Mit einer gewissen Lust haben die Wirtschaftshistoriker nach der industriellen und der kommerziellen noch eine Reihe weiterer Revolutionen ausgerufen; man möchte fast von einer Revolutionsinflation sprechen. Doch Ron Harris erläutert überzeugend, warum er die Gründung der englischen und der niederländischen Ostindienkompanien (East India Company, EIC, 1600, und Vereenigde Oostindische Compagnie, VOC, 1602) für eine so umwälzende Änderung der Organisation und der Finanzierung des Handels ansieht, dass damit diese beiden Gesellschaften die Führung im eurasischen| Handel des 17. Jahrhunderts übernehmen konnten. Sollte man trotzdem das Wort ›Revolution‹ im Interesse der begrifflichen Klarheit lieber finalen Handlungen, nämlich politischen Aktionen mit dem Ziel eines Verfassungsumsturzes, vorbehalten? Darüber sei nicht weiter gerechtet.
Das Buch ist über einen langen Zeitraum entstanden, und diese allmähliche Reifung hat ihm gutgetan. Es ist klar geschrieben und gegliedert. Der Leser weiß immer, in welchem Stadium der Beweisführung er sich gerade befindet; knappe Zusammenfassungen bieten einen roten Faden. Die interdisziplinäre Vielfalt und Offenheit bei der Definition von Untersuchungszeit und -raum weisen das Buch als ein Produkt des David Berg Foundation Institute for Law and History (innerhalb der Buchmann Faculty of Law, Universität Tel Aviv) aus, einer der führenden rechtshistorischen Forschungsstätten unserer Zeit, deren Dekan der Autor geraume Zeit war.
Harris verfolgt zwei Thesen, die immer wieder in Erinnerung gerufen werden (4–6). Auf einer organisations- und gesellschaftsrechtlichen Ebene will er erstens darlegen, dass die beiden Ostindienkompanien die ersten großflächigen, multilateralen, nicht-persönlichen Gesellschaften waren, die genug Kapital für die enormen und erst nach Jahren Gewinne abwerfenden Kosten der Handelsreisen einwerben konnten, weil einerseits die Gesellschaften halbwegs sicher vor enteignenden Eingriffen ihrer Regierung waren und andererseits die Anleger halbwegs sicher auf eine faire Behandlung ihrer Investition durch die Direktorien vertrauen konnten. Um dies zu zeigen, grenzt Harris VOC und EIC vor allem von den Handelsgesellschaftstypen und anderen im Handel aktiven Unternehmungen der Zeit vor 1600 ab. Auf einer allgemeinhistorischen Ebene geht es zweitens um den relativen Anteil dieser innovativen Eigenschaften der Kompanien an der generellen englisch-niederländischen Überlegenheit im eurasischen Fernhandel im 17. Jahrhundert, in Abgrenzung zu technischer Überlegenheit beim Schiffs- und Waffenbau und zur hohen Gewalt- und Kriegsbereitschaft. Doch um diese Faktoren ernsthaft gegeneinander abzuwägen, müssten solche anderen Charakterzüge des europäischen Asienhandels gründlicher thematisiert werden, als es in diesem Buch geschieht. Dass die Organisation und das große, allein zur Optimierung des Handels und der Gewinne (und nicht zu ferneren politischen Zielen) eingesetzte Kapital auch eine Rolle bei diesem Aufstieg spielte, ist jedenfalls unmittelbar einleuchtend. Mit der zunehmenden Einbeziehung der beiden Gesellschaften in den Aufbau der Kolonialreiche beginnt dann eine neue Epoche. Deshalb bricht das Buch mit der Wende zum 18. Jahrhundert ab.
