Kanonistik im Spiegel von Kanonisten*

[Canonistics, Canonist by Canonist]

Georg May Universität Mainz (Emeritus) rg@rg.mpg.de

Der Herausgeber will einen Überblick über die Kirchenrechtswissenschaft durch die Schilderung von Leben und Werk ihrer gelehrten Betreiber geben. Die ersten 100 Seiten stellen Personen vor, die keine Kanonisten waren. Man kann schwerlich von Rechtsgelehrten sprechen vor Entstehung der Rechtswissenschaft. So finden sich bei Paulus zwar Texte, die kanonistisch bedeutsam sind, aber ein Kanonist war er nicht. Augustinus war Praktiker des Kirchenrechts, dessen Texte nicht selten als autoritative Stellungnahmen betrachtet wurden (wobei der ihm gewidmete Beitrag ausgiebig zu Papst Franziskus abschweift). Justinian war Gesetzgeber. Isidor von Sevilla war ein emsiger Sammler, aus dessen Werken reiche Belehrung zu schöpfen ist, vor allem für Kirche und Klerus, aber die kanonistische Bearbeitung nahm er selbst nicht vor. Hinkmar von Reims war im Recht seiner Zeit zu Hause, wie vor allem sein Werk über den Ehestreit Lothars II. zeigt. Er war in der Lage, die Synoden, an denen er beteiligt war, zu prägen. Aber systematisch arbeitender Kirchenrechtler war auch er nicht. Die von der pseudoisidorischen Fälschergruppe produzierten Texte brachten keinen wissenschaftlichen Fortschritt. Bei der Darstellung Abaelards überwuchert die Lebensgeschichte das Werk. Mit Gratian betreten wir sicheren Boden. Der instruktive Beitrag von Matthias Pulte über ihn gibt den Fragen über seine Person erheblich mehr Raum als der Darstellung seines Werkes. Stephan von Tournai leitete die notwendige Unterscheidung von Theologie und Kanonistik ein (126–130). Neu in einer Sammlung von Kanonisten ist die Aufnahme des Hugo von Sankt-Viktor in der Darstellung durch Rainer Berndt (131–141). Wohltuend berührt die gerechte Würdigung von Bonifaz VIII. durch Stefan Ihli (142–153). Von Johannes Teutonicus, bearbeitet von Thomas Zotz (160–165), hätte man gern mehr erfahren. Daniela Müller ist um sachliche Darstellung des Bernard Gui bemüht (166–176). Was Martin Luther in einer Sammlung von Kanonistenporträts zu suchen hat (182–192), ist nicht ohne Weiteres einsichtig. Er hat bekanntlich das kirchliche Recht in Frage gestellt. Der Autor, Heinz-Meinolf Stamm OFM, bestreitet seinen Beitrag hauptsächlich aus langen Zitaten anderer Gelehrter. Robert Bellarmin (203–214) ist doch wohl vorwiegend als Kontroverstheologe zu würdigen, daneben als Vertreter des ius publicum ecclesiasticum.

