Angestellte zwischen Rechts- und Sozialgeschichte: Forschungsfragen zur Entstehung einer Arbeitnehmerkategorie1

[Employees between Legal and Social History: Research Questions on the Emergence of a New Category of Workforce]

Thorsten Keiser Justus-Liebig-Universität-Gießen thorsten.keiser@recht.uni-giessen.de

I. Einleitung

Die Entwicklung der Kategorie der Angestellten fällt in eine Zeit, in der Arbeitsrecht in erster Linie berufsständisch geprägtes Statusrecht war. Die Welt der Arbeit erwies sich als ziemlich resistent gegen die naturrechtlichen Abstraktionen, die seit etwa 1800 zu einer Überwindung der ständischen Gliederung des Rechts geführt hatten. Sie implizierte eine Neuorganisation unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Pflichten von »Individuen«, die eben grundsätzlich nicht bestimmten Kategorien zugeordnet werden sollten. Statt Personen auf bestimmten sozialen Stufen zu erfassen, stellte man rechtsfähige Menschen in den Mittelpunkt. Im Bereich der Arbeit war eine Auffächerung in normativ geprägte Standesmodelle jedoch nach wie vor relevant. Auch in der zunehmend industrialisierten Privatrechtsgesellschaft des 19. Jahrhunderts gab es deutliche Grenzen zwischen Gesinde, Gesellen, gewerblichen Arbeitern oder Heimarbeiterinnen. Berufsständisch geprägtes Recht ist nicht denkbar ohne ein bestimmtes Selbstverständnis. Immer wieder wird beschrieben, wie Angestellte neue variable Identitäten in Abgrenzung zum Klassenbewusstsein der Arbeiter herausbildeten.2 »Angestellter« war in der ökonomisch-sozialwissenschaftlichen Terminologie ein Begriff, der sich erst nach dem des Arbeiters im allgemeinen Sprachgebrauch als Sammelbezeichnung für verschiedene, nicht körperliche Arbeiten etabliert hatte.3 Zum Rechtsbegriff wurde »Angestellter« zuerst im Versicherungsrecht, mit dem Gesetz über die Angestelltenversicherung vom 20.‍‍‍ Dezember 1911.4 Hierbei ging es zunächst um Ausgleich für eine als unbefriedigend empfundene Altersversorgung von Menschen, die Bürotätigkeiten ausübten.5 Klar war dabei aber auch, dass man eine eigene Regelung für den »Mittelstand« schaffen wollte, der sich damit von der Lohnarbeiterschaft abgrenzte.6

Das Eigentümliche daran ist, dass kategoriale Einteilung arbeitender Menschen immer auch einen sozialen Konsens darüber voraussetzt, wer zu welcher Gruppe gehört. Soziale Rollenbilder prägten die Arbeitswelt und ihr Recht viel stärker als heute. Ohne klare Rollenerwartungen an Dienstboten, die sich über Jahrhunderte hinweg stabilisiert hatten, wäre etwa kein Gesinderecht denkbar gewesen. Bei dieser Herausbildung von Standesvorstellungen konstituierten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberperspektiven die Basis für bestimmte soziale Rollenbilder. Nicht unerheblich ist dabei die Prägung durch informelle Normen. Insofern ist klar, dass bei der Erforschung des Rechts der Angestellten besondere Synergien zwischen Rechts- und Sozialgeschichte zu erwarten sind. In den folgenden Ausführungen soll daher der Versuch gemacht werden, neue Anregungen für einen weiteren Dialog zwischen Rechts- und Sozialgeschichte auf einem Feld zu entwickeln, das‍‍‍ von der Rechtsgeschichte weitgehend ignoriert wurde, während sozialgeschichtliche Literatur dazu zahlreich existiert.7 |

II. Angestellte zwischen Individualismus und kollektivem Selbstbewusstsein

Wenn man die Kategorie der Angestellten als rechthistorischen Forschungsgegenstand erfassen will, kann man sich über soziologische Literatur annähern. Angestellte waren Träger einer eigenen Kultur, bestimmter Konsummöglichkeiten, die man als typisch für die Moderne ansah.8 Aus Sicht der Rechtsgeschichte ist noch ein weiterer Umstand bemerkenswert: Die Kategorie der Angestellten im Sinne eines »Standes« erhielt gerade besondere Konturen in einer Zeit, in der auch die Idee berufsständischen Rechts zunehmend relativiert werden sollte. Walter Kaskel beschrieb in seinem Lehrbuch des Arbeitsrechts zu Beginn der Weimarer Republik, wie das Arbeitsrecht seiner Zeit von der Suche nach Vereinheitlichung im Sinne einer »einfachen Formel« geprägt war,9 muss dann aber konstatieren, dass das »neue Recht« letztlich ein »Sonderrecht bestimmter Berufsstände« geblieben sei und als »neues Arbeitsrecht« in ein »Arbeiterrecht und ein Angestelltenrecht« zerfalle.10

Auf anderen Ebenen erlebte der berufsständische Gedanke andererseits eine Renaissance. Manche wünschten sich als Reaktion auf die Massengesellschaft eine Rückbindung von Menschen an ihr soziales Umfeld, um ein Auseinanderdriften der durch den Individualismus angeblich atomisierten Gesellschaft zu verhindern. In Ansätzen einer organischen Neuformierung des Rechts sollten auch Stände wieder eine Rolle spielen. Mit ständischer Neugliederung wurde die Hoffnung verbunden, den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital überwinden zu können und gleichzeitig die als problematisch empfundene Entfernung von Staat und Gesellschaft. In der Weimarer Verfassung wurde der Reichswirtschaftsrat zum Anknüpfungspunkt solcher Überlegungen einer Etablierung des ständischen Gedankens in der Wirtschaft.11