Das Buch ist in vier Teile mit insgesamt zwölf Kapiteln gegliedert. Teil I hat die Funktion einer Einleitung und skizziert zunächst einige der äußeren (geographischen, technischen u.a.) Bedingungen des eurasischen Handels im 15.–17. Jahrhundert. Die Seidenstraße mit ihren diversen Verzweigungen kommt dabei immer wieder vor, aber die Aufmerksamkeit gilt hauptsächlich dem Seehandel. Seit Vasco da Gamas Entdeckung waren Europa und Indien auf dem Seeweg verbunden. Es geht um Winde und Entfernungen, um Schiffsbau, Navigation und Bewaffnung, und Harris kann in keinem dieser Punkte eine besondere Überlegenheit Westeuropas feststellen – eher im Gegenteil. So bereitet er sein besagtes Hauptargument vor, dass es gerade die besondere Organisationsform der aktiengesellschaftsähnlichen Fernhandelskompanien gewesen sei, aus der der Westen so nachhaltig Kapital schlagen konnte. Im zweiten Kapitel ordnet Harris seine Studie in den Forschungsstand ein. Er schätzt die Bedeutung der »Institutionengeschichte« (der Begriff ist vieldeutig!) der New Institutional Economics von Douglass North u.a. so hoch ein, dass er die Forschungsgeschichte geradezu in ein Vorher – Nachher einteilt. Das überzeugt mich nicht so recht, denn auch schon vor North war es, um nur das prominente Beispiel »agency« zu nehmen, den Wirtschaftsrechts- und Wirtschaftshistorikern möglich, die Vor- und Nachteile des Einsatzes von Agenten, Faktoren und anderen Hilfspersonen zu analysieren. Für »Transaktionskosten«, »Informationsgefälle« usw. könnte man ähnlich argumentieren. Doch zurück zu Ron Harris und der Organisationsrevolution! Er hält die Institutionenökonomik für zu statisch und will sie deshalb für seine Untersuchung der dynamischen Veränderungen des Handels als Trittstufe benutzen, aber über sie hinauswachsen.
Nachdem er den Leser so vorbereitet hat, kommt der Autor in den Teilen II–IV zur eigentlichen Untersuchung. In Teil II und III geht es um das 15. und 16. Jahrhundert. Dazu entwickelt Harris eine originelle Typologie. Er teilt die den Handel prägenden Institutionen in drei Typen ein, nämlich in universal, migratory und embedded. Damit meint er erstens Einrichtungen und Gestaltungen, die so einfach und fundamental sind, dass sie| in ihren Grundtypen mehr oder weniger überall (in diesem Sinne universal) unabhängig voneinander entwickelt werden; zweitens Institutionen von mittlerer Komplexität, die nur an wenigen Stellen erfunden werden und dann in andere Kulturkreise »migrieren«. Dabei werden sie vom potentiellen Rezipienten den eigenen religiösen, rechtlichen oder anderen Anforderungen gemäß modifiziert oder aber auch bewusst abgelehnt und zurückgewiesen. Drittens geht es um Institutionen, die so komplex sind, dass sie nur in einem einzigen Kulturkreis verankert oder verwurzelt (eben embedded) sind und sonst nirgends Fuß fassen. Das einzige Beispiel für diesen Typus sind die kapitalstarken, regierungsunabhängigen Ostindienkompanien. Sie sind also auch nach dieser Typenlehre Unikate.
