Die übersehenen Experten – zur Rolle von Juristen in der Europäischen Union*

[The Overlooked Experts – On the Role of Lawyers in the European Union]

Jan-Henrik Meyer Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main jmeyer@lhlt.mpg.de

Experten haben kein gutes Image, nicht erst seitdem der damalige britische Justizminister Michael Gove im Juni 2016 während der Brexit-Referendums-Kampagne äußerte, die Briten hätten »genug von Experten«, und zwar insbesondere von solchen, deren Voraussagen sich im Nachhinein als unzutreffend herausstellten. Kritik an Experten, die die Fähigkeit für sich in Anspruch nehmen, sachlich-rational auf der Basis höheren, oft technischen Wissens zu beraten und die objektiv bestmögliche Entscheidung zu empfehlen, kennzeichnet die politische Debatte spätestens seit den 1970er Jahren. So kritisierten soziale Bewegungen diesseits und jenseits des Atlantiks die Dominanz von technokratischen Experten-Entscheidungen – z.B. bzgl. der Atomkraft – und forderten stattdessen mehr demokratische Teilhabe.

Experten sind trotz allem aus dem politischen Prozess nicht wegzudenken, gerade auch im Rahmen der Produktion und Ausgestaltung europäischer Politik in der Europäischen Union (EU). Auf EU-Ebene ist die Verwendung des Expertenbegriffs |dabei sehr offen: »Nationale Experten« sind auch Fachleute und Beamte aus der Verwaltung der Mitgliedsstaaten, aus Landes- und Bundesministerien, die sich im Ratsgebäude mit ihren europäischen Partnern zur Diskussion und Aushandlung von Gesetzesvorlagen treffen. Politische Soziologie und Politikwissenschaft, Science und Technology Studies (STS), EU- und Wissenschaftsgeschichte haben vielfältige Forschung zu Expertise in der nationalen, europäischen und internationalen Politik vorgelegt. Dabei standen bisher vor allem technische Experten aus Ingenieurs-, Natur- und Wirtschaftswissenschaft im Vordergrund.

Die Rolle von Juristen als Experten ist dagegen bis heute wenig untersucht. Diese Lücke versucht der Band »Law, Legal Expertise and EU-Policy-Making«, den die beiden finnischen Jura-Professorinnen Emilia Korkea-aho und Päivi Leino-Sandberg herausgegeben haben, zu schließen. Sie fügen dabei ihre eigene EU-Politik-Expertise – bei Korkea-aho zu Lobbying und der Rolle von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und von Leino-Sandberg zu EU-Institutionen wie dem Europäischen Parlament (EP)1 – auf produktive Art und Weise zusammen. Für diesen sehr gelungenen Band haben die Herausgeberinnen 14 internationale Expertinnen und Experten, vor allem aus Jura und Soziologie, gewinnen können. Die Beiträge zeigen, aus welcher Vielzahl von konzeptionellen und empirischen Perspektiven man auf die Rolle juristischer Expertise im EU-Politikprozess blicken kann. Dies reicht von Anu Bradfords Blick auf die internationalen Konsequenzen europäischer Politik bis hin zu einem Interview mit dem im deutschsprachigen Raum inzwischen recht prominenten Verfassungsblog-Gründer Maximilian Steinbeis, der ein neues Expertenforum bzw. Online-Experten-Medium betreibt, in dem EU-Recht eine zentrale Rolle hat und zu dessen Popularisierung der Verfassungsblog zweifelsohne beiträgt.

Der Band ist keine Buchbindersynthese, sondern verfolgt Leitkonzepte und -fragen, die die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung entwickeln und die von den Beiträgen aufgenommen werden.

Startpunkt der Untersuchung ist die Frage, warum juristische Expertise bisher von der Forschung weitgehend übersehen wurde. Während sich juristische Forschung und Praxis schon lange mit den Herausforderungen des Umgangs mit technisch-wissenschaftlicher Expertise beschäftigt habe, sei die Reflexion der eigenen Expertise außerhalb des Gesichtsfelds geblieben. Zu diesem blinden Fleck habe sicher auch beigetragen, dass es Teil der juristischen Selbstbeschreibung und des professionellen Ethos’ sei, »›technisch‹, ›unparteiisch‹, ›unpolitisch‹« (5), zu sein. Bisher hatte vor allem die Rechtssoziologie einen kritischeren Blick auf solche professionellen Mythen geworfen. Forschungen zur Rolle von juristischer Expertise in der Politikgestaltung (policy-making) gebe es vor allem für die USA. Die Situation in Europa sei trotz der großen Bedeutung von Jura-Experten z.B. im für die Akzeptanz des EU-Rechts, dessen Vorrang und dessen konstitutionelle Natur höchst einflussreichen »Integration durch Recht«-Projekt der 1980er Jahre bisher weitgehend unerforscht geblieben. Vor diesem Hintergrund baut der Band auf der vor allem in Frankreich sehr starken Rechtssoziologie auf. Es überrascht allerdings, dass die in den letzten zehn bis 15 Jahren von Kopenhagen ausgehende, in mehreren Projekten verstärkte rechtshistorische Forschung hier keine Erwähnung findet. Diese zeigt u.a. auf, wie EU-Rechtsexperten aus dem Juristischen Dienst der Kommission, ihrer Zeitschriften und Vereinigungen EU-Recht und die Idee von dessen Vorrang und besonderer Natur popularisiert haben.2

