Das den sechs Bänden dieser Kulturgeschichte des Rechts zugrunde gelegte Gesamtkonzept erläutert der Herausgeber, Gary Watt, auf drei Seiten, die jedem Einzelband voranstehen. So kann man jeweils den direkten konzeptionellen Einstieg finden, egal, mit welcher ›Epoche‹ man beginnen möchte, denn alle Bände folgen einem einheitlichen Schema (inkl. Bibliographie sowie Sach- und Namensindex).
Die Inhalte der Bände lassen sich im Grunde genommen auch als Tabelle darstellen, um den Überblick zu erleichtern. Es gibt acht, allerdings nicht näher begründete »legally significant themes« (gewissermaßen die Zeilen): 1. Justice, 2. Constitution, 3. Codes, 4. Agreements, 5. Arguments, 6. Property and Possession, 7. Wrongs, 8. Legal Profession, die in jedem Einzelband thematisiert werden. Jeder davon behandelt eine Epoche, die die sechs Spalten der Tabelle ergeben, wobei die Periodisierung (»distinct time periods«) etwas eigentümlich anmutet: I. Antiquity, II. Middle Ages, III. Early Modern Age, IV. Age of Enlightenment, V. Age of Reform, VI. Modern Age. So entsteht ein intellektuelles Spiel von 48 Feldern mit einer aufsteigenden Chronologie in Leserichtung der Zeilen und einer sechsgliedrigen Einteilung der Leitmotive durch die Spalten. Einzelbeiträge werden im Folgenden nach diesem Schema – Epoche/Thema – zitiert. Der Herausgeber forderte darüber hinaus von allen Beiträgern, sinnfällige Objekte für ihre Artikel auszuwählen, die den Einfluss des Rechts auf das kulturell-intellektuelle Alltagsleben exemplarisch illustrieren. In der Regel wurden von den Autoren zwei Beispielgruppen herangezogen (vgl. dazu die Tabelle), wenige fanden nur eines oder keines (III/6). Inwieweit dies zur Beurteilung der kulturgeschichtlichen Interdisziplinarität der Verfasserinnen und Verfasser beiträgt, sei hier nicht weiter erörtert.|
Zwar werden in jedem Band Gerichtsprozesse (I/7, II/8, III/8, IV/5 und 8, V/5 sowie VI/8) und in vielen Hochzeiten (I/4, nicht in II, III/4, IV/4 und 5 sowie V/5, nicht in VI) thematisiert, aber schon darüber hinaus finden sich trotz der Leitmotive keine allgemeinverbindenden Themen durch die Epochen. Selbstverständlich gibt es Schlagwörter, die in allen Bänden vorkommen, z.B. »lawyers«, aber eine ›verpflichtende Generallinie‹ wurde entweder nicht vorgegeben oder von den Autorinnen und Autoren nicht eingehalten. Insofern ist es schwierig, einen roten Faden in dem sechsbändigen Unternehmen herauszuarbeiten. So folgen die Bände im Grunde zusammenhanglos aufeinander – wie oben erwähnt in einer nicht ausreichend begründeten Epocheneinteilung. Die eigentlich einheitliche Gliederung anhand der acht Leitmotive hätte indes anderes ermöglichen können (vgl. dazu unten). Dies liegt daran, dass die Themen nicht diachron miteinander verbunden, sondern jeweils aufs Neue definiert und thematisch spezifiziert werden. Es sind eben case studies und nicht der Analyse kulturell bedingter normativer Kontinuitäten über die Epochengrenzen hinaus verschriebene Skizzen. Insofern erscheint diese Kulturgeschichte des Rechts dem Denken des Common Law in Einzelfällen verpflichtet, während andere, wie etwa die jüngste europäische Kulturgeschichte von Jürgen Wertheimer (Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen, München 2020), diachron angewandte Kriterien verwenden. Für den Rezensenten bedeutet dies, dass normative Kontinuitäten nicht als Leitlinien erwartet werden dürfen; gleichzeitig verringert sich so aber auch die Gefahr, über Fehler zu stolpern, die aus der Überforderung des diachronen Wissens eines Autors hervorgehen. Der Hammer hängt im Verborgenen.
Auch weil Zusammenfassungen bzw. Schlussfolgerungen der Einzelbände oder des Gesamtwerks fehlen, kommt ein besonderes Gewicht den Einführungen zu den sechs Einzelbänden durch ihre Herausgebenden zu. Denn das allgemeingültige Vorwort von Gary Watt will und kann nicht die Frage nach der Relevanz einer diachronen und Räume übergreifenden Cultural History beantworten, weder für die allgemeine Historiographie noch für die Rechtsgeschichte im Besonderen. Daran vorschnell zu nörgeln, verbietet sich zunächst, weil es billiger Triumph wäre. Schauen| wir also auf die Einführungen – vielleicht erfahren wir dort auch, was den Epocheneinteilungen der sechs Bände zugrunde liegt.
