Vom Nutzen der Geschichte für das Recht *

[On the Use of History for Law]

Thomas Duve Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main sekduve@rg.mpg.de

Die Frage nach der Bedeutung historischer Erfahrung für das Recht treibt die Rechtsgeschichte seit jeher um. Spätestens seit der Historischen Schule verfügt das Fach über einen variantenreichen, nicht zuletzt von den jeweiligen Vorstellungen von der Welt und von den Möglichkeiten unserer Erkenntnis, also von zeitgebundener Metaphysik und Epistemologie geprägten spezifischen Diskurs zum Verhältnis von Geschichte und Recht. Immer wieder haben Rechtshistoriker auch versucht, die Geltung von Recht aus seiner Geschichtlichkeit abzuleiten. Für die Historische Schule – die geschichtliche Rechtswissenschaft – war diese Vorstellung geradezu grundlegend. Später beriefen Juristen und Rechtshistoriker sich oft auf Hegel, manchmal argumentierten sie phänomenologisch, meistens bekenntnishaft. Systemtheoretisch inspirierte Rechtsgeschichten, die Suche nach Pfadabhängigkeiten oder kulturellen Reproduktionslogiken haben in den letzten Jahrzehnten Fragen der Normenbegründung eher ausgeklammert. Die meisten Versuche, der metaphysischen Leere durch einen Griff in die Geschichte zu entkommen, werden heute richtigerweise nicht mehr von der Rechtsgeschichte, sondern von der Rechtstheorie oder der politischen Philosophie vorgelegt. Im Mittelpunkt der Diskussion steht dabei die große alte Frage, ob, wie und in welchem Maße die Vergangenheit unser rechtliches Denken und Handeln bindet.

Wie die Beziehung von historischer Erfahrung‍‍‍ und Normenbegründung aussehen kann, bedarf tatsächlich auch weniger rechtshistorischer als geschichtsphilosophischer und -theoretischer, (rechts-)philosophischer, sozial-, religions- oder kognitionswissenschaftlicher Expertise. Erst mithilfe dieser können konkrete Beispiele der Funktion historischer Erfahrung für die Normenbegründung normenwissenschaftlich analysiert werden. Genau das wird in diesem Band versucht, der Teil einer Reihe von interdisziplinären Studien zur Normenbegründung ist, die in den letzten Jahren| im Münsteraner Cluster Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und dessen intellektuellem Umfeld entstanden sind.1

Die Herausgeber unterscheiden in ihrer Einleitung auf der Grundlage des Forschungsstandes vor allem aus der Philosophie – von Sebastian Laukötter im ersten Beitrag näher ausgeführt – zwischen vier Formen des Zusammenhangs von historischer Erfahrung und Normenbegründung: dem heuristischen Wert historischer Erfahrungen; ihrer motivationalen Wirkung; der Funktion historischer Erfahrung, Kriterien gelungener Normenbegründung aufzuzeigen; der unmittelbaren Bedeutung historischer Erfahrung für die Soll-Geltung von Normen. Diesen vier Formen ist jeweils ein Abschnitt gewidmet. Der Band spannt also wie im Titel auch im Innern einen Bogen von der Genese zur Geltung.

Der heuristische Wert historischer Erfahrung für die Normenbegründung steht am Anfang. Darunter wird der – oft geradezu pädagogische – Verweis darauf verstanden, dass bestimmte Normen als Reaktionen auf historische (Unrechts-) Erfahrungen entstanden sind. Die Erschütterung durch die Weltkriege und Verbrechen des 20. Jahrhunderts setzte, so Arnd Pollmann, eine Dynamik erfahrungsgesättigter Kämpfe frei, die »Lernfortschritte im Recht« (45) nach sich zogen, konkret eine konzeptionelle Verknüpfung der Ideen von Menschenrechten und Menschenwürde und deren völkerrechtliche Armierung. Im Vergleich dazu sei der heuristische Wert historischer Erfahrung zur Normenbegründung für system- und diskurstheoretische Ansätze begrenzt, wie der zweite Beitrag hervorhebt. Durch die bloße Beobachtung gehe – so Bernhard Jakl – der Bezug zur Normenbegründung verloren. Auch diskurstheoretische Ansätze wiesen der historischen Erfahrung keine eigenständige Rolle mehr zu – eine Feststellung, die nicht erst seit Habermas’ jüngst vorgelegter Genealogie nachmetaphysischen Denkens doch überrascht. Eher einer Fehlanzeige in Bezug auf die Frage nach dem heuristischen Wert historischer Erfahrung gleicht auch der Beitrag von Peter Schaber zur Vorfindlichkeit moralischer Normen. Diese sind für ihn einfach da, anders als der ethische Konstruktivismus behaupte, und anders auch als Rechtsnormen, die er als Folgen intentionalen Handelns sieht, aber nicht behandelt.

