiegels: Karl den Großen, dem wir der Legende nach den ersten Teil, also das Landrecht, verdanken, und Friedrich II., dem der zweite Teil des Sachsenspiegels, das Lehnrecht, zugeschrieben wird. In anderen werden weitere wichtige Personen dargestellt, so Johann von Buch, Verfasser der nach ihm benannten Glosse, und Christoph Zobel, der vor allem durch seine Sachsenspiegelausgaben mit Stichwortregistern und Randnummern in die deutsche Rechtspraxis eingegangen ist. Ein besonderes Porträt beschreibt die Sachsen im 12. Jahrhundert, also zur Zeit der Entstehung des Sachsenspiegels. Als zwei Speziale werden wichtigste Merkmale und gleichzeitig Rechtsinstitute des Sachsenspiegels erklärt: die Heerschildordnung, also die Teilung der Gesellschaft in sechs Stände (und einen zusätzlichen), sowie die Zweischwerterlehre, also die Erklärung der Machtteilung zwischen Papst und Kaiser als der zwei Universalgewalten des Mittelalters und ihrer Koexistenz. Eine solche Aufteilung des Stoffes ermöglicht es nicht nur, sich den für den Sachsenspiegel wichtigsten Personen, sondern auch bestimmten Themen fokussiert zu nähern. Der Band schließt mit Bibliographie, Glossar und Register.

Der Verfasser, dessen langjährige Faszination für den Sachsenspiegel im gesamten Werk deutlich wird, zeichnet den Werdegang des Werkes chronologisch von der Entstehung des Manuskriptes bis zum heutigen Tag nach. Die Entstehung des Sachsenspiegels wird im ersten Kapitel dargestellt, wobei der Verfasser auch auf Hintergrundthemen wie die Bevölkerungsgruppen des Harzvorlandes oder Personen wie Graf Hoyer II. von Falkenstein eingeht, in dessen Auftrag Eike das Gewohnheitsrecht niedergeschrieben hat. Hier finden sich auch Erläuterungen u.a. zum Terminus »Rechtsbücher« und zu ihrer Bedeutung.

Das zweite Kapitel erklärt sowohl die Herkunft des Sachsenrechts als auch die Überlieferungen in lateinischer Urfassung und deutscher Übersetzung. Damit stellt es auch die Bedeutung des Sachsenspiegels für die deutsche Literatur und Sprache heraus: Er gehört zu den ersten großen Prosawerken in deutscher Sprache und beschreibt fast wie in einem Roman das Zusammenleben von Fürsten, Adligen, freien Bauern und ländlichen Dorfbewohnern sowie das Miteinander von Mensch, Tier und Natur. Lück zeigt auf, inwieweit das Gewohnheitsrecht durch manche Institute aus dem römischen und kanonischen Recht ergänzt wurde und verweist sowohl auf Fehler bei der Beschreibung der rechtlichen Wirklichkeit (z.B. wenn Eike behauptet, der König von Böhmen habe kein Wahlrecht gehabt, 40) als auch auf die Notwendigkeit weiterer Forschungen (39).|

Im nächsten Kapitel wandern wir durch das Spätmittelalter und dessen ländliche Gesellschaft, mit eigener Verfassung und einem zentralen Element: dem von den Kurfürsten gewählten König, der Anspruch auf die Kaiserwürde hatte. Mit der Verfassungsstruktur eng verbunden war das Lehnswesen, aber auch andere wichtige Rechtsbereiche wie das Gerichtswesen, das Straf- und das Familienrecht werden erläutert. Die Großfamilie z.B. war ein wichtiges, ständiges Element der sozialen Struktur. Dagegen war die Ehe »nur« lebenslang von Bedeutung, und der Sachsenspiegel kennt auch andere rechtliche Verbindungen zwischen Mann und Frau. Und so erschließen sich uns u.a. Königswahl, Eid auf Reliquiar und Gottesurteile, Verwandtschaft und Erbfolge, Überreichung der Trauringe bei der Eheschließung und Ehebruch. Lück zieht dabei nicht nur relevante Illustrationen aus der Handschrift heran, sondern auch Aufnahmen von bis heute in der Landschaft erhaltenen Denkmälern wie ein Bauernstein auf dem dörflichen Versammlungs- und Gerichtsplatz in Göttnitz oder das Sühnekreuz (Steinkreuz) bei Hackpfüffel.