Bd. I: Julen Etxabe (1–19) betont die Herausforderung, die ein solcher Band darstellt, und erläutert dann seine Auffassung von »Cultural History and a ›cultural‹ approach to law« in der langen Antike, mit Referenzen zu Jacob Burckhardt bis hin zu William Twining inkl. mehrerer Bildbeispiele. Er erörtert die Rechtsvergleichung für die Antike sowie die Hermeneutik von Text und Kontext des Rechts. Bd. II: Emanuele Conte und Laurent Mayali (1–10) erläutern an einem Mosaik des 12. Jahrhunderts aus San Savino, Piacenza, den mittelalterlichen Zusammenhang von Recht und Spiel mit Verweis auf Petrus Damiani (†1072) und fragen nach dem außergewöhnlichen kulturellen Wandel Europas im Mittelalter ab dem 12. Jahrhundert, womit sie die Wiederentdeckung des Römischen Rechts meinen, ohne allerdings auf Harold Berman zurückzugreifen. Bd. III: Auch Peter Goodrich (1–16) zieht Bildbeispiele heran, um an körperbezogenen Metaphern (Nase, Ohr) die guten Sinne zu elaborieren und so auf das dialogische Prinzip des frühneuzeitlichen Rechts zu gelangen. Bd. IV: Die Herausgeber Rebecca Probert und John Snape (1–14) leiten ihren Band über das Zeitalter der Aufklärung mit Zeilen aus »The Beggar’s Opera« von John Gay (1685–1732) ein, ohne Bildbeispiele. Diese Zeilen betonen den Zusammenhang von »gamesters and lawyers«, der schon im Mittelalterband thematisiert worden ist. Sie betrachten »Enlightenment Law« und »Enlightenment Law in Enlightenment Culture«, deren Zeithorizont sie auf die Spanne zwischen 1680–1820 eingrenzen und in der die »bis heute gültige Vorstellung des Geltungsbereichs von Recht und Kultur und die Art und Weise der Rechtsprechung« entwickelt wurden (Übers. des Rez.). Bd. V: Für den Band »Das Zeitalter der Reform« betont Ian Ward (1–17) die Spannungen zwischen »Revolution, Reform und Reaktion« in der Regierungszeit Königin Victorias von England (reg. 1837–1901). Er zieht die intellektuellen Repräsentanten des Zeitalters heran; Thomas Carlyle mit seiner »History of the French Revolution« (1795–1881) und Matthew Arnold (1822–1883) mit seinem Gedicht »Sea of Faith« werden durch Abbildungen hervorgehoben. Bd. VI: Richard Sherwin und Danielle Celermajer (1–25) lassen das moderne Zeitalter 1920 beginnen, mithin nach dem Ende des ›langen 19. Jahrhunderts‹. Ihre Einleitung wird in der Gestalt eines Interviews zwischen den beiden dargeboten, welches lesenswert, aber nicht referierbar ist.
Verwenden wir das eingangs gewählte Bild vom tabellarischen Spielfeld aufs Neue. Auf den ersten Blick sind die sechs Vertikalen in sich schlüssig, da sie epochenbezogen den vorgegebenen acht Themen zu folgen scheinen; jedoch stellen die jeweiligen sechs Einleitungskapitel keinen Zusammenhang zwischen den Bänden her. So bleibt die berechtigte Frage nach der diachronen Relevanz der »Cultural History of Law« als Gesamtwerk offen. Dazu wäre es notwendig gewesen, thematisch angelegte horizontal-diachrone Linien zu ziehen, um etwa einen ›Kulturwandel‹ im Sinne einer kohärenten Grundidee aufzuzeigen. Das gelingt weder, noch scheint es überhaupt versucht worden zu sein. Der Leser kann es unternehmen oder unterlassen.
