Über die Geschichte des kanonischen Rechts im Mittelalter ist reichlich geforscht worden. Wenn nun ein Sammelband zum Gebrauch dieses Rechtes in der kirchlichen Verwaltungspraxis des Früh- und Hochmittelalters vorgelegt wird, weckt das die Aufmerksamkeit der mediävistischen Rechtshistoriker, die sich – vor allem unter dem von Hermann Nehlsen am Beispiel der frühmittelalterlichen Leges Barbarorum geprägten Aspekt der »Effektivität« – mit der normativen Praxis in vormodernen Gesellschaften beschäftigen. Oftmals bewegen sich die Forschungen entweder auf der rein normativen Seite mit einem breiten Horizont oder auf der praktischen anhand von mehr oder minder begrenzten Untersuchungsräumen.
Das Kirchenrecht bietet sich zwanglos als Feld für Forschungen zu beiden Aspekten vor allem deshalb an, weil es selbst universelle Geltung beansprucht und nicht auf einzelne Personenverbände, seien sie noch so groß, vor der Entwicklung hin zu raumbezogenen Geltungsbereichen von Gesetzen beschränkt ist. Im vorliegenden Band steht die Schnittstelle zwischen kanonischem Recht und Verwaltungspraxis im Mittelpunkt. Die beiden Herausgeberinnen legen expliziten Wert (3f.) darauf, dass diese Implementation von abstrakten Ordnungsmustern in das soziale Leben der Individuen in den »central middle ages« ein Desiderat der Forschung sei.
Entsprechend breit sind die Beiträge und ihre Gegenstände gestreut, die nicht in chronologischer Sortierung aufeinander folgen. In gewisser, aber nicht gliedernder, Weise stellt der sogenannte Investiturstreit im dritten Viertel des 11. Jahrhunderts eine Wende dar. Die in dieser Phase der Konfliktführung zwischen Kirche und Welt entstandene »Sammlung der 74 Bücher« (Diversorum sententia Patrum) von etwa 1070 sowie die Schriften Bonizos von Sutri (gest. 1094/95) und die Libelli de Lite, die Streitschriften aus jener Periode, bilden sozusagen das Quellencorpus. Den beiden letztgenannten Quellen gelten die abschließenden Beiträge des Bandes von William L. North, »Bonizo of Sutri, the Dicta Bonizonis and the Development of the Jurisprudence of Canon Law before Gratian« (159–184), sowie Kathleen G. Cushing, »Law and Disputation in Eleventh-Century Libelli de lite« (185–194).
Thematisch vor dieser kirchengeschichtlichen Zäsur datiert jedoch nur der Beitrag von Greta Austin, »How the Local Council of Seligenstadt in 1023 Drew upon Books of Church Law« (108–120), der als Feigenblatt für die im Buchtitel gegebene Zeitspanne dient und in knapper Form das berühmte und einschlägige Dekret Bischof Burchards von Worms (reg. 1000–1025) als Teilnehmer jener Synode am Main (Seligenstadt liegt übrigens nicht »south of Mainz«, 109) bespricht, welches eine substantielle Quelle für die Jahrzehnte vor dem Investiturstreit darstellt und daher mehr Beachtung im Sammelband hätte finden müssen, um dem im Titel annoncierten Zeitrahmen gerecht zu werden.
Da der Beitrag mit dem zeitlich spätesten Fokus derjenige von Danica Summerlin, »Hubert Walter’s Council of Westminster in 1200 and Its Use of Alexander III’s 1179 Lateran Council« (121–139), ist, hat man eigentlich eine Aufsatzsammlung in den Händen, die sich mit dem Gebrauch des kanonischen Rechts seit dem Investiturstreit bis zum Ende des 12. Jahrhunderts beschäftigt – und nicht bis zum »Liber extra« Papst Gregors IX. aus dem Jahre 1234, dem bemerkenswerterweise entgegen der titelgebenden Zeitspanne kein eigener Essay gewidmet ist.