Mit Ferdinand Walter ist der Herausgeber im 19. Jahrhundert angekommen. Die stete Lernbereitschaft dieses Bonner Kanonisten wird zutreffend gewürdigt (215–219). Ansgar Hense entreißt |mit vollem Recht Valentin Philipp Anton Schmidt der Vergessenheit (220–232). Außerordentlich instruktiv ist die Würdigung Georg Friedrich Puchtas durch Sebastian Schermaul (233–244), vor allem für die Frage des Gewohnheitsrechts. Der Herausgeber des Bandes, Philipp Thull, hat den (ursprünglich britischen) Kanonisten Georg(e) Phillips bearbeitet (245–254), leider allzu knapp. Manche seiner Gedanken nahmen spätere Entwicklungen in Kirche und Kirchenrecht vorweg. Augustin Theiner hat umfangreiche Werke vorzuweisen, die aber wegen der Flüchtigkeit, mit der sie geschrieben sind, nicht durchweg zuverlässig sind (255–265). Aemilius Ludwig Richter (266–272) ist dem evangelischen Kirchenrecht zuzurechnen. Er wirkte durch sein Lehrbuch und seine Schüler. Otto Georg Alexander Mejers Schrifttum ist durch seinen permanenten Antiklerikalismus geprägt (273–285). Friedrich Maassens Name hat in der Rechtsgeschichte einen guten Klang (286–294). Alle seine Veröffentlichungen waren förderlich. Sein Plan, eine Quellen- und Literaturgeschichte des kanonischen Rechts bis zum Ausgang des Mittelalters zu schaffen, gedieh nur bis zum ersten Band. Umso nachhaltiger wirkte er durch seine zahlreichen Schüler. Angela Berlis (im Verzeichnis der Autorinnen und Autoren vergessen) stellt Johann Friedrich von Schulte vor (295–303). Mit schier unerschöpflicher Arbeitskraft ausgestattet, war er als Gelehrter und Organisator unermüdlich tätig. Seit seinem Übergang zum Altkatholizismus wandelte sich der frühere Streiter für den Katholizismus in dessen heftigen Gegner. Dass er die Unmöglichkeit der vatikanischen Dogmen nachgewiesen habe (301), wird man nicht sagen können; er hat sie erbittert bekämpft. Die Kritik Kalbs an der Arbeitsweise Johann Friedrich von Schultes (128) ist berechtigt. Andreas Weiß setzt dem fast vergessenen Philipp Urban Hergenröther ein bescheidenes literarisches Denkmal (304–312). Dieser hat gediegene Veröffentlichungen aufzuweisen. Als Seelsorger und Gesellenvater zeigte er die erwünschte und fruchtbare Verbindung von Wissenschaft und priesterlicher Betätigung auf. Die Werke Emil Albert Friedbergs sind teilweise noch heute unentbehrlich (313–320). Als kämpferischer Autor gegen die katholische Kirche vermochte er deren Wesen nicht gerecht zu werden. Friedrich Thaners Bedeutung liegt vornehmlich in seinen Quelleneditionen (323–326). Martin Honecker wird Rudolph Sohm gerecht (327–340). Er stellt besonders seine Wendungen und Wandlungen dar. Adolf von Harnack hat Sohms Hauptthese energisch zurückgewiesen. Honecker bespricht dann die verschiedenen Neuansätze im Recht des Protestantismus. Das Werk »Ius Decretalium« des am längsten in Rom lehrenden Franz Xaver Wernz wurde häufig als getreue (und maßgebende) Wiedergabe der Lehre des Apostolischen Stuhls angesehen (341–350). Rudolf von Scherer zeichnete sich durch hervorragende Quellenkenntnis, Einblick in die historische Entwicklung und sichere Methodik aus. Sein zweibändiges Handbuch des Kirchenrechts zeigt ihn als Rechtspositivisten. Der Wert des Werkes steckt hauptsächlich in den Anmerkungen (351–359). Die Bedeutung Pietro Gasparris als Kanonist wird von Alfred E. Hierold gerecht gewürdigt (360–364), leider allzu kurz. Klaus Zeller hat eine verständnisvolle Darstellung Joseph Hollwecks verfasst (365–375). Er war einer der vielen, die wegen ihrer Gesinnung nicht in die Position einrückten, die sie verdient hätten. Seine Ausführungen zur Zivilehe sind von bleibender Gültigkeit. Die Voten für die Kodifikation von 1917, die er vorlegte, waren von Einfluss auf den CIC/1917. Zeller gehört zu den wenigen Autoren des Bandes, die handschriftliche Quellen herangezogen haben. Sarah Marie Röck hat sich Johann Baptist Sägmüller vorgenommen (376–387). Sie hat die Schwierigkeiten erkannt, die sich einem Katholiken entgegenstellten, der eine universitäre Laufbahn anstrebte. Ihre Charakterisierung Sägmüllers ist gelungen. Er war ein Gelehrter, der kompetent auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft gearbeitet und Bleibendes geschaffen