Angestellte passen in dieses Schema nicht hinein. Sie entwickelten zwar ein Gruppenbewusstsein, dieses war aber keineswegs antiindividualistisch. Angestellte waren abhängig arbeitende Menschen, orientierten sich aber tendenziell an Selbständigen. Exemplarisch dafür kann ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1905 angeführt werden. Das Kaufmannsgericht München hatte über den Fall eines Handlungsgehilfen zu entscheiden, der die Bezahlung von Überstunden verlangte.12 Er behauptete, in einem Zeitraum von Januar bis März 180 ½ Überstunden geleistet zu haben und verlangte dafür einen Stundenlohn von 0,75 Pfennigen. Zur Begründung berief sich der Handlungsgehilfe auf eine in München bestehende »Handelsusance«, nach welcher für Überstunden Entschädigung gewährt werde.13 Das ist bemerkenswert, denn der Handelsbrauch ist bekanntlich eine Figur des Gewohnheitsrechts, das zwischen selbstständigen Kaufleuten entsteht. Der klagende Handlungsgehilfe war aber lediglich kleiner Angestellter in einem Warenhaus. Sozial stand er auf keiner sehr hohen Stufe.14 Womöglich hatte er keine Chance, jemals ein selbständiges Handelsgewerbe zu begründen, es sei denn, er stammte selbst aus einer Kaufmannsfamilie, was ihm die Aussicht auf späteren Eintritt in das elterliche Geschäft verschafft hätte. Das hinderte ihn aber nicht daran, vor Gericht mit dem Selbstverständnis eines Kaufmanns aufzutreten. Gerade diese Haltung wurde ihm jedoch im vorliegenden Fall zum Nachteil. Bei seiner Entscheidung stellte das Gericht auf ortsübliche Gepflogenheiten ab. Es kam zu dem Ergebnis, dass in München bei Überstunden in der Regel nur ein Abendessen oder stattdessen eine Entschädigung von einer Mark pro Tag zu beanspruchen sei.15 Das Gericht bezeichnete diese Gewohnheit nicht als Handelsbrauch, sondern als »Ortsgebrauch«. Bemerkenswert ist nicht dieser Umstand, sondern die weitere Argumentation: Der Handlungsgehilfe sei im Gegensatz zu den Gewerbegehilfen besser bezahlt, erhalte längeren Urlaub und habe eine mehrstündige Tischzeit.16 Auch sei er gegen Monatslohn angestellt, anders als‍‍‍ der Gewerbegehilfe, der mit Tagelohn bezahlt werde. Beim Tagelohn sei die Vergütung von Überstunden angemessen, bei Monatslohn aber nicht. Hier sieht man klar die berühmte »Kragenlinie«. Sie verläuft zwischen Gewerbe und Handel. Darüber hinaus habe der Kläger im vorliegenden Fall |bei der Neueinrichtung eines großen Warenhauses mitgearbeitet.17 So hätte ihm von vornherein klar sein müssen, dass mäßige Überschreitungen der gewöhnlichen Arbeitszeit unvermeidlich seien. Sie wurden hier auch von einem einfachen Angestellten verlangt. Der privilegierte Status, welchen der Angestellte reklamierte, auf den er vielleicht auch stolz war, führte letztlich zu einer Schlechterstellung in Bezug auf die Überstunden. Man erwartete von ihm persönliches Engagement, dass man beim Lohnarbeiter eben nicht erwartete.

Individualismus und die prinzipielle Orientierung an höheren Ebenen der sozialen Hierarchie bedeutete freilich nicht, dass Angestellte sich nicht in Verbänden zusammenschlossen. Der Deutsche Handlungsgehilfenverband war die bekannteste Organisation dieser Art.18 Solche Verbände hatten es sich aber gerade zur Aufgabe gemacht, die Sonderstellung des Angestelltenverhältnisses zu verteidigen. Angestellte wollten gerade nicht in der Masse der arbeitenden Menschen aufgehen, sondern ihre eigenen Spielräume bewahren. Sie waren somit Individualisten in anti-individualistischer Zeit.

III. Sozialwissenschaft und Sozialgeschichte

Bei der sozialgeschichtlichen Annäherung kann man in zwei Literaturgattungen unterscheiden. Zum einen ist die zeitgenössische Sozialwissenschaft relevant, die sich den Angestellten schon seit dem späteren 19. Jahrhundert widmete.19 Diese Richtung war eindeutig interdisziplinär. Ökonomische, juristische und soziologische Argumentationsmuster gingen dabei oft Hand in Hand. Auf der anderen Seite setzte in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Forschungstätigkeit auf Seiten der Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zu den Angestellten ein.

1. Zeitgenössische Betrachtungen

a) Sozialreform und Arbeitsrecht vor dem Ersten Weltkrieg

Unter zeitgenössischer Sozialwissenschaft kann man empirische Untersuchungen eines bestimmten Wirtschaftsbereichs fassen, die oft durch Umfragen beteiligter Akteure durchgeführt wurden. Solche Studien sind aus dem Umfeld des Vereins für Socialpolitik bekannt. Sie dokumentieren den Erfahrungsaustausch von Wissenschaft und Praxis. Im Bereich der Angestellten entfaltete vor allem die 1901 gegründete Gesellschaft für soziale Reform solche Aktivitäten.20 Anders als beim von sog. »Kathedersozialisten« getragenen Verein für Socialpolitik waren hier nicht Wissenschaftler federführend, sondern eher bürgerliche, den »gewerblichen Frieden« betonende Sozialpolitiker, wie der Freiherr von Berlepsch. Die vierte Generalversammlung der Gesellschaft für soziale Reform widmete sich 1909 bei einem Kongress in Frankfurt am Main dem »Recht der Privatbeamten« und deren Pensionsversicherung.21 Bei der Eröffnung von Bürgermeister Franz Adickes und dem Freiherrn von Berlepsch wurden zunächst die anwesenden Frauen begrüßt, die zum ersten Mal an den Verhandlungen der Gesellschaft teilnehmen durften. Zuvor waren sie in abgegrenzte Räume verwiesen worden, wo sie zwar »zuhören, aber nicht mitsprechen« durften.22 Hier wird schon ein erstes charakteristisches Merkmal der Beobachtungen des Angestelltenverhältnisses deutlich: Es wurden auch weibliche Erwerbsbiografien dabei berücksichtigt. Zuvor war das in dieser Form nur bei den Heimarbeiterinnen der Fall gewesen, in gewissem Maße auch beim Gesinderecht, das männliche und weibliche Rollenbilder normiert hatte.