Als Projekt zwischen Jura und Rechtssoziologie soll der Band nicht so sehr die Rolle juristischer Expertise im Hinblick auf die großen, prinzipiellen Fragen der Integration, sondern ihre Bedeutung in der konkreten Alltagspolitik untersuchen. Hier stellen sich die oben bereits angerissenen Herausforderungen, die auch für Rechtsexperten gelten: Die Widersprüche zwischen Expertise und Demokratie und gleichzeitig die Notwendigkeit von Expertise für die Politikgestaltung führten dazu, policy-making und die demokratische politische Konfliktdimension (politics) voneinander zu trennen. Dabei sei – so die Herausgeberinnen – das zunehmende Misstrauen gegenüber Experten nicht nur ein politisches Problem. Es wurde auch |zum Problem rechtstaatlichen demokratischen Regierens (»constitutional democratic governance«, 8). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie und wo sich juristische Expertise im Hinblick auf ihre Rolle zwischen policy-making und politics verortet, d.h. wie politisch sie sich selbst sieht bzw. gesehen wird. Neben dieser Dichotomie schlagen die beiden Herausgeberinnen eine analytische Unterscheidung zwischen »interner« und »externer« juristischer Expertise vor. Interne juristische Expertise soll dabei die in staatlichen und europäischen Institutionen tätigen und mit policy-making betrauten Juristen bezeichnen. Externe juristische Expertise findet sich in NGOs, Lobby-Verbänden, Kanzleien und Universitäten.

Auch methodisch sind die Beiträge sehr vielfältig, einige sind stärker empirisch und basierend auf Interviews verbunden mit der Absicht, Verhaltensmuster in unterschiedlichen Kontexten herauszuarbeiten, andere eher normativ.

Vier Leitfragen ziehen sich durch die Beiträge: 1. Wer sind die Rechtsexperten (legal experts)? 2. Wie »rahmen« (frame), formen und gestalten (shape) sie Probleme (issues), mit denen sie sich im Prozess der Politikgestaltung auseinandersetzen? 3. Wie interagieren sie mit anderen Rechtsexperten, mit denen sie ggf. im Wettbewerb stehen, in Situationen, in denen es zur Vermischung verschiedener Rechtsexpertise kommt? Und schließlich: 4. Inwiefern unterscheiden sich Rechtsexperten von anderen Personen, die Politikexpertise bereitstellen?

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil beschäftigt sich mit theoretischen und konzeptionellen Fragen. So zeigt Martti Koskienniemi am Beispiel des internationalen Rechts, wie sich Rechtsexpertise konzeptionalisieren lässt und welche Aspekte hiervon auch für das Europarecht instruktiv wären. Mittels eines Framing-Ansatzes analysiert Martin Windsor, wie Juristen-Experten Probleme auswählen, hervorheben, deuten und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Sich dieser Effekte bewusst zu sein, hilft juristischer Selbstreflexion. Gleichzeitig ermöglicht es den strategischen Einsatz solcher Effekte in der Praxis. Die prominenten Rechtssoziologen Antoine Vauchez und Pierre France übertragen eine französische Debatte über die Neoliberalisierung des Rechts in den EU-Kontext. Sie untersuchen, inwieweit privatwirtschaftlich organisierte und orientierte Rechtsexperten wie Großkanzleien und Anwälte Gesetzgebung vorbereiten und damit als keineswegs unabhängige Mittler zwischen Mitgliedsstaaten, EU-Institutionen, Interessenverbänden und Marktakteuren auftreten. Der EU-Verbraucherrechtsexperte Hans Micklitz reflektiert in seinem Beitrag über den Zusammenhang zwischen Rechtsexpertise und Rechtsprofession und warnt vor einer drohenden De-Professionalisierung des Rechts im europäischen Verwaltungsstaat.

