(Un)Freiheiten der gallikanischen Kirche – neu vermessen*

[(Un)Freedoms of the Gallican Church – a New Assessment]

Christoph H. F. Meyer Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main cmeyer@lhlt.mpg.de

Unter den verschiedenen Spielarten frühneuzeitlichen Staatskirchentums nimmt der Gallikanismus eine Sonderstellung ein. Darauf deutet bereits das vergleichsweise starke und anhaltende Interesse der Forschung an den sog. Freiheiten der gallikanischen Kirche hin, die in Theorie und Praxis gegenüber dem Papsttum reklamiert und mitunter fast im gleichen Atemzug dem französischen Königtum bzw. Staat zugeordnet wurden. Die Frage, was den Gallikanismus letztlich ausmacht, ist allerdings nicht leicht zu beantworten. Das Wort gallicanisme hat sich erst seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Terminus technicus durchgesetzt, der jedoch weniger abdeckt als der ältere zeitgenössische Ausdruck libertés de l’Église‍‍‍ gallicane. Skepsis gegenüber einer umfassenden Definition ist schon angesichts des großen zeitlichen Rahmens geboten, der von 1302 (Bulle Unam Sanctam) über die Französische Revolution hinaus letztlich bis zur Trennung von Kirche und Staat in Frankreich (1905) reicht. Tatsächlich hat sich schon seit Längerem die Auffassung durchgesetzt, dass man nicht von dem Gallikanismus schlechthin, sondern nur von verschiedenen Gallikanismen (z.B. des Königtums, der französischen Kirche, der Parlamente) sprechen kann. Das so erzielte Einvernehmen birgt allerdings die Gefahr, dass der Gegenstand sich allmählich auflöst und mittelbar an Präsenz in der Forschung verliert. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Sammelband zu sehen, dem 2022 eine entsprechende Tagung vorausging. Die Aufsatzsammlung soll zumindest versuchsweise eine Idealvorstellung vom Gallikanismus liefern, Kontinuität und Wandel des Phänomens über einen langen Zeitraum erkennbar machen und durch eine Betrachtung im europäischen Kontext Klarheit über mögliche Eigentümlichkeiten im Verhältnis von Kirche und Staat in Frankreich verschaffen (8).

Sieht man einmal von Catherine Maires kurzer Einleitung (7–8) und dem nicht viel umfangreicheren Schluss (219–221) von Bernard Bourdin ab, sind die in dem Buch enthaltenen elf Beiträge vier Teilen und damit auch vier Themengebieten zugeordnet. Von diesen umfassen der erste und |der‍‍‍ vierte Teil jeweils zwei Aufsätze und bieten eine Vorgeschichte bis zum frühen 16. Jahrhundert bzw. einen Ausblick auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert. Demgegenüber enthalten der zweite und dritte Teil vier bzw. drei Artikel, die einerseits theoretische Aspekte und politische Konflikte über das Verhältnis von Kirche und Staat im frühneuzeitlichen Frankreich und andererseits den größeren europäischen Zusammenhang beleuchten, d.h. ähnliche Phänomene in oder Bezüge zu anderen Ländern Europas in der Frühneuzeit. Ein etwas ausführlicheres Autoren- (223–227) und Inhaltsverzeichnis (229–232) beschließen den Band.

Worum geht es nun in den einzelnen Aufsätzen? Der erste Teil (I Quelles définitions?, 11–53) bietet zunächst einen von Yves Sassier verfassten Überblick zu den spätmittelalterlichen Ursprüngen des Gallikanismus (Aux origines médiévales du gallicanisme: les XIVe et XVe siècles, 11–28). Darauf folgt eine Detailstudie von Jean-Paul Durand (Conciliarisme et mainmises d’états modernes naissants, 29–53), in deren Mittelpunkt die Rolle des Fünften Laterankonzils (1512–1517) im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung der Päpste Julius II. und Leo X. mit den Königen Ludwig XII. und Franz I. um den politischen und rechtlichen Zugriff auf die französische Kirche steht.