Nicht leicht abgrenzbar von der heuristischen Funktion historischer Erfahrung für die Normenbegründung ist die von den Herausgebern sogenannte motivationale Wirkung. Wir verstehen nämlich – so der Gedanke – nicht nur den Sinn mancher Regelungen erst durch ihren Entstehungskontext. Die konkreten Erfahrungen motivieren uns vielmehr dazu, Normen als verbindlich anzuerkennen und zu befolgen. Es geht also um Stabilisierung und Verstärkung, vielleicht sogar um Aufladung mit Geltung. Das macht der Beitrag von Hans Joas zur Transformation historischer Erfahrungen der Rechtsverletzungen in die Anerkennung von Menschenrechten deutlich, der seinem Buch Die Sakralität der Person. Zur Genealogie der Menschenrechte von 2011 entnommen ist (dort Kapitel 3). Joas zeigt, wie historische Gewalterfahrung die Energie für positive Wertbindung freisetzen kann – und zwar »solche universalistischer Art« (96). Der Abolitionismus dient ihm als Beispiel. An dessen Geschichte könne man beobachten, wie Erfahrungen von Gewalt und Entrechtung die Motivation intensivieren, vorhandene latente universalistische Moralvorstellungen (wie etwa die christlichen) in bestimmten Handlungsfeldern auch wirklich umzusetzen. Mit zunehmendem Wissen über die Zusammenhänge – nicht zuletzt wegen der wirtschaftlichen Verflechtungen und der damit einhergehenden Welterfahrung – sei das Bewusstsein der Folgen und damit der Verantwortung des eigenen Handelns gestiegen; Joas nennt dies eine »sozialstrukturell verursachte Ausdehnung der kognitiven Attribution moralischer Verantwortlichkeit« (118). Der damit eröffnete Raum, in dem Unrechts- und Gewalterfahrungen nun ganz anders und zum Teil überhaupt erst artikuliert werden konnten, sei durch eine praktische transnationale Organisation des moralischen Universalismus stabilisiert worden, die dieser Bewegung zum Durchbruch verhalf. Die »moralphilosophische Pointe« (120) seiner Überlegungen |sieht Joas selbst darin, dass in ihnen eine Alternative zu der von einigen für unmöglich erachteten, von anderen als einzig möglicher Weg angesehenen rationalen Konstruktion universaler Moral sichtbar werde. Historische Gewalterfahrungen und die aus diesen resultierenden Traumata könnten die bloß schwache Kraft rationaler Motivation stärken. Für die Historiographie der Menschenrechte bedeute dies zugleich, von jedem kulturellen Triumphalismus Abschied zu nehmen, Menschenrechte auch als historisches Ergebnis der Traumatisierung durch westliche koloniale Gewalt‍‍‍ anzuerkennen und dieser Geschichte Raum zu geben.2

Der zweite, in das Kapitel zur motivationalen Wirkung historischer Erfahrung eingefügte Beitrag widmet sich der Frage, ob die Logik der Ontogenese ein Schlüssel zur rationalen Rekonstruktion historischen Wandels von Moral sei. Die‍‍‍ Autoren setzen sich hier mit einer älteren (von diesem inzwischen so nicht mehr vertretenen, aber weiterwirkenden) Ansicht Jürgen Habermas’ zur Rekonstruktion sozio-kultureller Entwicklung anhand von entwicklungspsychologischen Einsichten auseinander und beziehen dies auf die Geschichte der Menschenrechte und die Frage nach ihrer Universalität. Ihr Ergebnis ist eindeutig: »Die Annahme, dass mit den egalitären Menschenrechten eine Stufe der Moral- und Rechtsentwicklung erreicht ist, die man kulturübergreifend als höher und als moralischen Fortschritt einordnen kann, lässt sich nicht durch den Rekurs auf die innere Logik der ontogenetischen Moralentwicklung begründen« (150). Das klare Bekenntnis zum kulturellen Relativismus (oder, alternativ, einer existenziellen Wahl) am Schluss des Beitrags, in dem gleich zu Beginn Universalität mit rationaler Begründbarkeit gleichgesetzt wird, macht im Kontrast nochmals deutlich, woran sich Hans Joas gerade abgearbeitet hat: an der Überwindung dieser aus seiner Sicht binären Verkürzung auf einen (unmöglichen) rationalen Universalismus einerseits und eine (Universalisierung ausschließende) kulturalistische Verengung andererseits (111).

