Der im April 2020 verstorbene und sogleich zum »soziale[n] Gewissen der Republik« erklärte Norbert Blüm »konnte«, so Rainer Hank im Nachruf der FAZ, »so täuschend echt wie kaum ein anderer die knarrende Stimme von Pater von Nell-Breuning nachmachen«. Bei ihm, »dem großen Jesuiten aus Frankfurt«, habe (nicht allein) Blüm seine sozialpolitischen Leitmotive vermittelt bekommen, darunter »Selbstverwaltung [...], Subsidiarität, Solidarität« sowie die Mahnung, »dass man das Soziale nicht den Sozialisten und Sozialdemokraten überlassen sollte«.
Die Bedeutung des lange Jahrzehnte an der Ordenshochschule St. Georgen tätigen Oswald von Nell-Breuning (im Folgenden: NB) erschöpft sich jedoch nicht in seiner damit wieder in Erinnerung gerufenen Rolle als parteiübergreifender Pate des bundesrepublikanischen Sozialstaats. In seinem Buch nennt Jonas Hagedorn ihn »Wegbegleiter und Wegbereiter« gleich »zweier deutscher Republiken« (19) und beschränkt sich auf die Jahre 1924 bis 1933. Denn weitreichende Wirksamkeit entfaltete NB bereits in der Weimarer Republik. Er lebte ein Jahrhundertleben (1890–1991); (wohl nur) darin Carl Schmitt (1888–1985) nicht unähnlich, den Hagedorn seinem Protagonisten unter dem Typus des genuin katholischen öffentlichen Intellektuellen gleich eingangs beigesellt (22).
Dieser, kaum weiterverfolgte, Bezug auf den notorischen Schmitt ist es indes auch gar nicht in erster Linie, der die nominell politikwissenschaftliche Dissertationsschrift auch für Rechtshistoriker beachtenswert macht. Ersichtlich wird an Hagedorns Schilderungen, wie zentral die Kategorie des Rechtlichen im Denken NBs war und wie stark dessen sozialpolitische Konzeptionen sich am Rechtsbegriff ausrichteten. Darin äußerte sich offenbar nicht nur tiefe Verwurzelung in einem (im Buch allerdings wenig umrissenen) Naturrechtsverständnis, sondern auch ein ausgeprägtes Sensorium für das positive Recht – Reflexionen über beider Verhältnis inbegriffen (etwa 214, 291). Bereits an NBs Doktorarbeit wurden »rechtswissenschaftliche Gestaltung und Methode« und »geschickt gehandhabtes juristisches Rüstzeug« gewürdigt (270), später veröffentlichte er auch in rechtswissenschaftlichen Periodika (279) und erar|beitete »juristisch stichhaltige« Vorschläge für Änderungen am BGB (317). NB, der sich zwischen etlichen Disziplinen bewegte, scheint auch der Jurisprudenz gegenüber wenig Scheu an den Tag gelegt zu haben. Für Hagedorn gilt das bei seiner Darstellung weniger: Die Bemerkungen zu NBs Rechtsverständnis bleiben eher splitterhaft. Das betrifft dessen theologische Fundamente – »aristotelisch-thomistische[r] Zugang«, »Neuscholastik« oder »teleologische[r] Blickwinkel« werden zwar genannt (31, 209, 213, 220, 239 f., 263, 467 f.), aber kaum weiter erläutert und eingeordnet, obwohl sich das Buch gerade nicht vorrangig an ein (katholisches) Fachpublikum richtet – und ebenso die konkreten praktischen Anwendungsversuche. Umso mehr können sich aus rechtshistorischer Perspektive Möglichkeiten des Einhakens und Anknüpfens ergeben.
Erst recht gilt das für das Kernstück der Bemühungen sowohl NBs als auch Hagedorns: den Korporatismus. Mit »Korporatismus« oder dem auch von NB gebrauchten »begriffliche[n] Äquivalent« der »berufsständischen Ordnung« (201) sind Vorstellungen angesprochen, die besonders nach dem Ersten Weltkrieg nicht zuletzt auch Rechtswissenschaftler umtrieben – und heute wiederum Rechtshistoriker beschäftigen. Korporatistisches Gedankengut zirkulierte in diversen Kreisen jener Zeit. Von katholischer Seite gewannen vor allem zwei Gruppen Einfluss auch auf den juristischen Diskurs: die »Solidaristen«, zu denen maßgeblich NB zählte, und die »Universalisten« um den Wiener Soziologen Othmar Spann. Sie bekämpften einander teils erbittert; eine »ständische« Neuordnung verfochten beide. Die Solidaristen, deren Positionen für Jahrzehnte erfolgreich »zum Synonym der katholischen Soziallehre« überhaupt avancierten (69), stachen jedoch heraus durch eine sozialwissenschaftlich zeitgemäße, gewerkschaftsfreundliche und demokratiekompatible Ausrichtung.