Mit der Zunahme weiblicher Arbeitskräfte im Bereich der Angestelltenverhältnisse entstanden neue Möglichkeiten zum Vergleich zwischen der |Entlohnung männlicher und weiblicher Arbeitskräfte. Zwar gab es auch im Bereich der Angestellten unterschiedliche Rollenbilder männlicher und weiblicher Arbeit, jedoch zahlreiche von beiden Geschlechtern wahrgenommene Tätigkeitsbereiche, was die Möglichkeit zum direkten Gehaltsvergleich eröffnete, mit dem Ergebnis, dass die weiblichen Arbeitskräfte oft weniger verdienten.23 Bei Tätigkeiten der Angestellten konnte man die ungleiche Bezahlung nicht mehr mit einem weniger an Arbeitseffizienz aufgrund geringerer körperlicher Leistungskraft rechtfertigen, wie das bei anderen Bereichen über Jahrhunderte hinweg getan wurde.

Ein Anliegen der Gesellschaft für soziale Reform war es, den Arbeiterschutz auszuweiten und sich dabei nicht mehr nur auf die »lohnarbeitenden Handarbeiter« zu beschränken.24 Wie die Arbeiter seien auch die Angestellten Hilfskräfte der Industrie, und wie sie seien sie auch erst mit der Großindustrie entstanden. Man konstatierte das stetige Anwachsen einer Gruppe abhängig Beschäftigter, die, anders als die Arbeiter, bisher von Rechtswissenschaft und Sozialpolitik noch nicht genügend beachtet worden seien.25 Eine umfangreiche Diskussion zu arbeitsrechtlichen Fragen der Angestellten mit vielen Beiträgen von Praktikern sollte diese Lücke füllen. Sie wurde eingeleitet von dem Arbeitsrechtler und Sozialpolitiker Heinz Potthoff, der damals liberaler Reichstagsabgeordneter war.26 Potthoff arbeitete die sozialen und rechtlichen Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten heraus und stellte fest, dass für die Arbeiterschaft der Kampf um mehr Lohn zentral gewesen sei, während für die Angestellten die Sicherheit des Arbeitsverhältnisses in Form von Kündigungsschutz im Vordergrund stand.27 Der Arbeiter lege »auf die Freiheit im Arbeitsvertrage das Hauptgewicht«, während dem Angestellten eher an der Sicherheit des Arbeitsverhältnisses gelegen sei.28 Hier ist ein plausibler Unterschied herausgearbeitet, der seine Ursache im überlieferten Rollenverständnis der unterschiedlichen Arbeitnehmerkategorien hat. Die gewerblichen Arbeiter des 19. Jahrhunderts sind erwachsen aus den‍‍‍ Gesellen des alten Handwerks und versuchten einen guten Teil der zünftigen Traditionen in die Fabrik hinüber zu retten. Frei sollte der Geselle sein, seinen Meister nach Möglichkeit selbst auszuwählen und die Arbeitsstelle schnell wechseln zu‍‍‍ dürfen, wenn es günstig oder notwendig erschien. Gesellen hatten sich gegen die Fesselung an‍‍‍ das Arbeitsverhältnis durch zu harte Vertragsbruchvorschriften gewendet.29 Man wollte keine Sanktionen bei Austritt aus dem Arbeitsverhältnis. Genau diese Forderung ließ sich dann später in die‍‍‍ Forderung nach Streikrecht umwandeln, denn Streik war ursprünglich aus Sicht der Gesetzgebung nichts anderes als Kontraktbruch, also Nichtleistung.30 Flexibilität und Dynamik, sowie die Möglichkeit zu kollektiven Protesten, waren ein Anliegen der Gesellen und später der Industriearbeiter.

Für die Angestellten wird auch von der späteren sozialhistorischen Literatur festgestellt, dass der Kündigungsschutz einer ihrer großen Vorteile gewesen sei.31 Dabei ging es aber zunächst noch nicht um materiellen Kündigungsschutz, nach heutigem Verständnis, sondern lediglich um »Zeitschutz«.32 Mehr Kündigungsschutz bedeutete längere Kündigungsfristen bei der ordentlichen Kündigung und womöglich eine für den Arbeitnehmer günstige Handhabung der Voraussetzungen einer außerordentlichen Kündigung.

Insgesamt deutet sich hier schon ein großer Unterschied an, der das Verständnis des Angestelltenrechts im 20. Jahrhundert generell prägen sollte. Streikrecht war darin keine zentrale rechtspolitische Forderung. Man dachte eher vom Individuum her, als vom Kollektiv. Deutlich wird das auch in einer Sammlung von Berichten aus der Praxis zum »Dienstvertrag der Privatangestellten« von 1908. Dort werden u.a. die »Wünsche« verschiedener Gruppen von Angestellten zusammen|gefasst. Eine Erweiterung des Koalitionsrechts kommt vor,33 aber eher als ein Wunsch unter vielen, wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder die Regelung von Ruhepausen.34 Manche der rechtspolitischen Themen spiegelten auch den Wunsch nach Anerkennung individueller Leistungen, wie das oft diskutierte Thema des Erfinderschutzes bei den technischen Angestellten,35 oder individuelle Statusfragen, wie die Versuche der Verwaltungsangestellten auf Gutshöfen, sog. »Güterbeamten«, sich vom Gesinderecht abzugrenzen.36