In Teil II geht es zunächst um den ersten Typus, die universalen Bausteine des Handels (u.a. der reisende Kaufmann, das Schiff, die Familie, bilaterale Darlehen und Vertretungsverhältnisse) und dann um die Migration dieser Typen über die Grenzen der Kultur- und Wirtschaftsräume hinweg. Damit ist der mittlere der drei genannten Typen ins Visier genommen. Ein wichtiges Beispiel ist das Seedarlehen, bei dem der Gläubiger für seine Bereitschaft, das Risiko des Unternehmens zu tragen und im Fall des Scheiterns auf seinen Rückzahlungsanspruch zu verzichten, mit einem hohen Zins belohnt wird. Auch die Fremdenherberge oder Karawanserei (griechisch pandokion – arabisch funduk – italienisch fondaco) passt hierher; dazu übernimmt Harris Erkenntnisse des ausgezeichneten Buchs Housing the Stranger in the Mediterranean World (2003) der jung verstorbenen Olivia Constable. Das Herzstück dieses Teils aber ist Kapitel 5, das die commenda-artigen Handelsverträge untersucht, also jene fast überall verbreiteten, primär im See-, aber auch im Landhandel eingesetzten Verträge, die von der Arbeitsteilung zwischen dem Investor (socius stans) und dem aktiven Kaufmann (tractator) geprägt sind. Verträge dieses Typs – nur in Genua und im genuesischen Einflussbereich war ihr historischer Name wirklich commenda – begegnen tatsächlich im byzantinischen, arabischen, jüdischen, mediterranen, hansischen (und, wie ergänzt sei, als felag und hjafelag auch im skandinavischen) Handel. Ob dieser Typus wirklich von einer zur anderen Gegend »gewandert« ist oder aber an mehreren verschiedenen Orten unabhängig von den anderen entwickelt wurde (und daher doch eher zu Harris’ Typ 1, den universalen Institutionen gehört), wird sich kaum entscheiden lassen und ist vielleicht auch nicht so wichtig.
Teil III verfolgt dann die drei Alternativen, die es zu den Kolonialhandelskompanien hätte geben können, und die im 16. oder bereits im 15. Jahrhundert bemerkenswerte Erfolge bei den Errichtungen von Handelsimperien erzielt hatten: den Familiengesellschaften, den kaufmännischen Netzwerken und den staatlich geleiteten Handelsunternehmungen.
Teil IV behandelt die beiden Ostindienkompanien, wobei übrigens die VOC im Durchschnitt der Jahre etwa doppelt so viele Schiffe nach Asien schicken konnte wie die EIC. Obwohl zwei Jahre älter, erscheint die englische Gründung als Reaktion auf die holländischen Aktivitäten, denn bereits vor der Jahrhundertwende wurden in Amsterdam einige Vorkompanien gegründet, die Ostindienschiffe ausrüsteten und auf die Reise schickten.
Eine besondere Rolle spielt das letzte, 12. Kapitel. Hier untersucht Harris, warum die drei anderen Regionen, der arabisch-vorderasiatische Raum, Indien und China, den Organisationstyp der Fernhandelskompanien nicht ausgeprägt haben. Vereinfacht gesagt bestand dafür in Arabien und Indien kein Bedarf, weil man die begehrtesten Produkte entweder selbst hatte oder mit geringerem Aufwand aus der Nachbarregion beschaffen konnte. In China hingegen hätte das stark zentralisierte, auf den kaiserlichen Hof zugeschnittene Regierungssystem keinen Staat im Staate zugelassen, wie ihn die beiden Ostindienkompanien darstellten und dem man die für freies, gewinnorientiertes wirtschaftliches Handeln nötigen Freiräume zugestanden hätte.
Soweit ein kurzer Bericht über den Gedankengang. Was sind die Besonderheiten des Buchs und seiner Forschungsperspektive? Drei Punkte sind hervorzuheben:
Zum einen handelt es sich, obwohl der Autor Jurist und Rechtshistoriker ist, um ein wenig rechtshistorisches Buch, jedenfalls nicht in einem traditionellen Sinne. Es wird hier eben ökonomische Institutionengeschichte im Stile von Douglass North und keine juristische Institutionengeschichte im Sinne von Andreas Heusler (vgl. seine Institutionen des Deutschen Privatrechts, 1885/86) betrieben. Harris hat seine Terminologie entweder selbst entwickelt oder von den Wirtschaftshistorikern übernommen. Die Untersuchung kommt ohne| eigene Archivbesuche und Quellenanalysen aus, stützt sich vielmehr auf die Studien anderer. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn Harris über die historischen Phänomene berichtet: Dies geschieht immer indirekt, also gewissermaßen aus einer gebrochenen Perspektive. Harris ist von der Qualität der Quellenstudien anderer abhängig. Die Feststellung von Unterschieden kann also immer auf Unterschieden in der Sache oder auf Unterschieden in der Sekundärliteratur, auf die Harris sich stützt, beruhen. Das ist keine Kritik, denn allein auf eigene Forschung lässt sich eine räumlich und zeitlich so breit angelegte Studie nicht stützen. Als Gegengewicht für die vorherrschende Vogelflugperspektive dienen die über das Buch verteilten Mikrostudien. Sie sind besonders spannend und seien deshalb eigens zur Lektüre empfohlen. Da sie im Inhaltsverzeichnis oder einem Register (ebenso wenig wie die zahlreichen Grafiken und Tabellen) nicht eigens aufgezählt werden, seien einige von ihnen hier genannt: Der antike Handel zwischen Ägypten und Indien nach dem Muziris-Papyrus aus der Mitte des 2. Jahrhunderts n.Chr. (69–79), der Handel in den Oasen der Seidenstraße im 7.–10. Jahrhundert laut der in Turfan und Dunhuang in Westchina gefundenen Verträge (80–86), die arabischen Schiffstypen im Indischen Ozean anhand eines in Indonesien gefundenen Schiffswracks aus dem 9. Jahrhundert (87–92) usw.