Prominent propagiert wurde die »berufsständische Ordnung« 1931 durch Papst Pius XI. in der Enzyklika »Quadragesimo anno«. Deren »maßgeblicher Ghostwriter« (39) wiederum war NB (was erst Jahrzehnte später publik wurde und die folgenreiche Vereinnahmung dieses Schreibens für autoritäre Ambitionen nicht hinderte). Die Deutungskämpfe in der sozialkatholischen Szene zeichnet Hagedorn plastisch nach. Überhaupt liegt ein besonderer Wert des Buchs im aufschlussreichen Überblick über Formierung, Foren und Fraktionen nicht nur der innerkatholischen Korporatismusdiskussion, sondern des »Sozialkatholizismus« insgesamt. Sicher nicht zu Unrecht rügt Hagedorn Versuche feindlicher »Usurpation« der Enzyklika (406). Doch hätten solche Indienstnahmen eigentlich nicht überraschen dürfen. Denn das verwendete Vokabular hatte in der Liberalismuskritik eines breiten politischen Spektrums schon über Jahre den dunklen Humus für einen in verschiedenste Richtungen wuchernden korporatistischen Wildwuchs gebildet.
Bewusst bediente sich auch NB aus diesem Fundus. Hagedorn jedoch treiben weniger solche synchronen Gemeinsamkeiten der Terminologie und ihre Hintergründe um. Ihm geht es vielmehr um diachrone Gemeinsamkeiten, und zwar gewissermaßen in der Sache statt den Worten: Durchaus in Einklang mit Standardreferenzen der politikwissenschaftlichen, aber auch wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsliteratur zieht er in »typisierender Zuspitzung« (157) und unter Verwendung eines sehr weiten und weichen Begriffs von (»freiheitlichem«, irgendwie »[post-]liberalem«) Korporatismus (46, 167ff. und passim) Linien von Erstem Weltkrieg, Zentralarbeitsgemeinschaft, Reichswirtschaftsrat usw. bis hin zu, wie es typischerweise heißt, »Arrangements« (45 f. und passim) auch der Bundesrepublik. Auf diese Linien werden die solidaristischen Entwürfe ebenso gesetzt wie die treffenderweise vergleichend behandelten »Wirtschaftsdemokratie«-Konzepte der Weimarer Sozialdemokratie (etwa 201). So berechtigt eine solche Akzentsetzung ist, die den Kern des Korporatismus in seiner Funktion als »Vehikel zur Überwindung des Klassenkampfes« (375) im Wege »geronnene[r] Kooperation« (44) ausmacht, würde ein stärker rechtlich interessierter Zugriff die Gewichte etwas verlagern und im Zwischenkriegskorporatismus vor allem auch die Fortführung einer verbreiteten Kritik an Wahlrechtsgleichheit, Parteien und Parlamentarismus sehen. Die aber ist zum einen älter als »soziale Frage« und Klassenkampf, verblasste andererseits aber nach 1945 ebenso wie die Rhetorik des »Ständischen«. Hagedorns Bild würde so gewissermaßen umgedreht.
Diese alternative Periodisierung greift zumal für die wohl nur in der Zwischenkriegszeit dominante Fixierung auf (Berufs-)»Stände« als besonders legitimierte, mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete Gebilde. Sie findet sich – NB mag hier vielleicht eine Ausnahme darstellen – in der Bundesrepublik kaum mehr (vgl. auch 465). Doch gerade im Status| dieser »Berufsstände« als strikt vom Staat getrennter und dennoch »öffentlich-rechtlicher« »Körperschaften«, ausgestattet mit »Autonomie« als eigener, eben nicht vom Staat abgeleiteter Normsetzungsbefugnis (vgl. 452), sollten sich NBs Leitideen der »Selbstverwaltung« und »Subsidiarität« manifestieren. Gegenüber später erfolgreichen informelleren Kooperationsformen liegt hier ein entscheidender Unterschied. Erkennbar ist also, wie sehr es um besonders auch rechtliche Fragen geht.