Heinz Potthoff schien die marginale Rolle des Streiks bei seinem Referat auf der Konferenz der Gesellschaft für Soziale Reform von 1909 als selbstverständliche Voraussetzung von Angestelltenrecht ebenfalls zu Grunde zu legen. Die Forderung nach Lohngerechtigkeit für Angestellte wurde bei ihm vornehmlich als Problem des § 138 BGB diskutiert,37 nicht als Frage kollektiven Arbeitsrechts.38 Potthoff begrüßte, dass das Kaufmannsgericht Berlin erste Schritte gemacht habe, über die Sittenwidrigkeitsklausel für gerechtere Lohnverhältnisse zu sorgen. Wenn eine Ladenangestellte oder ein Familienvater sich weit unter Wert anstellen ließen, geschehe das wohl aus einer Notlage heraus, was die Rechtsprechung berücksichtigen müsse.39

Ein weiteres typisches Problem des Angestelltenrechts sah man im nachvertraglichen Konkurrenzverbot.40 Blickt man in die Praxis, zeigt sich, dass Streitigkeiten über die Wirksamkeit von Konkurrenzklauseln vor dem Ersten Weltkrieg einen der Schwerpunkte der Tätigkeit der Kaufmannsgerichte ausmachten.41 Autoren wie Potthoff plädierten dafür, die Konkurrenzklausel zumindest stark zu beschränken. Abzulehnen sei die Behinderung des Fortkommens der Angestellten »im rein privaten Vermögensinteresse des früheren Arbeitgebers«.42 Abhilfe sollten Rechtsprechung und Gesetzgebung schaffen.

Letztlich sah man sich aber immer mit demselben Grundproblem konfrontiert: Die wirksame Umsetzung der Forderungen eines sozialeren Angestelltenrechts war nicht möglich ohne eine rechtssichere Statuszuweisung. Somit mündete die von den empirischen Untersuchungen konstatierte Differenzierung verschiedener Verhältnisse stets in die rechtspolitische Forderung einer konsequenten Rechtsvereinheitlichung.43

Diese Forderung wurde auch von Hugo Sinzheimer geteilt und mit praktischen Beispielen untermauert.44 Auch Sinzheimer sah es als Nachteil an, dass etwa der Handlungsgehilfe sein Recht »zunächst durch das Handlungsgehilfenrecht des Handelsgesetzbuchs, desweiteren durch die Vorschriften der Reichsgewerbeordnung und des Bürgerlichen Gesetzbuchs« empfange.45 Wer bei einem Kaufmann die Bücher führe, unterliege dem Handlungsgehilfenrecht des HGB. Wer aber dieselbe Arbeit auf einem landwirtschaftlichen Gut verrichte, bei einem Rechtsanwalt oder einem Berufsverband, verliere den Handlungsgehilfenstatus und unterliege lediglich dem (weniger spezifischen) Recht des BGB, da kein Handelsgewerbe vorliege.46 Wirft man einen Blick auf die Rechtsprechung, zeigt sich die praktische Tragweite dieser Statuszuordnungsprobleme. Unzählige Urteile finden sich zur Frage, wer überhaupt Handlungsgehilfe sei. Man begegnet Handlangern, Berichterstattern, Stenographen, Kolporteuren, Schaufensterdekorateuren, Milchkutschern, Platzanweisern und Detektiven etc., die alle Handlungsgehilfen sein wollen.47 Die Kritik an solchen Abgrenzungsproblemen erfolgte jedoch bei Sinzheimer mit anderen Akzenten als bei Potthoff. Sinzheimer forderte nachdrücklich – im Gegensatz zu |Potthoff – Arbeiterausschüsse, also Mitbestimmung, zur Sicherung der Freiheit des arbeitenden Menschen.48 Bei den Angestellten sah auch Sinzheimer die große Gefahr für die Freiheit des Arbeitsvertrags in den Konkurrenzklauseln. Während diese nach Ansicht von Potthoff jedoch durch zwingendes Vertragsrecht einzudämmen waren, bemerkte Sinzheimer, dass der Gesetzgeber nicht der alleinige und vielleicht nicht einmal der zentrale Akteur zur Vereinheitlichung des Arbeitsrechts sein könne.49 Wie es seiner zentralen Argumentationslinie aus dieser Zeit entsprach, forderte er auch hier eine Rechtsschöpfung durch »die gesellschaftlichen Kräfte«, denen man objektive Rechtswirkung zuerkennen müsse.50 Entscheidend ist dann natürlich der Tarifvertrag. Dezentralisierung und Vereinheitlichung seien eben kein Widerspruch, sondern sich gegenseitig ergänzende Elemente. Bei Potthoffs Ansatz, der sich auf Gesetzgebung und Rechtsprechung konzentriert, spielt der Tarifvertrag hingegen eine geringere Rolle.

Wie man insgesamt beobachten kann, erhielt die Forderung nach Vereinheitlichung des Arbeitsrechts wichtige Impulse von einer nach 1900 einsetzenden Debatte um das Angestelltenrecht.51 Soziale Forderungen wurden auch für die Angestellten immer deutlicher formuliert, mit eher invidualvertraglichen (Potthoff) oder kollektiven Tendenzen (Sinzheimer). Auch im Kontext eines einheitlichen Arbeitsrechts sollte Angestelltenrecht jedoch mit spezifischen Konturen erkennbar bleiben.52 Die berühmte »Kragenlinie«53 erwies sich als hartnäckig, auch im Bereich der Rechtswissenschaft.

