Im April 1955 traten Staats- und Regierungsrepräsentanten aus 29 asiatischen und afrikanischen Staaten zu einer Konferenz in der indonesischen Stadt Bandung zusammen. Agenda dieser sogenannten Bandung-Konferenz, die der damalige indonesische Präsident Sukarno in seiner Eröffnungsrede als »first intercontinental conference of coloured peoples in the history of mankind«1 bezeichnete, war keine geringere als der gemeinsame Widerstand gegen Imperialismus, Rassismus und Ungleichheit und damit der Kampf für eine neue, gerechte Weltordnung.
Heute, über ein halbes Jahrhundert später, stellt sich die Frage, was aus diesen ambitionierten Zielen geworden ist und welche Effekte die Konferenz auf die globale Politik sowie das Völkerrecht hatte und hat. Dieser komplexen und häufig vernachlässigten Thematik widmet sich der von Luis Eslava, Michael Fakhri and Vasuki Nesiah herausgegebene Sammelband Bandung, Global History, and International Law. Critical Pasts and Pending Futures. Der Fokus liegt dabei nicht, und das zeichnet das Buch in besonderer Weise aus, auf einer isolierten chronologisch-inhaltlichen Darstellung und Betrachtung dieser ersten afrikanisch-asiatischen Konferenz. Bandung wird nicht als rein historisches Event, sondern als Geschichte verstanden, »a story in which the Spirit of Bandung […] took off in different directions« (13). Aufbauend auf diesem narratologischen Ansatz der Geschichtsschreibung nehmen über vierzig Autor*innen von ganz unterschiedlichen Orten, Perspektiven und Disziplinen die globalen und regionalen Wirkungsweisen und Resonanzen Bandungs auf normativer, institutioneller und globaler Ebene seit den 1960er Jahren bis in die Gegenwart in den Blick. Denn erst die kontextualisierten, anachronistischen und auch widersprüchlichen Geschichten können die radikale Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Ereignisses zumindest ansatzweise erfassen, so zu Recht die Herausgeber*innen in ihrem Vorwort (11).
Unterteilt in fünf Abschnitte widmet sich der Sammelband den Fragen, wie Bandung erzählt wurde, wie es heute erzählt werden kann und welche Lehren wir daraus für eine zukünftige Völkerrechtsnarration ziehen können (Teil I. Bandung Histories). Auch werden die unterschiedlichen politischen Solidaritäten und geographischen Annäherungen, die die Bandung-Ära geprägt haben, thematisiert, wobei der Fokus auf transnationalen Verbindungen und Identifikationen sowie deren Einfluss auf die globale Politik liegt (Teil II. Political Solidarities and Geographical Affiliations). Unter der Überschrift Nations and Their Others. Bandung at Home stehen im dritten Teil des Bandes Aspekte der Übertragung, Rezeption und Translation des Geistes von Bandung und damit globale und regionale Wirkungsweisen der Konferenz im Zentrum der Untersuchungen. Dabei reicht der geographische Rahmen vom afrikanisch-asiatischen Raum bis hin zu solchen Regionen, die zwar nicht unmittelbar an der Konferenz beteiligt waren, aber von dieser nicht unbeeinflusst blieben, wie etwa die Sowjetunion (Boris N. Mamlyuk) und der südamerikanische Raum (Liliana Obregón, Fabia Fernandes Carvalho Veçoso). Den politischen Agenden widmet sich der vierte Teil des Bandes (Postcolonial Agendas. Justice, Rights, and Development), wobei nicht nur offensichtliche Thematiken aufgegriffen werden, sondern auch solche, deren Verbindungen zu Bandung sich erst bei genauerer Betrachtung ergeben, wie etwa ökologische Gerechtigkeit (Karin Mickelson und Usha Natarajan) und globale Frauenbewegung (Aziza Ahmed). Der fünfte und letzte Abschnitt schließlich nimmt sich unter dem Titel Another International Law der Frage an, welche Folgen Bandung auf die |Geschichte des Völkerrechts und die Völkerrechtsnarrationen hatte und hat.