hat. Er hielt das Betreiben von Kirchenrecht ohne Berücksichtigung der Rechtsgeschichte für unzureichend. Christian Waldhoff würdigt Ulrich Stutz richtig als Forscher, akademischen Lehrer und Wissenschaftsorganisator (388–401). In der »Eigenkirche« fand er, der für das »germanische« Kirchenrecht Begeisterte, seinen vorzüglichen Gegenstand. Über 40 Jahre redigierte er die »Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte«. Er sah in der Kirchenrechtsgeschichte eine eigenständige Disziplin. Durch seine zahlreichen Schüler wirkte er weit in die akademische Landschaft hinein. Eduard Eichmann hat seine Darstellung durch Stephan Haering gewonnen (402–412). Er war sowohl in der Rechtsgeschichte als auch in der Rechtsdogmatik zu Hause. Sein Lehrbuch des kodikarischen Kirchenrechts nahm rasch die erste Stelle im einschlägigen deutschsprachigen Schrifttum ein. In immer neu|en Auflagen mit stets neuen Autoren existiert das Werk noch heute. Wenigen Kanonisten war ein so langes Leben und Wirken beschieden wie Nikolaus Hilling (413–423). Er verband seine unermüdliche wissenschaftliche Tätigkeit mit tiefer priesterlicher Frömmigkeit. Die kirchliche Rechtsgeschichte war ein Schwerpunkt seines Schaffens. Besonders anerkennenswert sind seine archivalischen Forschungen und die sich daraus ergebenden Studien. Seine Quellensammlungen waren seinerzeit unentbehrlich für Übungen und Seminare. 47 Jahre lang war er Schriftleiter des »Archivs für katholisches Kirchenrecht«, das er mit zahlreichen Beiträgen aus seiner Feder bedachte. Rudolf Smend (424–433) wanderte über mehrere Stationen nach Göttingen. Der bekennende Protestant, Gründer der »Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht«, hat sich zunächst dem Staatsrecht, namentlich dem Verfassungsrecht zugewandt, wobei seine Integrationslehre besondere Aufmerksamkeit erfuhr. Nach 1945 galt sein Interesse verstärkt dem evangelischen Kirchenrecht sowie den interkonfessionellen Aktivitäten. Den Weimarer Kirchenartikeln wies er unter dem Bonner Grundgesetz ein verändertes Verständnis zu. Eine Zeit lang folgten Gerichte der Bundesrepublik seinen Gedanken. Der Kapuziner Heribert Jone (434–443) war anfangs – und blieb es lebenslang – ein praxisorientierter Seelsorger. Er war Moraltheologe und Kanonist in einem. Sein Handbuch der Moraltheologie wurde dank der kasuistischen Ausrichtung zu einem der am meisten verwendeten Bücher des Seelsorgers. Jones Kommentar zum CIC lieferte eine fortlaufende Erklärung der einzelnen Canones. Nicht vergessen werden sollte seine kleinformatige »Katholische Moraltheologie«, deren 18. Auflage wohl 1961 herauskam. Jones Veröffentlichungen haben zum Teil harsche Kritik erfahren, meines Erachtens zu Unrecht. Sein Ziel, dem unschlüssigen und ratsuchenden Praktiker zu Hilfe zu kommen, hat er mit ihnen erreicht. Renate Penßel schildert Hans Liermanns Bemühungen um eine Theorie des evangelischen Kirchenrechts (444–455). Er vertrat die Berechtigung eines eigenständigen Rechts der evangelischen Kirchen. In der Bibel und in den Bekenntnisschriften wollte er Richtungsnormen dieses Rechts finden. Peter Krämer befasst sich mit Joseph Klein (456–463). Dieser nahm den Weg vom katholischen Priester zum Protestanten, was folgerichtig war, weil er sich schon lange vor seinem Übertritt protestantische Ansichten zu eigen gemacht hatte. Krämer zeigt Verständnis für die Position Kleins; sein Anliegen sei durchaus berechtigt. Peter Krämer hat auch den Artikel über Hans Barion verfasst (464–471). Dieser »korrekte Kanonist« war einer der wenigen, die das vom Zweiten Vatikanischen Konzil heraufbeschworene Verhängnis für die katholische Kirche frühzeitig erkannt haben. Barions Sicht wird durch den inneren und äußeren Zusammenbruch der Kirche dramatisch bestätigt. Seine hohe Geistigkeit, sein Scharfsinn und sein schriftstellerischer Mut werden in dem Beitrag Krämers nicht gebührend gewürdigt. Carl Joseph Hering (472– 483) wird von Manfred Baldus verständnisvoll als Rechtsphilosoph und Grundlagenforscher erkannt. Er ist der Jurist bzw. Kanonist der aequitas geworden. Wenn Baldus hier eine Brücke zu den sakramentstheologischen Vorstellungen des Papstes Franziskus sieht (478), vermag ich ihm nicht zu folgen.