Zum zweiten trägt die oben skizzierte Typenlehre über den konkreten Zusammenhang hinaus einen vielversprechenden Gedanken zur Rezeptions- bzw. Legal transplant-Debatte bei. Vor allem die mittlere Stufe (migrating law) enthält einiges Potential. Mit der Vokabel migratory wird die nicht sehr ertragreiche terminologische Debatte um Rezeption, Transfer und Transplantation umgangen. Dadurch wird der Blick frei für eine unbefangenere Erörterung der Phänomene, die mit der Übertragung oder Übernahme fremder Rechtsinstitute zu tun haben, welche Faktoren die Übernahme erleichtern oder erschweren und wie die Institute sich in ihrem neuen Milieu verändern. Ausdrücklich kommt Harris auf diesen Zusammenhang nur zweimal kurz zu sprechen. Auf S. 100–109 stellt er eine anregende Grundsatzüberlegung darüber an, welche Faktoren Migration fördern und behindern. Auf S. 366f. unterscheidet er u.a. zwischen Rezeption auf verschiedenen Abstraktionsstufen (Übernahme einer Grundidee oder eines Instituts in allen Details) und weist auf das stets in Rechnung zu stellende Widerstandspotential der etablierten einheimischen Strukturen und den dadurch entstehenden Anpassungsdruck hin. Doch auch unausgesprochen ist diese Frage im ganzen Buch immer präsent.
Zum dritten ist das Buch von Ron Harris eine gute Nachhilfestunde zum Thema Eurozentrismus. Das Heimatland des Autors ist neben Ägypten das einzige Land mit Küsten am Mittelmeer und am Roten Meer/Indischen Ozean. Aus dieser eurasischen Perspektive rücken die Niederlande und England erst recht in eine Randlage im äußersten Nordwesten: Der geographische Nachteil stellte diese beiden Länder vor eine besonders hohe Herausforderung, auf die sie mit einer sehr effektiven Antwort reagierten. Allgemeiner gesagt ist es wohl der wichtigste Aspekt an Ron Harris’ Monographie, dass er vier Rechtskreise und Wirtschaftsregionen vergleicht, die sonst kaum jemals gleichberechtigt zwischen zwei Buchdeckeln Platz finden: Westeuropa, der vor allem arabisch geprägte Nahe Osten, Indien und China. Harris hält sich dabei nicht lange mit statischen Vergleichen auf, sondern interessiert sich in erster Linie für Beeinflussungen, Interdependenzen und Übernahmen von Ideen und Institutionen. Nur auf diesem methodischen Fundament kann er dann punktuell die Einzigartigkeit einer bestimmten Institution ausmachen. In seinem Fall sind das die beiden westeuropäischen Ostindienkompanien, die 1600/1602 eine Organisationsrevolution auslösten.
* Ron Harris, Going the Distance. Eurasian Trade and the Rise of the Business Corporation, 1400–1700. Princeton/Oxford: Princeton University Press 2020, XIII + 465 S., ISBN 978-0-691-15077-2