Diese Unterteilung ist als Orientierungshilfe sinnvoll. Tatsächlich aber lassen sich die einzelnen Beiträge aufgrund ihrer thematischen Tiefe nur selten ausschließlich einem dieser Bereiche zuordnen, weshalb es am fruchtbarsten erscheint, alle Beiträge in engem Bezug zueinander zu lesen. Gerade diese Lesart spiegelt die Komplexität und Verwobenheit Bandungs wider.
Den Auftakt des Sammelbandes bildet, nach dem präzisen Vorwort der Herausgeber*innen zum methodologischen und thematischen Rahmen des Bandes, B.S. Chimnis Beitrag, in welchem er den Wandel von Imperialismus und Antiimperialismus seit den 1950er Jahren nachzeichnet. Dabei verdeutlicht er, wie durch die asiatisch-afrikanische Solidarisierung gegen globale Ungerechtigkeit soziale Missstände und Frakturen auf regionaler Ebene nicht nur ausgeblendet, sondern im Zuge der postkolonialen Staatenbildung unter dem Schirm des westlichen Models nationaler Souveränität noch weiter verschärft wurden. Inwieweit dieses »Western nation-state model« in vielen Fällen nicht mit indigenen Vorstellungen übereinstimmte und daher Transformationen indigener Traditionen erforderte, hebt Antony Anghie hervor (543).
Diese sich im Prinzip der nationalen Souveränität widerspiegelnden Re-affirmationen und Re-formulierungen westlicher Konzepte durch die Bandung-Staaten bilden ein zentrales Thema des Bandes. Aufbauend auf Michail Bachtins Konzept des Chronotopos und damit der Konstruktion von Zeit, Raum und Subjektivität, analysiert Rose Sydney Parfitt in ihrem Beitrag die diskursive Strategie dieser Wiederholung bereits existierender Prinzipien. Dabei veranschaulicht sie, wie sich die Staaten der sogenannten Dritten Welt im Wege einer »re/author/ization« als neue und wahre Subjekte des Völkerrechts artikulierten (62). Dass dabei die Legitimität des territorial gebundenen Nationalstaats nicht hinterfragt wurde, erklärt für Parfitt die Lautlosigkeit der Konferenz (64).
Ist also echte internationale Gleichheit nur ohne den Nationalstaat und fernab eurozentrischer Traditionen möglich? Chimni verneint dies ausdrücklich und betont die Dialektik des Antiimperialismus zwischen den Polen des Globalen und des Nationalen. Eine gerechte Globalisierung müsse gerade diese Gegensätzlichkeit in den Blick nehmen, um die Rechte subalterner Gruppen und Nationen zu fördern. Germán Medardo Sandoval Trigo dagegen betont, aufbauend auf der alternativen Rechtstheorie des südamerikanischen Juristen Óscar Correas Vázquez und der Perspektive der Dekolonialität, das Völkerrecht müsse vom Grunde auf neu gedacht werden, da die »First World instruments« für echte emanzipatorische Bestrebungen nur bedingt geeignet seien (266).
Der globale Widerhall auf Bandung sowie die lokalen Veränderungen der ›Fünf Prinzipien friedlicher Koexistenz‹ (Panchsheel), die als Leitgedanken aus der Konferenz hervorgingen, bilden weitere zentrale Themen dieses Bandes. So veranschaulicht Vik Kanwar anhand der Kunstinstallation der »Five Principle No-s« des indonesischen Künstlers Iswanto Hartono und des Raqs Media Collectives sowohl die Unabschließbarkeit und Offenheit von Bedeutung als auch die damit einhergehende Perspektivgebundenheit. Die Folgen der eigenen verengten Blickwinkel demonstriert Luwam Dirar, indem sie aufzeigt, auf welche Weise der klassische Kolonialismusbegriff den Kolonialismus der Dritten Welt – wie etwa Marokkos Kolonisierung der Westsahara – unsichtbar macht, inwieweit dadurch die Anwendung internationaler und regionaler Regelungen der Dekolonisierung inhaltlich verfehlt wurde und den afrikanischen Kolonialmächten zum Zweck von Terrorismus, Rebellion und Sezession diente. Gleichzeitig ist Afrika bis heute Zentrum des geopolitischen Wettstreits um globale Wirtschaftsdominanz, wie Sylvia Wairimu Kang’ara aufbauend auf dem ambivalenten Verhältnis zwischen China und Afrika hervorhebt. Dieser Machtkampf findet, so ihre These, gerade in den Räumen zwischen den Prinzipien der Nichtintervention, souveränen Gleichheit, Menschenrechte, Auslandsinvestitionen und widerstreitenden Modellen ökonomischer Entwicklung statt. Ein ähnliches Bild zeichnet Ratna Kapur anhand der innerstaatlichen Realitäten Indiens, wo das Prinzip der Gleichheit zum Teil als Rechtfertigungsnarrativ für die Ideologie des hinduistischen Nationalismus instrumentalisiert wurde. Während die Bandung-Politik zwar den globalen Rahmen abzustecken versuchte, wurden interne Missstände häufig vernachlässigt.