b) Siegfried Kracauers »Angestellte« – eine Analyse aus der Weimarer Zeit

Die berühmteste Analyse der Angestellten überhaupt ist das Werk von Siegfried Kracauer, das 1929 zum ersten Mal in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht wurde.54 Es faszinierte und fasziniert als Buch über die Großstadt, die Moderne, die Kultur der Massen, das Lebensgefühl einer neuen Mittelschicht, die Suche nach Identität, Selbstverwirklichung, Radikalität, Konformismus und Rebellion. Davon abgesehen wurden darin aber auch die großen Themen der soziologischen Studien über die Angestellten bereits vorgezeichnet, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ausführlich wieder aufgegriffen und eingehend diskutiert worden sind.55 Kracauer beschrieb schon die politische Einstellung der Angestellten und ihrer Interessenvertretungen. Den Gesamtverband deutscher Angestelltengewerkschaften ordnete Kracauer dem christlich nationalen Flügel der Gewerkschaften zu und beschrieb ihn als Gegner des Sozialismus, der darüber hinaus mit antisemitischen Einstellungen behaftet sei.56 Zu erforschen wäre, wo Spuren politischer Einstellungen von Angestellten sich in der Rechtspraxis auswirkten. In einem Urteil des Kaufmannsgerichts Mannheim von 1907 ging es beispielsweise um die Kündigung eines Angestellten eines »jüdischen Prinzipals«, der Kunden seines Arbeitgebers antisemitisch beleidigt und sich darauf berufen hatte, dass er als Angehöriger des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbands Juden nicht bediene. Das Gericht sah die Kündigung als rechtmäßig an, da der Prinzipal nicht dulden müsse, dass ein Angestellter sich antisemitischer Tendenzen rühme.57

Hier war schon der soziologisch-analytische Zusammenhang gekennzeichnet, der gerade nach 1960 für intensive Diskussionen sorgte, nämlich die Frage nach der politischen Tendenz der Angestellten, denen man gemeinhin Gewerkschaftsferne, Staatsnähe und teilweise Neigungen zu Positionen aus dem rechten politischen Spektrum zuschrieb.58 Wie Walter Benjamin in einer Rezension zu Kracauers »Angestellten« ausführte, charakterisiert dieser die Ideologie der Angestellten als eine »einzigartige Überblendung der gegebenen ökonomischen Wirklichkeit, die der des Proletariats sehr nah kommt, durch Erinnerungs- und Wunschbilder aus dem Bürgertum«.59 Oft bestä|tigt ist die während der Weimarer Republik schon mehrfach geäußerte, von Kracauer aufgenommene These, dass die Angestellten eine neue »industrielle Reservearmee«60 bildeten, welche einen unerfüllbaren Traum vom Mittelstand träumte. Geistig und emotional seien sie somit heimatlos, da sie weder in der Welt des klassenbewussten Proletariats, noch der des Bürgertums ihren Platz finden konnten.61 Auch wenn die Ebene der politischen Einstellung bei Kracauer nur en passant erwähnt wird, leuchtet unmittelbar ein, dass diese Akzentuierung der Heimatlosigkeit mit Verführbarkeit zu politischen Extremen assoziiert werden kann.

2. Rechtshistorische Beobachtungen der Sozialgeschichte nach 1945

In der Sozialgeschichtsschreibung der 1970er Jahre wurde die Frage nach den politischen Tendenzen der Angestellten nachdrücklicher gestellt. Angestelltenforschung wurde immer expliziter zur Ursachenforschung für das Abgleiten einer Personengruppe in die Nähe zur Diktatur, das etwa in der Studie von Jürgen Kocka über Angestellte zwischen Faschismus und Demokratie erörtert wurde.62 Bemerkenswert ist das Werk auch aus rechtshistorischer Perspektive. Es gibt Aufschluss über eine Wechselwirkung der schon in den 1930er Jahren viel beschriebenen, kulturell herausgebildeten Angestelltenmentalität, oder des Angestelltenbewusstseins, und bestimmten Rechtsfiguren oder normativen Grundeigenschaften von Angestelltenverhältnissen. Begibt man sich auf diese Beobachtungsebene, erlangt man Erkenntnisse über das Zusammenspiel von Sein und Sollen, über die Verbindung soziologisch feststellbarer Faktoren und gesetzgeberischer oder richterlicher Gestaltung von Recht.

Eine sozialhistorische Beobachtung bezieht sich auf den Unterschied zwischen Lohn und Gehalt.63 Gehalt sei feststehend, nicht markt- und leistungsabhängig.64 Das Gehalt sei somit keinen Schwankungen unterworfen. Das mache die Leistung des Angestellten weniger messbar, weniger kontrollierbar. Somit mussten Angestellte eine Art Vertrauensvorschuss genießen, da sie eine eher abstrakte Gegenleistung erhielten, die zunächst einmal gerechtfertigt werden musste. Das alles rückt das Verhältnis der Angestellten eher in die Nähe des freien Dienstvertrages als in die Nähe des Lohnarbeitsverhältnisses. Mentalitäten prägen Statusvorstellungen und diese prägen Vertragsinhalte, die sich wiederum gewohnheitsrechtlich verdichten. Die Idee des Vertrauensvorsprungs, die in der Terminologie des Gehalts zum Ausdruck kommen soll, spiegelt sich auch in der ehemals versicherungsrechtlich relevanten Bezeichnung der Angestellten als »Privatbeamte«. Diese mochte impliziert haben, dass Angestellte sich als loyale Verbündete ihres Arbeitgebers fühlen wollten, die sich – gleich Staatsbediensteten – in Pflichtbindungen und Treueverhältnissen sahen.65 In der Praxis dürfte sich der Unterschied zwischen Leistungslohn und Gehalt freilich relativiert haben, da die besondere Leistung von Angestellten oft in Form besonderer Provisionen honoriert wurde. Jedenfalls musste, was unter dem Gehalt der Angestellten zu verstehen war, im Laufe der Zeit richterrechtlich konkretisiert werden. 1904 hatte das Kammergericht Berlin etwa zu entscheiden, ob eine Umsatzprovision, sowie Kost und Wohnung zum Gehalt gezählt werden sollten.66 Schon vom Sprachgebrauch her sei Gehalt etwas anderes als eine Provision, meine das Gericht, aber auch zu unterscheiden vom Unterhalt, weshalb Naturalbezüge und Gehalt zu trennen seien. Kost und Logis durften im vorliegenden Fall also nicht in das‍‍‍ Bargehalt mit einberechnet werden.