Mit dem zweiten Teil (II Recherches de l’équilibre [XVIe–XVIIIe sièles], 57–132) ist der erste der beiden Schwerpunkte des Bandes erreicht, und zwar die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit gallikanischen Positionen in Theorie und Praxis der Frühneuzeit. Den Anfang der vier chronologisch geordneten Aufsätze bildet eine Untersuchung von Frédéric Gabriel (L’historiographie gallicane comme téléologie politique?, 57–80) zur gallikanischen Historiographie, in deren Mittelpunkt die Konzilien der Alten Kirche und die Figur Gregors VII. im Werk des Guy Coquille (1523–1603) stehen. Darauf folgt ein Aufsatz von Blandine Wagner (Aux origines de la déclaration des quatre articles: la querelle de la régale, 57–94), die insbesondere den politisch-ereignisgeschichtlichen Verlauf des sog. Regalienstreits als Ursprung der Vier Gallikanischen Artikel von 1682 nachzeichnet. Etwas aus dem Rahmen fällt der dritte Aufsatz, den man eher im folgenden Teil erwarten würde. Catherine Maire (Le fébronianisme est-il un gallicanisme ou inversement?, 95–110) geht darin auf Johann Nikolaus von Hontheims (1701–1790) Febronius, die Rezeption des Werks in Frankreich und das Verhältnis von Febronianismus und Gallikanismus ein. Der zweite Teil endet mit Gérard Pelletiers Blick auf die Constitution civile du clergé von 1791 (La constitution civile du clergé, sommet et fin d’une ecclésiologie?, 111– 132). Der Verfasser analysiert zwei Schriften des Gallikaners Pierre-Toussaint Durand de Maillane (1729–1814) vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und ihres Verhältnisses zum Gallikanismus.

Mit dem dritten Teil des Bandes (III Le gallicanisme au prisme européen, 135–184) verschiebt sich die Perspektive in Richtung auf thematisch relevante Aspekte im frühneuzeitlichen Europa. Den Auftakt dazu bildet Bernard Bourdins Untersuchung über den von Jakob I. von England geforderten Treueeid (Le serment de Jacques Ier d’Angleterre: un gallicanisme à l’anglaise, 135– 152). Was prima facie vielleicht randständig erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als ein interessanter Blick auf den Gesamtgegenstand aus ungewöhnlicher Perspektive, behandelt doch Bourdin insbesondere die literarische Auseinandersetzung zwischen Jakob I. und Robert Bellarmin (1542–1621) über den englischen Katholiken 1606 auferlegten Oath of Allegiance und seine theologischen Hintergründe. Hinsichtlich des folgenden Artikels mag man sich fragen, ob er anstelle von Maires Febronianismus-Studie nicht besser im zweiten Teil aufgehoben gewesen wäre. In dem betreffenden Aufsatz untersucht Brigitte Basdevant-Gaudemet (La réception des actes romains dans le royaume de France, XVIIe– XVIIIe siècles, 153–171) sehr versiert bei den gallikanischen Kanonisten des 17.–18. Jahrhunderts Mechanismen der Rezeption von römischen Entscheidungen im Königreich Frankreich. Den Abschluss des dritten Teils bildet Marina Caffieros Untersuchung (L’idée de l’obscurcissement général de la vérité de la religion, le synode de Pistoia [1783], 173–184) zu der jansenistisch-febronianistischen Synode von Pistoia (1783) und der Vorstellung einer allgemeinen Verdunkelung der Wahrheit der Religion – ohne dass jedoch konkrete Bezüge zwischen der jansenistischen Gedankenwelt dieser Kirchenversammlung und dem Gallikanismus herausgearbeitet werden.