Doch welche Schlüsse lassen sich aus diesen Erkenntnissen für die Gegenwart und die Zukunft des Völkerrechts und der globalen Ordnung ziehen? Verdeutlichen die Folgen von Bandung einmal mehr, dass sich jeder Kampf um Gerechtigkeit letztlich selbst auflöst und dass alle Visionäre »ever|lasting evil on Earth« wirken, wie es in Joseph Conrads Werk Under Western Eyes heißt2 (Ibrahim J. Gassama, 129)? Oder ist es an uns, die Geschichte Bandungs neu zu schreiben und Mythen und Interpretationen sorgsam zu überprüfen? Aufbauend auf den narratologischen Ansätzen von Hayden White geht Adil Hasan Khan in seinem Beitrag Ghostly Visitations der Frage nach, wie Bandung heute erzählt werden kann, ohne dabei die Desaster, die dieser Konferenz zeitlich gefolgt sind, auszublenden. Indem er Narration als ideologisches Instrument versteht, schreibt er den Autor*innen nicht nur große transformative Wirkungsmacht in Bezug auf die Bedeutungsbestimmung zu, sondern fordert auch gleichzeitig einen verantwortungsbewussten Umgang mit diesem Erbe Bandungs. Ebenso wie Vik Kanwar sieht auch er Bandung als Prozess der Neueinschreibung, dabei bewegt sich der Auftrag der Erbschaft gleichsam zwischen Kontinuität und Transformation. Einen ähnlichen Weg der Re-interpretation zeigt Rebecca Forcia auf, indem sie Bandung als »memory« versteht und damit die Ansätze der Gedächtnistheorie nutzt. Am Beispiel Australiens verdeutlicht sie, wie die Erinnerungen an Bandung auf negative emotionale Weise die australische Politik im Jahr 2005 beeinflusst haben und hebt damit hervor, wie Bandung als Erinnerungsort positiv für zukünftige Narrationen genutzt werden kann.
Die vorliegende Rezension kann nur kurze und vereinzelte Schlaglichter auf diesen herausragenden Sammelband werfen, in welchem es den Autor*innen in einzigartiger Weise gelungen ist, Bandung zu begreifen und greifbar zu machen. Vergleichbar der Form eines bunten Mosaiks bilden die Inhalte dieses gemeinsam komponierten Bandes die Vielschichtigkeit und Komplexität der Bandung-Konferenz ab und decken Kontinuitäten und Diskontinuitäten auf. Bandung dient dabei – sowohl für die Leser*innen als auch für die Autor*innen – als selbstreflexives Erzählverfahren, in welchem die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart erklärt und damit zum Ort völkerrechtlicher Reflexion wird.
* Luis Eslava, Michael Fakhri, Vasuki Nesiah (Hg.), Bandung, Global History, and International Law. Critical Pasts and Pending Futures. Cambridge: Cambridge University Press 2018, 733 S., ISBN 978-1-107-56104-5
1 The Ministry of Foreign Affairs, Asia-Africa Speaks from Bandung, Djakarta 1955, 19–29.
2 Joseph Conrad, Under Western Eyes, hg. v. John G. Peters, Peterborough 2010, 116.