Ansonsten weist auch das Verständnis von Leistung und Gegenleistung bereits vor dem Ersten Weltkrieg Parallelen zum heute geltenden Arbeitsrecht auf. Das Kaufmannsgericht Hamburg hatte etwa 1908 festgestellt, dass Gratifikationen eines Prinzipals an den Handlungsgehilfen keine unverbindlichen Leistungen waren, sondern, sofern sie sich wiederholten oder zugesichert wurden, |als‍‍‍ Vertragsbestandteil aufgefasst werden mussten, und damit zum Teil des Gehalts wurden.67

Weiterhin erwähnt auch die neuere sozialgeschichtliche Literatur die besondere Relevanz von Kündigungsschutz – ein Aspekt, der schon in zeitgenössischer Perspektive hervorgehoben wurde. Kündigungsschutz sei eine typische Forderung der auf Sicherheit bedachten Angestellten gewesen.68 Während des Ersten Weltkriegs hätten die Arbeiter dann auch immer mehr Kündigungsschutz verlangt, sich also rechtspolitisch in eine Richtung bewegt, die zuvor typisch für die Angestellten gewesen sei.69 Dass die Angestellten in gewisser Weise zu den Vorreitern bei den Forderungen nach Kündigungsschutz gehörten, erscheint plausibel, ebenso wie die Differenzierung der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg. 1861 wurden im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch spezielle Schutzbestimmungen für Handlungsgehilfen eingeführt. Diese betrafen die – freilich nicht abschließende – Normierung konkreter Gründe für eine außerordentliche Kündigung (§ 71 und § 72 HGB) seitens und gegenüber dem Handlungsgehilfen. Auch wenn erhebliche Auslegungsspielräume verblieben, war ein gewisser Schutz gewährleistet.

Außerordentliche Kündigungsgründe wurden in dieser Zeit auch in die vielen Gesindeordnungen der deutschen Bundesstaaten aufgenommen.70 Das damit erreichte Maß an Rechtssicherheit und Willkürverhinderung war also keineswegs ein Privileg der Handlungsgehilfen, die übrigens im 19. Jahrhundert auch nicht selten im Haushalt ihres Dienstherren lebten, weshalb das Handelsgesetzbuch auch Vorschriften zum Schutz ihres Status in dieser Situation vorgesehen hatte (§ 62 ADHGB). Beim Schutz von »Sittlichkeit und religiösen Bedürfnissen« arbeitender Menschen zeigt sich also tatsächlich eine Parallele zwischen Gesinde und Handlungsgehilfen.

Was die ordentliche Kündigung anging, ergaben sich bei den Handlungsgehilfen schon früh Unterschiede zu den gewerblichen Arbeitskräften. Das Handlungsgehilfenverhältnis konnte zum Schluss eines Kalendervierteljahres unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs Wochen gekündigt werden (§ 66 HGB). Bei den Fabrikarbeitern ging man von einer 14-tägigen Kündigungsfrist für beide Teile aus, die vertraglich abbedungen werden konnte. Solche Regelungen fanden sich bereits in den Zunftsordnungen des alten Handwerks, von dort gelangten sie dann in die preußische Gewerbeordnung von 1845 und schließlich in die Reichsgewerbeordnung.71 Erneut zeigen sich hier konkrete rechtliche Auswirkungen der unterschiedlichen Prägungen der Berufsstände. Das Fabrikarbeitsverhältnis erwuchs teilweise aus Normbeständen alten Handwerksrechts. Beim Handlungsgehilfenrecht, das Grundlage für viele Angestellte war, knüpfte man nicht an diese Basis an und gelangte zu anderen Lösungen. Dieses freilich marginale Beispiel verdeutlicht, dass die vieldiskutierte »Kragenlinie« ihre Ursachen auch in weiter zurückreichenden Unterschieden der Rechtsquellenbasis verschiedener Statusbereiche hat.72

In der Weimarer Republik kämpften die Angestellten dann weiter um Kündigungsschutz. Ein Schwerpunkt der Debatte war hier der Kündigungsschutz für sogenannte ältere Angestellte. Über deren Probleme hatte bereits Siegfried Kracauer berichtet.73 Sie werden bei ihm als die ersten Opfer der Rationalisierung des Angestelltenverhältnisses dargestellt. Auf den ersten Blick würde man die Verdrängung älterer Menschen aus dem Arbeitsmarkt aber eher bei Berufen vermuten, wo ein Verlust körperlicher Leistungsfähigkeit eine Einschränkung der Arbeitsproduktivität bewirkt. Gerade die Angestellten müssten die Chance gehabt haben, bis ins höhere Alter auf gleichem Niveau zu arbeiten. »Behaglich altern« ließ es sich aber laut Kracauer nur in den höheren Ebenen des‍‍‍ Angestelltendaseins, nämlich dort, wo es den Betreffenden gelungen war, sich für den Fall der Kündigung eine Abfindung auszubedingen.74 Heute steht man vor der Herausforderung der |Digitalisierung und sieht ähnliche Entwicklungen und Gefährdungen. Mitte der Zwanzigerjahre waren es verschiedene Maßnahmen, welche unter Rationalisierung verstanden werden konnten, sicherlich die Mechanisierung der Büroarbeit, aber vor allem die Zusammenlegung von Büros zur Kostenersparnis. Motiv für die Rationalisierung waren der Druck der Wirtschaftskrise, aber auch die Übernahme technischer Neuerungen. Weil dabei zunehmend ältere Angestellte das Nachsehen hatten, erreichte man eine Verbesserung des Kündigungsschutzes (wiederum in zeitlicher Hinsicht) durch ein Gesetz von 1926,75 demzufolge die Kündigungsfristen nach Betriebszugehörigkeit gestaffelt von drei bis zu sechs Monaten betragen konnten.