Am Beispiel der Zeile 6 – »Property and Possession« – sei dieses Vorgehen exemplarisch ›durchgespielt‹: Paul J. du Plessis (I/6) hat sich für einen Überblick zu den Rechtskulturen des Besitzes in den einzelnen Phasen der römischen Antike entschieden und stellt fest, dass steter Wandel durch äußere Einflüsse das Besitzrecht dieser Epoche dynamisch verändert hatte. Tyler Lange (II/6) erörtert den Unterschied zwischen »Ownership« und »Possession« anhand ebenfalls diachron gesetzter Schnittstellen zwischen Spätantike und spätem Mittelalter, wobei er auch die terminologischen Veränderungen der Rechtsbegriffe mit einbezieht. Zudem weist er auf die differenzierten Konnotationen des Besitzes hin, wie etwa Macht, und des Besitzers, wie etwa des Adels oder der Kirche (»Tote Hand«). Die Ebenen von Besitz und Besitzer treffen sich bei der symbolischen Darstellung von Macht, etwa durch repräsentative, bestimmten Schichten vorbehaltene Wappen oder Siegelformen. Thanos Zartaloudis und Richard Braude (III/6) fassen ihr Thema eng auf die englische Geschichte bezogen auf. Sie beginnen mit Shakespeares »Tempest« aus dem Jahre 1611 und beziehen andere Werke des Dichters, etwa »Henry V«, mit ein (wo das Besitz- und Erbrecht bekanntermaßen eine bedeutende Rolle für zwei Jahrhunderte zurückliegende Ereignisse gespielt hat). Am Ende des Beitrages stehen zwei Protagonisten im Mittelpunkt, Gerrard Winstanley (1609–1676) und Richard Atkyns (1615–1677) aus der Zeit des Bürgerkriegs. Julia Rudolph (IV/6) knüpft an diese Engführung an und illustriert am Beispiel Daniel Defoes »Roxana« (1724)| sowie Werken wie Eliza Haywoods »The City Jilt« (1726), William Hogarths »The Rake’s Progress« (1735) und anderen gesellschaftskritischen zeitgenössischen Werken die besitzrechtlich-finanziellen Risiken und dadurch hervorgerufenen sozialen Verwerfungen bei englischen Familien des 18. Jahrhunderts. Kieran Dolin (V/6) nimmt den inzwischen etablierten Faden auf und bedient sich gleichfalls englischer Literatur, wenn er die »Neuen Sprachen des Eigentums« im England des 19. Jahrhunderts darstellt. Er beginnt dabei mit der »Forsyth Saga« von John Galsworthy (1867–1933), worauf weitere beispielhafte Autoren folgen, um sowohl Debatte als auch Reform des »Property Law« im »Zeitalter der Reform« anhand des Besitzrechtes verheirateter Frauen sowie den Zusammenhang von Kolonialismus und Besitzrecht näher zu beleuchten. Für den Engländer sei »property [...] part of the ordinary culture, a source of meanings and an ›index‹ of identity«, schließt Dolin mit einem Zitat von Cathrine O. Frank. Für das moderne Zeitalter schließlich wählt Alison Young (VI/6) das Thema »On the Illegality of Situational Art«, fürwahr einer der wichtigsten Gegenstände der Diskussion zum Besitzrecht der Gegenwart, gegen das die massiven materiellen und immateriellen Enteignungen des 20. Jahrhunderts an Juden, Intellektuellen und anderen ethnischen, religiösen oder ökonomischen Gruppen weltweit sowie die rechtlichen oder willkürlichen Begründungen dafür selbstverständlich in den Hintergrund treten. Es lebe das Graffito! Für eine Kulturgeschichte des Rechts erscheint dem Rezensenten diese Themensetzung eher symptomatisch für den sich allenthalben aufbauenden Verdruss vieler an den selbsternannten postmodernen Eliten und deren rigorosem Kulturbegriff.
In den tatsächlich diachron und Räume übergreifend angelegten ersten beiden Bänden sind folgende Beiträge versammelt: I/1 Kathryn Slanski, »Justice«; I/2 Jill Frank, »Constitution«; I/3 Barry Wimpfheimer, »Codes«; I/4 Roberto Fiori, »Agreements«; I/5 David Mirhady, »Arguments«; I/6 Paul J. du Plessis, »Property and Possession«; I/7 Jacob Giltaij, »Wrongs«; I/8 Kaius Tuori, »Legal Profession«. – II/1 Joshua C. Tate, »Justice«; II/2 Emanuele Conte, Laurent Mayali und Beatrice Pasciuta, »Constitution«; II/3 Elsa Marmursztejn, »Codes«; II/4 Jonathan Garton, »Agreements: The Discovery of the Market and the Control of the Guilds«; II/5 Beatrice Pasciuta, »Arguments«; II/6 Tyler Lange, »Property and Possession«; II/7 Karl Shoemaker, »Wrongs. Towards a Cultural History of a Medieval Legal Concept«; II/8 Sara Menzinger, »Legal Profession«. Daneben finden sich noch zwei bemerkenswerte Ausnahmen in der Reihe: Valéry Hayaert (III/1) zu allegorischen Darstellungen des Rechts (»Justice«) sowie Piyel Haldar (III/5) über Emblematiken der Renaissance: Logos, Ethos, Pathos (»Arguments. The Visual Mediation of Arguments in the Renaissance«). Es dürfte kein Zufall sein, dass sich beide Autoren verwandten Themenfeldern im dritten Band gewidmet haben.