Wilhelm Bertrams (484–493) lehrte in Rom Philosophie und Theologie des Rechts. Dementsprechend kreisten seine schriftstellerischen Erzeugnisse vorwiegend um die Grundlegung des Kirchenrechts, namentlich um die sacra potestas. Sein Verständnis der vielgerühmten Kollegialität fiel erfreulich ernüchternd aus. Bertrams hatte den Vorzug, dass seine Lern- und Lehrjahre zum großen Teil in eine Zeit fielen, in der an der Spitze der Kirche Hirten von beispielhafter Klarheit und Entschiedenheit standen. Die Entwicklung des Kirchenrechts und der Kirchenrechtswissenschaft ist über ihn hinweggegangen. Andreas Kowatsch, dessen Name im Register der Autorinnen und Autoren fehlt, stellt den österreichischen Kanonisten Willibald Maria Plöchl vor (494–504). Dieser legte eine fünfbändige Geschichte des Kirchenrechts vor. Das Werk war vorbereitet durch mehrere rechtshistorische Arbeiten. Von Anfang seiner wissenschaftlichen Bestrebungen an hatte er ein Augenmerk auf das Kirchenrecht der Ostkirchen. Aus seiner historischen Kenntnis rührt seine Abneigung gegen die vom Zweiten Vatikanischen Konzil eingeleiteten »Reformen« in der Kirche einschließlich des Kirchenrechts her. Hans Adolf Dombois (505–514) war stets ein Mann der (evangelischen) Kirche und in deren Raum und Rahmen juristisch tätig. Das »Gnadenrecht« bezieht sich auf die Beziehung des Menschen zu Gott, das »Gerechtigkeitsrecht« auf den zwischenmenschlichen Bereich. Sein »Recht der Gnade« wurde wohl mehr bewundert als gelesen. Das Werk versucht, das Kirchenrecht vom Gottesdienst her auf|zubauen. Dombois verknüpft rechtliches mit theologischem Denken. In der Periodisierung des Kirchenrechts folgt er Rudolph Sohm. Mission, Taufe, Abendmahl und Schlüsselübertragung drängen zu kirchenrechtlicher Formierung. Seine Vision eines ökumenischen Kirchenrechts scheitert an dem Wahrheitsanspruch der »Kirchen«. Severin J. Lederhilger ist Dombois gerecht geworden. Arturo Cattaneo stellt Person und Werk Klaus Mörsdorfs vor (515–525). Dessen dreibändiges Lehrbuch des Kirchenrechts kann durchaus als führend bezeichnet werden. Mörsdorfs besonderes Anliegen war die Herausarbeitung des theologischen Charakters der Kanonistik und das Insistieren auf deren ekklesiologischem Bezug. Seine Definition der Kanonistik als einer theologischen Disziplin mit juristischer Methode ist berühmt geworden. Daneben trat er unermüdlich für die Einheit der sacra potestas ein, was wiederholt ein heißes Ringen einschloss. An der Reform des CIC war er von Anfang an beteiligt. Sabrina Meckel-Pfannkuche würdigt die kanonistischen Leistungen von Papst Johannes Paul II. (526–535). Wojtyla war kein Kanonist, sondern Moraltheologe. Aber in seinem langen Pontifikat