Das fünfte Kapitel ist den Rechtsvorstellungen und Lebensbereichen gewidmet. Lück weist hier auf die detaillierte Darstellung in Text und Bild hin und betont, dass es ohne Kenntnis des Textes nicht möglich sei, die rechtlichen Inhalte der Illustrationen zu verstehen (90). Zu den hier besprochenen Schwerpunkten gehören die Dichotomie von Freiheit und Unfreiheit, der Zusammenhang von Mensch und Natur und die Beziehung zu anderen Lebensbereichen im Land wie Burg und Kirche (mit Zehntpflicht). So gelangt Lück von übergeordneten zu alltäglichen Fragen, wenn er schließlich auch die Darstellungen des Badens im Dampfbad thematisiert, denn auch diese sind bildlich und schriftlich geregelt.

Das Kapitel »Der Weg in die Moderne« befasst sich mit einem grundsätzlich wichtigen Aspekt und zwar dem Beginn der Harmonisierung mit dem gelehrten Recht ausgehend von der Glosse des Johann von Buch. Die von ihm angefertigte Kommentierung, Ergänzung und Vergleichung mit dem römischen und kanonischen Recht ermöglichte es auch gelehrten Juristen, den Sachsenspiegel zu verstehen und verhalf dem Werk zu seiner langjährigen Geltung. Für die Verbreitung in Europa hingegen spielten die im nachfolgenden Kapitel besprochenen ausländischen Drucke eine entscheidende Rolle. An erster Stelle sind hier die von Nikolaus Jaskier, Stadtschreiber in Krakau, herausgegebenen lateinischen Ausgaben des glossierten Sachsenspiegels und des glossierten Weichbildes zu nennen. So verbreitete sich der Sachsenspiegel u.a. bis nach Livland und Kiew. Seine Regelungen konnte man noch 1937 im Zivilgesetzbuch der Republik Lettland finden.

Die historische Verbreitung, insbesondere die Geltung des Sachsenspiegels auf deutschem Gebiet, wurde politisch ausgenutzt. Lück führt entsprechende Beispiele schon aus dem 19. Jahrhundert an (Verbreitung des Rechts in Schlesien, Polen, der Ukraine). Nach dem Ersten Weltkrieg und großen territorialen Änderungen wurde der Sachsenspiegel während der frühen Weimarer Republik zur Stärkung des »Deutschtums« in den östlichen preußischen Provinzen und in den verloren gegangenen Ostgebieten ausgewertet. Noch stärker betätigte sich auf diesem Gebiet das NS-Regime. Das Institut zur Erforschung des Magdeburger Stadtrechts wurde mit der Absicht gegründet, eine Edition aller noch vorhandenen Magdeburger Schöffensprüche und Rechtsmitteilungen herauszugeben, um »den Einfluss deutschen Rechts auf die östlichen Gebiete zu zeigen und dadurch deren Zugehörigkeit zu Deutschland sowie die Richtigkeit deutscher Einflussnahme im ›Ostraum‹ zu untermauern« (147). Wie zu NS-Zeiten (1933 und 1934) wurden auch in der DDR (1959) Feierlichkeiten in Reppichau organisiert. Grundsätzlich galt in der rechtsgeschichtlichen Forschung der DDR die neue Staatsideologie mehr als altes Recht. In der BRD weckte es nach wie vor Interesse und es erschienen diverse Monographien und Editionen, nach und nach auch in anderen Ländern. Zu den wichtigsten Editionen der modernen Sachsenspiegelforschung zählt Lück die Wolfenbütteler (1993), die Oldenburger (1995), die Heidelberger (2009–2010) und die Dresdner (2002–2011) Bilderhandschrift. Den persönlichen Anteil Lücks kann man nicht überschätzen. Sein großes Verdienst liegt nicht zuletzt in der Leitung eines Projekts an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig, das seit 2004 systematisch die Verbreitung des Sachsenspiegels und des Magdeburger Rechts in Ostmitteleuropa erforscht. Dank internationaler Kooperationen werden auch neue Forschungsfragen in den Blick genommen, wie diejenige nach der Bildung juristischer Fachterminologien in den slawischen Sprachen unter Einfluss von Sachsenspiegel und Magdeburger Recht. Lück weist auf weitere Forschungsmöglichkeiten oder -notwendigkeiten hin, bevor er am |Ende des Bandes dem Einfluss des Sachsenspiegels auf das geltende deutsche Recht nachgeht.

Seine langjährige Wanderung auf den Spuren des Sachsenspiegels hat Heiner Lück an verschiedene, für den Leser manchmal ganz unerwartete Orte geführt. Daraus hat er ein wertvolles Kompendium über den Sachsenspiegel erschaffen, dessen Methode der Darstellung ähnlich denen der Bilderhandschriften des Sachsenspiegels den Band besonders attraktiv macht.

Notes

* Heiner Lück, Der Sachsenspiegel. Das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters, Darmstadt: Lambert Schneider 2017, 176 S., ISBN 978-3-650-40186-1