Eingeschränkte Blickwinkel bieten hingegen die übrigen Beiträge: III/2, »Constitutions« am Beispiel Spaniens; III/3, Kleiderordnungen in London; III/4, Hochzeitsverträge am Beispiel Shakespeares und Marlow; III/7, Hexerei, sexuelles Fehlverhalten und Blasphemie im frühmodernen England; III/8, »The Legal Profession. Tudor Lawyers in an Age of Litigation«. – IV/1, eine »World of Legal Pluralism« an englischen Beispielen; IV/2, »Constitution« am Beispiel von Händels »Salomon«; IV/3, Hochzeit und Ehe in England; IV/4, »Agreements« in englischen öffentlichen Orten (Kaffeehäuser, Poststellen); auch IV/5 bleibt im insular-englischen Kontext (»Arguments. Reputation and Character in Eighteenth-Century Trials«); III/7, Berichte über Hinrichtungen in England; IV/8, Berichte über Gerichtsfälle und Karikaturen von Anwälten in England. – V/1, Widerstand am Beispiel der Rezeption von Photographien Krimineller an englischen Exempeln; V/2, Britisches zu »Utopia, Limited« von W.S. Gilbert und Arthur Sullivan; V/3, zu Polizeiuniformen (immerhin im Commonwealth, in diesem Fall jedoch nur Kanada); V/4, zu Elizabeth Brownings »The Cry of Children« unter dem Aspekt von Sozialverträgen und Kinderarbeit; V/5, am Beispiel der 1840er Jahre in New Hampshire; V/7 wertet englische Quellen aus zu Fahrlässigkeit, Nachbarschaft und Hilfeleistung; V/8, zu Anwälten bei Dickens und Daumier. – VI/1, zum Gemälde von Karl Klimt in der Universität zu Wien; VI/2 widmet sich den Ansprüchen auf Land der Ureinwohner Australiens und VI/3 der Rechtsprechung in Ruanda; VI/4 konzentriert sich auf »Performing Impersonations«; VI/5 befasst sich mit der Frage, ob Videos von Bäumen bestand haben sollten; VI/7 ist ein Interview mit dem Filmemacher Joshua Oppenheimer; VI/8 erörtert den Prozess gegen Rodney King in Los Angeles.
Mit aller gebotenen Sachlichkeit sei abschließend auf die generelle Schwäche des Gesamtwerkes verwiesen, nämlich die fragliche kulturge|schichtliche Relevanz der meisten Beiträge. Am oben dargelegten Beispiel »Property and Possession« sowie an der Analyse der Einzelbände wird deutlich, dass nur die beiden ersten Bände dem Anspruch einer »Cultural History of Law« gerecht werden, in den Bänden III (mit zwei Ausnahmen) bis V hingegen wird die kulturelle Seite des Rechts allein durch die Auswertung der englischen Quellen bedient; Band VI schließlich stellt ein Sammelsurium thematisch eklatanter Fehlgriffe dar und zeigt letztlich die Unfähigkeit der Auseinandersetzung mit der jüngsten Kulturgeschichte, denn die Diskurse erklimmen abstruse Sphären, um den rechtskulturellen Relevanzen dieser Welt auszuweichen. So gesehen ist der sechste Band ein kulturgeschichtliches Beispiel für das Versagen intellektueller Eliten – und so mehr Quelle zur Zeitgeschichte als Analyse derselben.
Die Feststellung, dass sehr viele Beiträge den berechtigten Anforderungen an eine Kulturgeschichte des Rechts nicht hinreichend nachkommen, fällt letztlich auf Herausgeber und Verlag zurück, die dem kaufenden Leser eine Mogelpackung andrehen.
Zusammengefasst kann man dennoch sagen, dass das Gesamtwerk inspirierende Lektüre für – früher hätte man gesagt: bildungsbürgerliche – Leser mit flexiblen Erwartungen darstellt, auf die auch die ›bibliophile‹ Ausstattung der Reihe zielt. Der an dem jeweils Gebotenen interessierte Spezialist wird in vielen Beiträgen anregende und weiterführende Aspekte finden; ein Unterfangen mithin, das trotz der Verwurzelung im englischen Sprach- und Kulturraum durchaus auch deutsche Leser und Rezipienten finden dürfte. Jedoch sollten sie kaum rechtshistorisch-kulturübergreifende Erkenntnisse erwarten, wenn sie diese nicht von den Beiträgen ausgehend selbst anstellen – oder es unterlassen wollen.
* Gary Watt (Hg.), A Cultural History of Law (The Cultural Histories Series), 6 Bde., London: Bloomsbury Academic 2019, insges. 1324 S., ISBN 978-1-474-21285-4