war er in hervorragender Weise kirchenrechtlich tätig. Er promulgierte die beiden Gesetzbücher für die katholische Kirche und erließ eine Konstitution über die römische Kurie. Für ihn waren die zwei Codices die Umsetzung der konziliaren Texte in das Recht. Später folgten die Apostolische Konstitution über die Vakanz des Apostolischen Stuhles und die Papstwahl sowie das neue Grundgesetz des Vatikanstaates. Die krisenhaften Erscheinungen der Kirche häuften sich während der Amtszeit des Papstes aus Polen. Sein sich verschlechternder Gesundheitszustand gestattete kein der Situation angemessenes Vorgehen, auch wenn sich Ansätze dazu zeigten, wie in dem Gesetz zur Behandlung gewisser Straftaten durch klerikale Personen. Matthäus Kaiser (536–545) trat nach Wilhelm Rees in die von seinem Lehrer Mörsdorf gewiesenen Bahnen ein. Das Recht der Ämter und Sakramente, namentlich der Ehe, beschäftigte ihn wiederholt, wobei er mitunter Lösungen vertrat, die von der herkömmlichen Rechtslage beträchtlich abwichen. Zum Sakramentenempfang von Personen, die nach der Scheidung wiederverheiratet sind, trug Kaiser Ansichten vor, die heute verbreitet sind. Für die Besetzung der Bischofsstühle entwickelte er ein Modell mit breiter Beteiligung des »Volkes Gottes«. Kaiser war häufig mit organisatorischen Fragen befasst und diente oft als Gutachter. Der Fachmann für orientalisches Kirchenrecht Ivan Žužek wird von Helmuth Pree vorgestellt (546–554). Er war an der Kodifikation des orientalischen Kirchenrechts (18 Jahre lang) beteiligt, und zwar an führender Stelle. Žužek war ein profunder Kenner der Quellen und der Geschichte des orientalischen Kirchenrechts. Seine Veröffentlichungen kreisen um zahlreiche Gegenstände, vor allem um die Ekklesiologie. Seine Lehrtätigkeit, seine Arbeit als Gutachter und sein organisatorisches Werk sind Zeugen seiner übergroßen Beanspruchung. Thomas Meckel zeichnet Lebensgang und Werk des langjährigen Würzburger Kanonisten Rudolf Weigand nach (555–566). Schon seine Dissertation über die Entwicklung der bedingten Eheschließung war eine großartige Leistung. Die Habilitationsschrift über die Naturrechtslehre der Dekretisten und Legisten zeigt, dass er in der Rechtsgeschichte das Thema seines Lebens gefunden hatte. In den folgenden Jahren galt seine unermüdliche Arbeitskraft den Glossen zum Dekret Gratians. Weitere Gegenstände seiner Forschungstätigkeit waren das Eherecht und das Prozessrecht. Editionen zu der Summe des Magisters Honorius und der Summa Lipsiensis schlossen sich an. Weigand bereicherte auch das geltende Recht mit zahlreichen Publikationen. Seine rechtsgeschichtlichen Forschungen dienten nicht zuletzt dem Verstehen des zeitgenössischen Rechts.