Teil Zwei beschäftigt sich mit der Rolle von Rechtsexpertise von innen. Welchen Erwartungen an ihre Expertise und welchen praktischen Herausforderungen sich Juristen gegenüber sehen, die für das Europäische Parlament tätig sind, zeigt Herausgeberin Leino-Sandberg auf. Auch in nationalen Ministerien, wie insbesondere der von Brexit-Krisen geschüttelten britischen Regierung, mussten EU-Rechtsxperten zwischen parteipolitischen Anforderungen und rechtlichen Möglichkeiten jonglieren. Welche Rolle EU-Rechtsexperten in Drittländern spielen, die von europäischen Regeln, dem »Brussels effect«, betroffen sind, und wie diese versuchen, auf die EU zurückzuwirken, demonstriert Anu Bradford. Fernanda Nicola und Chris Kimura diskutieren die Rolle juristischer Handelsexpertise im Kontext sich zunehmend politisierender und medial diskutierter internationaler Handelspolitik und -abkommen, für die die Kommission zuständig ist.

Der dritte Teil zeigt die Perspektive externer EU-Rechtsexpertise. Dazu gehört die in der Literatur zum Lobbying oft erwähnte, aber wenig untersuchte Rolle von Juristen als Lobbyisten. Wie sich die zentrale Rolle von Anwälten und Kanzleien als Lobbyisten der Privatwirtschaft ausgehend vom Wettbewerbsrecht und unter Beteiligung amerikanischer Kanzleien herausgebildet und strukturiert hat, zeigt Lola Avril. Die Ausstattung Brüsseler NGOs mit juristischer Expertise – hier am Beispiel von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen – ist dagegen eher prekär und die Flexibilitätsanforderungen sind besonders herausfordernd für die dort tätigen Juristinnen und Juristen, wie Herausgeberin Korkea-aho aufzeigt. Ähnliches berichten Maria Lee und Carolyn Abbot über die Rolle von Jura-Expertise im Umweltrecht im Gefolge des Brexits in Großbritannien. Hier ging es nicht nur um die Verteidigung, sondern auch um die Anpassung des Umweltrechts an die neuen administrativ-rechtlichen Strukturen. Die diffuse, wenig sichtbare Vermittlung von Rechtsexpertise aus der akademischen Welt in den politischen und den öffentlichen Raum diskutieren die beiden |letzten Beiträge. Durch Lehre und Forschung, vor allem aber auch durch Forschungsaufträge und Projekte, wird wissenschaftliche Expertise in Politik eingespeist. Ihre Wirkung ist schwer und – im Fall der Lehre – höchstens langfristig nachzuweisen. Wie ein Internet-Forum wie der Verfassungsblog über den experten- und allgemein-öffentlichen Raum in die europapolitische und -rechtliche Debatte einwirkt, welche Grenzen und Möglichkeiten bestehen, und wie nicht nur Strukturen, sondern auch Personen hier vermitteln, macht das Interview mit Forumsherausgeber Steinbeis deutlich.

Im Schlusskapitel, das den Band und die Leitfragen noch einmal systematisch zusammenführt, arbeiten Korkea-aho und Leino-Sandberg heraus, was wir über EU-Rechtsexpertise lernen können. Das Feld erweist sich als extrem vielgestaltig. Interne und externe Experten wechseln die Position. Zum Experten wird man nicht nur durch formales juristisches, sondern auch durch Erfahrungswissen; soziale und relationale Faktoren sind oft wichtiger als Staatsexamina. Die Herausgeberinnen schlussfolgern, dass EU-rechtliche Expertise sich kaum von anderen Formen von Expertise unterscheide: Nicht zuletzt müssten auch juristische Experten ihre Anpassungsfähigkeit und Problemlösungsfähigkeit unter Beweis stellen, um in EU politics und policy-making erfolgreich zu sein.

Bücher sprechen vor allem durch Worte. Dieser Band soll aber auch durch sein sehr schönes Umschlagbild von Katia Tukiainen eine normative Zukunftsbotschaft weitergeben (15): Statt alter weißer Männer in grauen Anzügen, den bisherigen prototypischen Experten, soll das farbenfrohe Bild von Mädchen, die auf ein Meer aus Flaggen blicken, eine Zukunftsvision rechtlicher Expertise geben, die viel bunter und vielfältiger und somit vielleicht auch demokratischer sein könnte.

Notes

* Emilia Korkea-aho, Päivi Leino-Sandberg (eds.), Law, Legal Expertise and EU Policy-Making, Cambridge: Cambridge University Press 2022, IX + 325 p., ISBN 978-1-108-83012-6

1 Siehe auch Päivi Leino-Sandberg, The Politics of Legal Expertise in EU Policymaking, Cambridge 2021.

2 Morten Rasmussen, Towards a Legal History of European Law, in: European Papers 6,2 (2021), 923–932; Rebekka Byberg, A Miscellaneous Network: The History of FIDE 1961–94, in: American Journal of Legal History 57,2 (2017), 142–165.