Der letzte Teil des Sammelbands bietet zwei Studien zur Spätphase des Gallikanismus nach der Französischen Revolution (IV Le siècle du Concordat de 1802, 187–218). Die erste stammt von Patrice Gueniffey und gilt dem Konkordat |zwischen Frankreich und dem Apostolischen Stuhl, das von Napoleon Bonaparte und Pius VII. 1801 geschlossenen wurde (Le Concordat: un nouveau gallicanisme?, 187–197). Der Abriss des Geschehens lässt klar erkennen, dass die im Titel enthaltene Frage, ob es sich hier um eine neue Art von Gallikanismus handeln könnte, zu verneinen ist. Im letzten Beitrag des Bandes verfolgt Julien Barroche (Le gallicanisme par-delà la Révolution, 199–218) schließlich das subkutane Fortleben des Gallikanismus oder zumindest gallikanischer Traditionen im Laizismus des französischen Staates des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Der vorliegende Band bietet auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes gleichermaßen gute Überblicksdarstellungen und Detailstudien zumeist zu wichtigen Aspekten des Gallikanismus. Einige Aufsätze zeichnen sich zudem durch ihren innovativen Zugang aus. Leider wird jedoch kein Versuch unternommen, die Erträge, die sich aus den einzelnen Beiträgen ergeben, mit Blick auf die in der Einführung genannten Ziele des Buchprojekts zusammenzufassen. Die Gründe dafür dürften nicht zuletzt personeller Natur sein, stehen doch die Ursprünge der Tagung, auf welche die Aufsatzsammlung zurückgeht, in enger Verbindung mit der dadurch geehrten Catherine Maire, d.h. einer Herausgeberin des Bandes (219), die 2019 eine umfangreiche Monographie zu diesem Thema veröffentlicht hat.1

Allerdings, und das führt zu der aus Sicht des Rezensenten größten Schwächte des Sammelbandes, würde eine Bilanz oder Synthese auch nicht ganz leichtfallen, denn es ist ein Ungleichgewicht zwischen der nationalen französischen Entwicklung und dem europäischen Kontext erkennbar, der etwas zu kurz kommt. So zeichnet sich in Bezug auf die im Buchtitel gestellte Frage nach dem Gallikanismus als französischer Besonderheit unausgesprochen eine eher affirmative Antwort ab. Ein solches Ergebnis ist durchaus nachvollziehbar. Trotzdem ist die Schieflage bedauerlich, denn ohne sie wäre man womöglich methodisch und in der Sache um einiges weitergekommen. Zumindest hätte eine umfassendere vergleichende Perspektive einen wichtigen Beitrag zu einer Neuakzentuierung des Gallikanismusbegriffs liefern können. Zu denken wäre etwa an die Frage einerseits nach dem genuin religiösen Gehalt der vom Allerchristlichsten König beanspruchten und ausgeübten »Schutzherrschaft« über die katholische Kirche in Frankreich und andererseits der säkularisierenden Wirkung der gallikanischen Freiheiten. Vergleichende Befunde z.B. zum Febronianismus als Form reichskirchlicher Selbstsäkularisierung hätten hier vielleicht Hinweise auf übergeordnete strukturelle Faktoren liefern können, die sich nicht ohne weiteres in die überkommene Meistererzählung vom Gallikanismus einfügen und sie in ein neues Licht rücken.

Ungeachtet solcher Desiderate bleibt es ein wesentliches Verdienst des Sammelbandes, ein klassisches Thema der französischen Verfassungsgeschichte wie der Kirchenrechtsgeschichte auch aus vergleichender Perspektive neu in den Blick genommen zu haben. Schon dadurch ergeben sich wertvolle Anstöße für eine Wiederannäherung an einen nur scheinbar vertrauten Gegenstand.

Notes

* Catherine Maire, Bernard Bourdin, Patrice Gueniffey (dir.), Le »gallicanisme«: une singularité française?, Paris: Les éditions du cerf 2023, 246 p., ISBN 978-2-204-15986-9

1 Catherine Maire, L’Église dans l’État. Politique et religion dans la France des Lumières, Paris 2019.