Wilhelm Rees stellt seinen Lehrer Joseph Listl vor (567–576). Er fällt in gewisser Hinsicht aus der Reihe, weil er jeweils an einer juristischen Fakultät promovierte und sich habilitierte. Diesem Werdegang entsprechen seine Publikationen. Das Verhältnis von Staat und Kirche war der lebenslange Hauptgegenstand seines wissenschaftlichen Strebens. Niemals vor ihm ist die Rechtsprechung zum Grundrecht der Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland so umfassend untersucht worden. Unerschüttert von zeitgenössischen Strömungen hielt er am ius publicum ecclesiasticum fest. In dem zweibändigen »Handbuch des Staatskirchenrechts«, das zwei Auflagen erlebte, wurde praktisch jede Seite dieser Materie von einem kompetenten Autor behandelt. Die Textausgabe der Konkordate und Kirchenverträge schuf ein wichtiges Instrument für die Praxis. Im »Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts« und im »Handbuch des katholischen Kirchenrechts« war er einer der drei Herausgeber. Listl war unermüdlicher Wissenschaftsorganisator. Viele Jahre war er Direktor des (kirchlichen) Instituts für Staatskir|chenrecht der Diözesen Deutschlands in Bonn. Er hat sich im Dienst an der Wissenschaft verzehrt. Ludger Müller erinnert an den schlesischen bzw. polnischen Kanonisten Remigius Sobański (577– 587). Seine Forschungen galten in erster Linie der Grundlegung des Kirchenrechts. Er schreibt Glaube, Hoffnung und Liebe neben dem religiösen einen rechtlichen Charakter zu. So wird ihm das Kirchenrecht zum Recht des Glaubens und der Liebe. »Die christliche Rechtsordnung ist eine Glaubens- und Liebesordnung.« »Die christliche Moral wird zum Gegenstand der kanonischen Norm.« Gegen diese Ansicht erhebt Müller schwerwiegende Bedenken. Sobański sucht den Zusammenhang von Glauben und Recht zu zeigen. Ihm zufolge erfassen die Gesetze den »gelebten Glauben«. Grundlage des Rechts der Kirche sei die Situation der Gläubigen in der Kirche; das göttliche Recht sei wahres und ursprüngliches Recht. Libero Gerosa würdigt aus der geistigen Nähe den Kanonisten (und späteren Bischof von Lugano) Eugenio Corecco (588–598). In der relativ kurzen Zeit seiner akademischen Lehrtätigkeit hat er durch Veröffentlichungen und weitgebreitete organisatorische Arbeit eine reiche Ernte eingebracht. Er sah im kirchlichen Gesetz eine Weisung des Glaubens, ordinatio fidei. Dies bedeutet keine Absage an die ratio, vielmehr deren Verbringung an die richtige Stelle. Den Begriff der sacra potestas verband er mit dem der communio. Aus dem Grad der kirchlichen communio ergibt sich die Reichweite der sacra potestas. Corecco, der in seiner Frühzeit gewagte Thesen vertreten hatte, wuchs im Laufe seines Lebens und zumal durch seine Verantwortung als Oberhirte einer Diözese immer mehr zu einem besorgten Wächter der Glaubenshinterlage heran, was man leider bei Gerosa nicht liest. Carl Gerold Fürst (599–608) ist vor allem durch seine Arbeiten zum Recht der Ostkirchen bekannt geworden. Als Konsultor der Kommission für die Neuordnung des orientalischen Kirchenrechts nahm er Einfluss auf dieses Werk der Gesetzgebung. Vielen kirchlichen und wissenschaftlichen Gremien lieh er seine Arbeitskraft und seine Kompetenz. Als Anwalt war er an zahlreichen Kirchengerichten approbiert. Klaus Zeller zeichnet ein treffendes Bild des renommierten Kanonisten Hubert Müller (607–618). Dieser war in Kanonistik und kirchlicher Rechtsgeschichte gründlich vorbereitet, als er 1977 Professor in Eichstätt wurde. 