Im dritten Teil geht es um die Frage, inwieweit historische Erfahrung die Art und Weise beeinflusse, wie Normen begründet werden und welche Argumente als akzeptable oder eben gerade nicht mehr akzeptable Gründe gelten können. Hier finden sich drei recht unterschiedliche Fallstudien. Rolf Zimmermann wendet sich am Beispiel des NS‍‍‍ und des Bolschewismus dem radikalen moralischen Anderssein als historischer Erfahrung und begründungstheoretischer Herausforderung zu. Er sieht hier einen »Gattungsbruch«, der den normativen Kern des Universalismus einer normativ-egalitären Gleichheit klarer hervortreten lasse. Für ihn kann allein eine die Historizität integrierende Moralbegründung über die Aporien der apriorischen, diskursrationalen, essentialistischen und anderen scheinbaren Begründungsgewissheiten hinausführen. Der Beitrag ist damit ein auf historische Beobachtungen gestütztes philosophisches Plädoyer für die Unmöglichkeit ahistorischer Moralbegründung.

Eine Studie dazu, welchen Wert Erfahrung, verstanden als gegenwärtige Vergangenheit, für die Gesetzgebung der sogenannten Vormoderne hatte, steuert Lothar Schilling bei. Er fasst die Forschung zur legitimationsstiftenden Kraft von Tradition und Herkommen für das mittelalterliche und frühneuzeitliche Recht zusammen. Vor dem Hintergrund einer letztlich auf der Annahme einer Unveränderlichkeit der Weltordnung gewachsenen Geschichtsvorstellung konnten experientia und exempla Wahrheiten enthalten und damit auch für die Zukunft lehrreich und nützlich sein. Dass mit der frühneuzeitlichen Policey eine flexiblere, weniger traditions- als funktionsbezogene Handlungsform des frühmodernen Staates bald »zum Leitkonzept einer auf Innovation und Effizienzsteigerung unter obrigkeitlicher Federführung abzielenden universitären Wissenschaft und einer sich darauf stützenden, auf die zunehmende Ablösung der traditionellen Ordnung zielenden inneren Politik« werden konnte (193), verweise auf die Veränderungen im Geschichts- und Staatsverständnis des 18. Jahrhunderts. In ein weiteres, heute für viele fremdes Verständnis der Gegenwart des Vergangenen führt auch Myriam Bienenstock hinein, wenn sie in ihrem Beitrag zur Erinnerungspflicht in der hebräischen Bibel deutlich macht,| dass das als »Du wirst Dich erinnern« (Exodus 20.2) in die deutsche Sprache übersetzte Gebot sich nicht auf Vergangenheit oder Zukunft, sondern auf ein nicht abgeschlossenes und prinzipiell nicht abschließbares Geschehen bezieht. Vergangenheit und Zukunft fielen vielmehr in ihm zusammen, vergangenes Geschehen wie der Exodus ereigne sich immer wieder. Dass sich an dieses (übrigens ja auch der katholisch-christlichen Tradition keineswegs fremde) Verständnis von Zeit erhebliche Folgen hinsichtlich der Bedeutung historischer Erfahrung für Normativität knüpfen, liegt auf der Hand.