Diese Beispiele zeigen erneut, dass sich die Dynamik im Recht des Angestelltenverhältnisses auf das Individualarbeitsrecht konzentrierte. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde das mit dem berühmt-berüchtigten Angestelltenbewusstsein begründet. Dieses war natürlich ein Stein des Anstoßes für alle, denen an einer Bündelung von Arbeitnehmerinteressen im Rahmen einer einheitlichen Interessenorganisation gelegen war. Tatsächlich sollte auch die Sozialversicherung für Angestellte aus dem Jahr 1911 dazu beitragen, die Angestellten vor den sog. »Sirenentönen der Sozialdemokratie« abzuschirmen.76 Selten war es aber gelungen, die Angestellten zur Aufgabe ihres besonderen berufsständischen Selbstverständnisses zu bewegen. Die Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten war schließlich auch im Recht der Bundesrepublik Deutschland in § 5 des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 bekräftigt worden. Zwar spielte sie eine geringere Rolle als in der‍‍‍ Weimarer Republik, da es einen Gesamtbetriebsrat gab, in dem Vertreter beider Gruppen zusammenkamen. Dennoch wurde die Differenzierung nach der »Kragenlinie« beibehalten, obwohl man sie bereits 1952 als »soziologisch überholt« betrachtete.77

IV. Fazit

Dieser Überblick verdeutlicht, dass die Rechtsgeschichte an viele Felder der Sozialgeschichte anknüpfen kann. Zahlreiche Einzelfragen gewinnen in der Zusammenschau von rechts- und sozialhistorischen Anknüpfungspunkten an Profil, so etwa die Pionierrolle des Angestelltenrechts beim Kündigungsschutz oder einzelne Rechtsentwicklungen, die man in der juristischen Literatur und in der Praxis vor den Kaufmanns- und Gewerbegerichten beobachten kann. Relevant ist aber auch, wie sich innerhalb des Angestelltenrechts verschiedene Bereiche herausbilden. Rechtliche Sonderprobleme weiblicher Angestellter sind eine weitere Beobachtungskategorie, aber natürlich auch das (hier nicht erwähnte) Recht der leitenden Angestellten, sowie die Verknüpfungen zwischen Arbeits- und Sozialversicherungsrecht. Ein weiteres wichtiges Praxisfeld war die Frage von Gehaltsgestaltung und Gratifikationen.78 Womöglich ersetzten diese funktional zum Teil den im Gewerbe üblichen Leistungslohn. Anhand von Gerichtsurteilen lässt sich beobachten, dass sie aber immer mehr zum normalen Gehaltsbestandteil wurden, der, wenn er einmal zugesichert war, auch nicht mehr modifiziert wurde. Ein weiterer, näher zu untersuchender Schwerpunkt wäre das Wettbewerbsverbot, bei dem schon vor dem 2. Weltkrieg sich zahlreiche Urteile auf die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Konkurrenzklausel bezogen.

Insgesamt wird man bei solchen Untersuchungen auf juristischer Ebene beobachten können, wie und warum sich eine soziale Gruppe als »Mittelstand« formieren konnte, welche Widerstände dabei überwunden wurden und welche Konsequenzen das für die Rechts- und Gesellschaftsordnung insgesamt hatte. Wie aktuell diese Frage heute ist, zeigt die Debatte um die kultursoziologische Beobachtung einer »Gesellschaft der Singularitäten«, in der die Herausbildung einer neuen Mittelklasse anhand von Kriterien wie Kreativität und Vertrautheit mit der digitalen Welt beschrieben wird.79 |Auch in der neuen Mittelklasse entsteht ein neues Bewusstsein, das – wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Angestelltenbewusstsein – neue Rechts- und Vertragsformen prägen kann. Somit führt das Thema der Angestellten auch zu juristisch‍‍‍ soziologischen Vergleichsebenen zwischen der Gegenwart und der industrialisierten Gesellschaft der Zwischenkriegszeit. Ein Grundkonflikt wird dabei nach wie vor zu beobachten sein, nämlich das Spannungsverhältnis von Streben nach Individualität und der im Arbeitsrecht der Moderne angelegten Forderung nach kollektiver Interessenartikulation.

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Reckwitz, Andreas (2019), Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21050-2_2 (zuletzt aufgerufen am 13.09.2022)

Schulz, Günther (2000), Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert, München

Seelig, Marie Louise (2008), Heinz Potthoff (1875–1945) – Arbeitsrecht als volkswirtschaftliches und sozialpolitisches Gestaltungsinstrument, Berlin

Sinzheimer, Hugo (1914), Über den Grundgedanken und die Möglichkeit eines einheitlichen Arbeitsrechts in Deutschland, Berlin

Sitzler, Friedrich, Heinz Goldschmidt (1930), Der Kündigungsschutz für Angestellte, Berlin

Vorstand der Gesellschaft für Soziale Reform (Hg.) (1909), Das Recht der Privatbeamten und die Pensionsversicherung der Privatbeamten, Jena

Notes

1 Einführungsvortrag, gehalten auf der‍‍‍ Jahrestagung des Arbeitskreises Arbeitsrechtsgeschichte (Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte/Hugo-Sinzheimer-Institut Frankfurt am Main) »Die Rechtsgeschichte des Angestelltenverhältnisses« am 6. Dezember 2019. Der Vortragsstil wurde im Wesentlichen beibehalten.

2 Siehe unten III. 1. a) und b).

3 Glootz (1999) 26f.

4 Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20. Dezember 1911, RGBl. I, 989–1061.

5 Zum Versicherungsstatus der Angestellten vor 1911 Apitz (1967) 69ff.

6 Zu den Motiven etwa zeitgenössisch Manes/Königsberger (1912) 9f.

7 Bibliographisch Schulz (2000). Über den Ansatz, Gerichtsurteile als Quelle für die sozialen Verhältnisse der Angestellten zu erschließen, vgl. Haupt (2018).