1980 wechselte er nach Bonn. Rufe nach Tübingen und Münster lehnte er ab. Seine Forschungen hatten einen weiten Rahmen. Sie kreisten um das kirchliche Verfassungsrecht, Vereinigungsrecht und Sakramentenrecht. Ein besonderes Anliegen war ihm die Beteiligung von Laien bei der Auswahl der Bischofskandidaten und bei der Wahl selbst. Die Unzuträglichkeiten derselben, die aus der Vergangenheit bekannt sind, haben ihn offensichtlich nicht beeindruckt. Bei seinen Anregungen und Vorschlägen scheint ihm der Blick auf die Wirklichkeit gelegentlich gefehlt zu haben. Müller war einer der Herausgeber des »Grundrisses« und des »Handbuches« des nachkonziliaren Kirchenrechts. Er war international vorzüglich vernetzt. Winfried Schulz erfährt eine gerechte Würdigung durch Elmar Güthoff (619–624). Der hochbegabte und polyglotte Priester hatte eine besonders gründliche und weitgebreitete Ausbildung auf verschiedenen Ebenen genossen. An Kenntnis des Vatikanischen Kirchenrechts kam ihm in Deutschland niemand gleich. Von ihm stammt die zweibändige Sammlung der Gesetze des Vatikanstaates. Er war Advokat der römischen Kurie und Richter beim Appellationsgerichtshof des Vatikanstaates. In zwei Seligsprechungsverfahren war er Postulator. Nur mit harter Disziplin und großer Arbeitskraft konnte er seine vielfältigen Aufgaben erfüllen. Schulz war ein Meister der Rhetorik und der Didaktik. Er genoss international hohes Ansehen. Der Band schließt mit einer Darstellung von Leben und Werk Ilona Riedel-Spangenbergers durch ihren Schüler Heribert Hallermann (625–635). Ihr wissenschaftliches Schaffen stand unter dem Leitbegriff der Sendung. Die Begründung des Kirchenrechts fand sie darin, ebenso die Weiterungen im Leben und Wirken der Kirche. Begabte Schüler führen ihren Ansatz weiter. Mit Begeisterung nahm sie Begriff und Sache der communio auf. Zahlreiche Veröffentlichungen galten dem Verhältnis von Staat und Kirche. Frau Riedel-Spangenberger besaß eine glückliche Hand bei der Erstellung von Gemeinschaftsprojekten. Es sei an das dreibändige »Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht« erinnert. Ihr ist auch die Reihe »Kirchen- und Staatskirchenrecht« zu verdanken. Sie war außerordentlich kommunikativ. An mehreren Gesellschaften und Verbänden war sie beteiligt. Mit Vorträgen und Gutachten erreichte sie einen weiten Kreis und repräsentative Personen. Zeitlebens betrieb sie mit großem Engagement ökumenische Aktivitäten.

Zum gesamten Werk sind vielleicht folgende Bemerkungen angebracht. Nach der Einleitung |will der Herausgeber einen Beitrag zur Kenntnis der Kirchenrechtsgeschichte bieten (9), korrigiert sich aber bald selbst, indem er auf die gesamte Kirchenrechtswissenschaft abstellt (10). Wie der Untertitel ausweist, ist dem Herausgeber an Leben, Werk und Wirken der vorgestellten Personen gelegen. Damit hat er sich angesichts der hohen Zahl der Porträts zu viel vorgenommen. Die häufig ausgiebig dargestellte Lebensgeschichte verknappt den Raum für die Beschreibung der kanonistischen Tätigkeit. Die Beschränkung auf das 18. und 19. Jahrhundert wäre dem Buch besser bekommen. Ohnehin sind zwei Drittel Kanonisten seit dem 19.Jahrhundert gewidmet. Die Abhandlungen beruhen regelmäßig auf der Benutzung der vorhandenen Veröffentlichungen. Davon unabhängige Forschungen sind die Ausnahme. Der kritische Sinn ist bei manchen der in dem Buch versammelten Autoren wenig ausgebildet. So geraten ihre Beiträge zu Panegyriken. Man wird nicht sagen können, dass das Buch einen nennenswerten Erkenntnisfortschritt bringt. Die Auswahl der vorgestellten Personen hätte auch anders getroffen werden können. Mancher wird den Namen Heinrich Flatten vermissen. Die schlesischen Gelehrten Hugo Laemmer, Franz Triebs und Franz Gescher hätten gewiss ein Gedenken verdient. Die Reihe der vorgestellten Dekretisten und Dekretalisten ist schmal geraten. Dass Namen wie Sicard von Cremona und Huguccio, beispielhaft genannt, fehlen, ist bedauerlich. Das Buch ist interkonfessionell angelegt, erfasst also katholische und evangelische Autoren und gelegentlich einen orthodoxen Autor. Ausländische Kanonisten werden nicht ausgespart. Aus den Viten, die in dem Buch dargestellt sind, ist zu ersehen, dass der Kanonist gut beraten ist, der sich neben der Theologie in der Geschichts- und in der Rechtswissenschaft kundig gemacht hat. Auf Seite 527 muss es Max Scheler (statt Seckler) heißen.

Notes

* Philipp Thull (Hg.), 60 Porträts aus dem Kirchenrecht. Leben und Werk bedeutender Kanonisten, Sankt Ottilien: EOS-Verlag 2017, 664 S., ISBN 978-3-8306-7824-3