Im vierten Teil geht es um die Bedeutung historischer Erfahrung für die Soll-Geltung von Normen. Den Anfang macht ein Text Stefan Gosepaths zum Ursprung der Normativität, erstmals 2009 in der Frankfurter Festschrift für Axel Honneth publiziert. Gosepath legt in ihm seine – auf langen Frankfurter Diskussionen über die Bedeutung der praktischen Vernunft für die Normenbegründung beruhenden – Überlegungen dar, weswegen normativ gebrauchte Sätze einen Verpflichtungscharakter haben, der sich nicht allein dadurch erklären lasse, dass bei Nichtbefolgung Sanktionen drohten. Entscheidend sei vielmehr die Existenz eines vernünftigen Grundes, der auf einem kognitiven Werturteil basiert. Ähnlich, wie man Begriffsschemata sozial und kommunikativ erlerne, erlerne man auch die diesen Werturteilen zugrundeliegenden Bewertungsschemata. Diese Regeln bekämen im Prozess der Sozialisation eine Autorität, die die Befolgung der Regeln geradezu zu einer zweiten, nämlich sozialen Natur werden lasse. Den Einwand vorwegnehmend, dass hier eine Verwechslung von normativer und faktischer Geltung vorliege, hebt Gosepath hervor, dass das Bewertungsschema transzendental sei und die kritische Reflexion und Revision des Inhalts, Stück für Stück, möglich bleibe. Rahel Jaeggi fragt anschließend – von ähnlichen Grundüberlegungen ausgehend – danach, ob es moralischen Fortschritt geben könne. Eine Bewertung sozialen Wandels als‍‍‍ Fortschritt sei möglich, weil sie in einem historische Erfahrungen integrierenden Bewertungsrahmen, also immanent, erfolge. Von einem ähnlichen Ausgangspunkt hinsichtlich der sozialen Natur und Wandelbarkeit unseres normativen Selbstbildes und unserer Bewertungsschemata geht auch der Beitrag von Ludwig Siep aus. Auch er sucht eine Rechtfertigung von Normen mit dem Anspruch der Unumkehrbarkeit und der Zukunftsgeltung, also einen Ausweg aus der – scheinbaren? – Aporie unmöglicher rationaler Universalisierung einerseits und unbefriedigendem kulturellen Relativismus andererseits. Geschichte – andere formulieren: Rechtfertigungsnarrative – erhält auch bei ihm durch eine Analogie zwischen individuellen und kollektiven Erfahrungen einen konstitutiven Stellenwert. Trotz der Abwertung historischer Erfahrung in öffentlichen Diskursen und der Tatsache, dass gerade in Europa das normative Selbstbild zum Teil auch auf einem Traditionsbruch beruhe – nämlich dem der Aufklärung –, bedürfe eine »historisch belehrte Vernunft« weiter normativer Erfahrungen. Nicht zuletzt die Zielvorstellungen seien selbst historisch geformt, ihre Bindungswirkung in die Zukunft wird auch von Siep aus der historisch kontingenten Entwicklung und einer nicht-teleologischen Gerichtetheit auf weitere Realisierung der Freiheit abgeleitet. Er‍‍‍ schließt hier an Jaeggis Überlegungen und Thomas Gutmanns Versuche der Normenbegründung als Lernprozess an. Gutmann spitzt – im Anschluss an einen Beitrag von Micha Brumlik, in dem Marx’ Kritik der Menschenrechte im Mittelpunkt steht – diese Überlegungen nochmals zu,‍‍‍ indem er in seinem abschließenden Beitrag das Erheben von rechtlich formulierten Ansprüchen, die Konzeption der subjektiven Rechte, als ein postkonventionelles, säkulares und auf Gründe gestütztes Konzept skizziert. Er widerspricht hier ausdrücklich Hans Joas’ – inzwischen allerdings nochmals erweiterten3 – Überlegungen, dass‍‍‍ Menschenrechte eben nicht auf einen Prozess der Säkularisierung, sondern der Sakralisierung zurückzuführen seien.

Für die rechtshistorische Forschung bieten die in dem Band natürlich nur schlaglichtartig erhellten Diskussionen wichtige Anschlussmöglichkeiten. Diese sollten auch deswegen genutzt werden, weil manchen Beiträgen Geschichtsbilder zu Grunde liegen, die von der rechtshistorischen Forschung inzwischen modifiziert worden sind. Vielfach sind| Habermas oder Luhmann die Leitreferenzen für rechtshistorische Umbrüche; die sogenannte Vormoderne dient eigentlich nur als Kontrast zur Moderne und wird entsprechend verzeichnet; rein ideengeschichtliche und eurozentrische Perspektiven dominieren das Bild. Es gäbe also viel Stoff für ein gemeinsames Nachdenken, das der Rechtsgeschichte in ihrer etwas ermüdeten Suche nach dem ›Wozu‹ ihres Tuns sicherlich mindestens ebenso gut täte wie der politischen Philosophie und der Rechtstheorie auf der Suche nach den Gründen des Sollens.

Notes

* Thomas Gutmann, Sebastian Laukötter et al. (Hg.), Genesis und Geltung. Historische Erfahrung und Normenbegründung in Moral und Recht, Tübingen: Mohr Siebeck 2018, 314 S., ISBN 978-3-16-153940-4

1 Vgl. Ludwig Siep, Thomas Gutmann et al. (Hg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Philosophie der Neuzeit und in rechtssystematischen Fragen der Gegenwart, Tübingen 2012; Christel Gärtner, Thomas Gutmann et al. (Hg.), Normative Krisen. Verflüssigung und Verfestigung von Normen und normativen Diskursen, Tübingen 2019.

2 Vgl. zu dieser für die Rechtsgeschichte wichtigen Überlegung ausführlicher Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, München 2015, sowie die Diskussionsbeiträge zu Joas mit Erwiderung in Michael Kühnlein, Jean-Pierre Wils (Hg.), Der Westen und die Menschenrechte. Im interdisziplinären Gespräch mit Hans Joas, Baden-Baden 2019.

3 Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Frankfurt a.M. 2017.