Der davon ermüdete Rezensent bemängelt seit geraumer Zeit am Beispiel zahlreicher Werke die offensichtliche Diskrepanz zwischen Titel und Inhalt mediävistischer Monographien und Sammelbände. Was würde das Verdienst des hier anzuzeigenden Bandes schmälern, wenn die Zeitspanne mit »1070–1200« oder »in the Century after the |Investiture Controversy« angegeben worden wäre? Nichts. So aber ließe sich ein billiger Verriss schreiben. Solcherart Titel – und es sind, wie gesagt, viele – zielen auf Referenzen und nicht auf Leser.
Nichtsdestotrotz ist das 12. Jahrhundert Räume übergreifend mit zwei Beiträgen von John S. Ott, »Men on the Move: Papal Judges-Delegate in the Province of Reims in the Early Twelfth Century« (23–50), und Mia Münster-Swendsen, »History, Politics and Canon Law: The Resignation of Archbishop Eskil of Lund« (51–68), vertreten. Die Tätigkeit päpstlicher Legaten in Frankreich am Beispiel der Reimser Kirchenprovinz im zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts dient John Ott als Beispiel für mobile überregionale Herrschaftsausübung. Er betont die regionale Herkunft der Beauftragten aus der visitierten Region (25f.) als Vorteil aus päpstlicher Sicht und wie dieses Verfahren schließlich zu einer Routine wurde, die Konsens stiften konnte. Weit nordöstlich von Zentralfrankreich liegt das dänische Erzbistum Lund, dessen Metropolit Eskil am Ende des Streites zwischen Barbarossa und Alexander III. im Jahre 1177 von seinem Amt zurücktritt. Das wird von Mia Münster-Swendsen vor dem Hintergrund der Konflikte des Erzbischofs mit dem dänischen König, der nun zu den Alliierten Alexanders III. zählte, als eine aus dem Kirchenrecht herrührende persönliche Entscheidung Eskils bewertet.
Der Schwerpunkt des Bandes aber liegt auf rechtstheoretischen Schriften dieses Jahrhunderts: Melodie H. Eichbauer, »Law in Service of a Community: Property and Tithing Rights in Gratian’s Decretum and Stephen of Tournai’s Summa« (69– 88), Jason Taliadoros, »Contrasting Approaches among Canon Lawyers on the Twelfth Century Shift from ius naturale to Rights« (89–107), Stephan Dusil, »The Emerging Jurisprudence, the Second Lateran Council of 1139 and the Development of Canonical Impediments« (140–158), Louis I. Hamilton, »›We Receive the Law on Mt. Sinai When We Study the Sacred Scriptures‹: Law, Liturgy and Reform in the Exegesis of Bruno of Segni« (195–220).
Diese können hier nur angezeigt und sollen nicht referiert oder bewertet werden. Stattdessen wird ein abschließender Blick auf das von Bruce C. Brasington (A&M University, West Texas) stammende »Postface: The View from 2017« (221–231) geworfen, der zwei »centennials« zum Jahr 2017 als dem Band verbunden hervorhebt: 1917 wurde einerseits der »Codex Iuris Canonici« promulgiert, und andererseits starb in demselben Jahr der protestantische Rechtshistoriker Rudolph Sohm (1841–1917). Das Dekretum Gratiani ist Brasington dabei der Pivot zur rehabilitierenden Wiederentdeckung des Kirchenrechts im 19. und frühen 20. Jahrhundert über die Konfessionsgrenzen hinaus (222f.). Er kommt dabei zu dem Schluss, dass nicht mittelalterliche »Bischöfe und Legaten, Erzdiakone und Kanonisten« unsere Welt erfüllen sollten, sondern deren Ideen, »um Ordnung, Frieden und sogar Recht in einer sehr aufgewühlten Welt« zu finden (230f.). Das ist es, was das Mittelalter uns zu sagen hat – nicht mehr und nicht weniger.
* Melodie H. Eichbauer, Danica Summerlin (Hg.), The Use of Canon Law in Ecclesiastical Administration, 1000–1234 (Medieval Law and its Practice 26), Leiden/Boston: Brill 2019, 292 S., ISBN 978-90-04-36433-2