Dementsprechend waren unter den Interpreten der Enzyklika auch namhafte Juristen. Von einer erneuten Erwähnung des hier weniger einschlägigen Schmitt abgesehen (51) tauchen Rechtswissenschaftler bei Hagedorn allerdings nicht auf. Der üblichen Verengung auf Schmitt bedürfte es dabei gar nicht, denn an den Seitenlinien der dargestellten Diskussionen könnte man auf andere stoßen, die sich den aufgeworfenen Fragen direkter und eingehender widmeten. Besonders solche Juristen, die sich sowohl dem Katholizismus als auch einem positivistischen Verständnis ihres Fachs verpflichtet sahen, nahmen die korporatistischen Impulse des Sozialkatholizismus beim Wort, rekonstruierten sie wohlwollend, suchten sie zugleich aber mit einem begriffsstrengen rechtswissenschaftlichen System in Einklang zu bringen. Das gilt etwa für Adolf Merkl (»Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika ›Quadragesimo anno‹«) oder Hans Nawiasky. Beide versuchten, den »Berufsständen« klarere Konturen zu verleihen und rangen dabei vor allem darum, wie das propagierte »Eigenrecht« der Stände mit dem staatlichen Recht ins Verhältnis zu setzen sei.
Die Arbeit des inzwischen selbst am Oswald-von-Nell-Breuning-Institut tätigen Autors ist von erkennbarer Sympathie zu ihrem Protagonisten getragen. Sie will für die »wertvollen Anregungen« (5) werben, die dessen Werk zu bieten habe und seine Potenziale für die Gegenwart aufdecken (26). Die Gefahr, dabei mitunter in einen identifikatorischen Ton überzugleiten, liegt auf der Hand. Hagedorn bleibt trotz punktueller kritischer Einsprengsel in seinen Einschätzungen häufig bedenklich eng am Urteil seiner Akteure. So wirken manche Passsagen nicht nur wie eine Geschichtsdarstellung über NB, sondern auch aus der Sicht NBs. Diese Nähe ist nicht unproblematisch, weil Hagedorn der Sache nach selbst hauptsächlich als Historiker vorgeht – trotz politikwissenschaftlicher Agenda. Ob, wie in einer Art – weitgehend nachweisloser – Generalabrechnung behauptet, wirklich »eine klaffende Leerstelle in der politischen Theoriebildung« besteht, deren »liberale[r] Mainstream« (469) sich der Realität eines »postliberale[n] Komplexitätsniveaus« verweigere (54); und ob Abhilfe, wie Hagedorn trotz letztlich nur blasser Bilanzierung (468 f.) zeigen will, gerade eine Orientierung an NB schaffen kann, braucht hier wohl nicht beurteilt zu werden.
Stattdessen kann es bei dem Fazit bleiben: eine hoch informative Darstellung, die eine Reihe für Rechtshistoriker relevanter Gegenstände behandelt und eine Fülle an Aufschlüssen und Anregungen liefert. Insbesondere der Korporatismus der Zwischenkriegszeit bleibt ein unwegsames und unübersichtliches Gelände. Um sich in ihm besser zurechtzufinden, bedarf es verschiedener Wegweiser. Für einen wichtigen Teil dieses Labyrinths hat Hagedorn eine wertvolle Orientierungshilfe geschaffen. Wer heute nicht ohne Weiteres verständliche rechtliche Denkrichtungen und Ordnungskonzepte in ihrem »Kontext« erfassen will, braucht genau solche Unterstützung aus den Nachbardisziplinen. Kontextualisierung ist keine Einbahnstraße. Dass das Buch auf die für sein Thema so wesentliche Dimension des Rechtlichen selbst nur wenig Licht wirft, zeigt, dass umgekehrt jenen auch die Rechts(wissenschafts)geschichte etwas zu sagen hätte.
* Jonas Hagedorn, Oswald von Nell-Breuning SJ. Aufbrüche der katholischen Soziallehre in der Weimarer Republik, Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 2018, 532 S., ISBN 978-3-506-78795-8