8 Vgl. unten III. 1. b).

9 Zur Vereinheitlichung in Bezug auf das Angestelltenrecht siehe unten III.‍‍‍ 1. a).

10 Kaskel (1921) 26f.

11 Zeitgenössisch Hauschild (1926).

12 Urteil des KG-München vom 19. Juni 1905, in: Baum (Hg.) (1912) 442f.

13 Baum (Hg.) (1912).

14 Zu Lohnmodalitäten und sozialer Stellung der Handlungsgehilfen um 1900: Pierenkemper (1987) 128ff.

15 Pierenkemper (1987) 443.

16 Baum (Hg.) (1912) 442f.

17 Baum (Hg.) (1912) 442f.

18 Dazu Martin Otto in diesem Rg-Fokus: Otto (2022).

19 Überblick bei Mangold (1981) 13ff.

20 Zur Gesellschaft für Soziale Reform Bruch (2005) 248ff.

21 Die Ergebnisse sind dokumentiert in: Vorstand der Gesellschaft für Soziale Reform (Hg.) (1909). Ein Jahr zuvor waren bereits zwei Bände mit dem Titel »Der Dienstvertrag der Privatangestellten« erschienen: Baum et al. (1908).

22 Vorstand der Gesellschaft für Soziale Reform (Hg.) (1909) 2441.

23 In Bezug auf Handlungsgehilfen Pierenkemper (1987) 132f. m.w.N. auch zum Problemkreis der Lohnkonkurrenz zwischen Männern und Frauen.

24 Pierenkemper (1987) 2442.

25 Pierenkemper (1987).

26 Biographisch Seelig (2008), insbes. 160ff.

27 Vorstand der Gesellschaft für Soziale Reform (Hg.) (1909) 2460.

28 Potthoff (1908).

29 Insgesamt Keiser (2013) 329ff.

30 Keiser (2013) 284ff.

31 Siehe unten III. 2.

32 Als Beispiel siehe einen Bericht über eine Forderung von »Mindestkündigungsfristen« bei technischen Angestellten in: Baum et al. (1908) Bd. 1, 100.

33 Etwa bei den technischen Angestellten, siehe Baum et al. (1908) Bd. 1, 98.

34 Siehe dazu die Zusammenstellung der Forderungen von technischen Angestellten in gewerblichen Betrieben in: Baum et al. (1908) Bd. 2, 18.

35 Siehe Baum et al. (1908) Bd. 2, 49ff.

36 Baum et al. (1908) Bd. 1, 111ff.

37 Zu entsprechenden Entscheidungen aus der Gewerbegerichtsbarkeit demnächst ausführlich Allstadt.

38 Vorstand der Gesellschaft für Soziale Reform (Hg.) (1909) 2463.

39 Vorstand der Gesellschaft für Soziale Reform (Hg.) (1909).

40 Umfassend dazu Baum et al. (1908) Bd. 1, 131ff.; Seelig (2008) 2461. Weitere Urteilsanalysen zum Konkur-renzverbot demnächst in Allstadt.

41 Zusammenfassend zur Tendenz der Rechtsprechung vgl. Baum et al. (1908) Bd. 1, 152.

42 Vorstand der Gesellschaft für Soziale Reform (Hg.) (1909).

43 So auch die zentrale Aussage von Potthoff (1908).

44 Sinzheimer (1914).

45 Sinzheimer (1914) 7.

46 Sinzheimer (1914) 11.

47 Zu weiteren Urteilen, auch im Hinblick auf die Abgrenzung von Angestelltenverhältnissen zu selbständiger Arbeit, gerade bei Reisenden oder Kellnern demnächst Allstadt.

48 Sinzheimer (1914) 29.

49 Sinzheimer (1914) 35.

50 Sinzheimer (1914).

51 Siehe auch das Fazit von Bohle (1990) 136f.

52 So auch 1914 in der Konzeption Sinzheimers (1914) 35.

53 Zum Begriff Kocka (1981b).

54 Als Buchausgabe: Kracauer (1930).

55 Siehe dazu den folgenden Abschnitt.

56 Kracauer (1930) 14.

57 Urteil des Kaufmannsgerichts Mannheim vom 20. August 1907, in: Baum (Hg.) (1912) 513.

58 Ausführlich Kocka (1981a) 148ff.

59 Benjamin (1930/1971) 117.

60 Kracauer (1930) 13.

61 Kracauer (1930) 91.

62 Kocka (1977) insbes. 17–57.

63 Kocka (1977) 49.

64 Kocka (1977).

65 Zur ursprünglichen Nähe des Angestellten- zum Beamtenbegriff Kocka (1981a) 116ff.

66 Urteil des Kammergerichts Berlin vom 14. Mai 1904, in: Baum (Hg.) (1912) Bd. 2, 490; allerdings im Kontext einer Norm (§ 68 HGB), welche den vertraglichen Regelungsspielraum einer Kündigungsfrist gestaltet.

67 Urteil des Kaufmannsgerichts Hamburg vom 20. Februar 1908, in: Baum (Hg.) (1912) Bd. 2, 449f.

68 Zum am Beamtenleitbild orientierten Sicherheitsbedürfnis auch Kocka (1981a) 173.

69 Kocka (1977) 51.

70 Deutsch/Keiser (2013) §§ 620ff., Rn. 95.

71 Deutsch/Keiser (2013) §§ 620ff., Rn. 73.

72 Zu sozialhistorischen Erklärungen für die in Deutschland wirkmächtige Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten: Kocka (1981a) 175ff.

73 Kracauer (1930) 44ff.

74 Kracauer (1930) 47.

75 Gesetz über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 9. Juli 1926, RGBl. I Nr. 46, 399, Nr. 48, 412. Bei der Vorbereitung spielten auch Leitsätze des sozialpolitischen Ausschusses des vorläufigen Reichswirtschaftsrats eine Rolle. Abgedruckt in: Sitzler/Goldschmidt (1930) 129.

76 Zur politischen Motivlage zur Zeit der Entstehung der Sozialversicherung m.w.N. vgl. Glootz (1999) 21f.

77 Dietz (1952) § 5 Rn. 1.

78 Zu diesem besonderen Aspekt der Lohngerechtigkeit im Hinblick auf das Angestelltenverhältnis demnächst Allstadt.

79 Reckwitz (2019) 181ff.