Seit 1970 ist Richterinnen und Richtern am Bundesverfassungsgericht mit dem »Sondervotum« ein – wie es der Verfasser bezeichnet – »Instrument« im Rahmen ihrer Rechtsprechung gegeben, zusammen mit dem Urteil des kollektiv entscheidenden Senates auch eine abweichende persönliche Meinung der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben. Das BVerfGG legt in §30 Abs. I S. 1 fest, dass das BVerfG »in geheimer Beratung« entscheidet. Die maßgebende Bestimmung in §30 Abs. II S. 1 lautet: »Ein Richter kann seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederlegen; das Sondervotum ist der Entscheidung anzuschließen.« Außerdem können die Senate »in ihren Entscheidungen das Stimmenverhältnis mitteilen.« Nach der Geschäftsordnung des BVerfG findet eine namentliche Veröffentlichung von Sondervoten auch in den amtlichen Entscheidungssammlungen des BVerfG statt.
Das Sondervotum individualisiert somit eine Entscheidung innerhalb des Richterkollegiums zu Lasten abgeschlossener Eindeutigkeit und Rechtssicherheit i.S. des historischen Ideals eines »ius certum«; zugleich relativiert die Veröffentlichung den Grundsatz geheimer Beratung des §43 des DRiGs. Andererseits vermag »potentielle Vieldeutigkeit« eine offene wissenschaftliche Diskussion zu beleben, wie der Autor im Vorwort dieser gründlichen Dissertation hervorhebt. Insofern betrifft diese Publikation auch Aspekte aktueller Fragestellungen, nämlich wie »Normativitätswissen« entsteht bzw. hergestellt wird.1
In diesem Sinne untersucht der Autor auf Grund der vorliegenden Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die Funktionen des Sondervotums im – »staatlich« genannten – »Gesamtgefüge« bzw. Rechtssystem. Ein kurzer Blick auf die Entstehung des Sondervotums in den USA und in Großbritannien zeigt den Modellcharakter der »dissenting« (Abweichung von der Entscheidung des Gerichts) und »concurring opinions« (abweichende Begründung) mit der heutigen Tendenz, den Individualentscheidungen gegenüber dem Kollegialgericht vermehrt Publizität einzuräumen (18). Ein kurzer historischer Rückblick auf die deutsche Entwicklung – beginnend mit »Reformen Karls des Großen« (!) – wirkt wie eine aufgesetzte Pflichtübung ohne echten | Ertrag, zumal sich diese nur auf ältere Literatur stützt und z.B. die reichen aktuellen Forschungen zu Reichskammergericht und Reichshofrat außer Acht lässt. Rechtsvergleichung ist, so erkenntnisreich sie wäre, bewusst ausgeschlossen.
Der erste Teil der Untersuchung ist den verschiedenen Anläufen und dem Meinungsstreit zur gesetzlichen Einführung des »Sondervotums« seit dem 19. Jh. gewidmet: nämlich den Debatten von 1879 um das Gerichtsverfassungsgesetz, die Gründung des BVerfGs 1951, das Deutsche Richtergesetz 1961, den 47. Deutschen Juristentag 1968 und schließlich die Reform des BVerfGGs von 1970 mit der Einführung des Sondervotums. In einem zweiten Teil untersucht der Autor die Funktionen, die dem Sondervotum nach der Einführung in der Gerichtspraxis zugekommen sind.
Überblickt man die Argumente, so kann man feststellen, dass die genannten Gründe des Pro und Contra innerhalb dieser gut hundert Jahre sich wenig geändert haben – jedoch mit wechselndem politisch motiviertem Schwerpunkt zugunsten des Sondervotums: Sicherung des Beratungs- und Abstimmungsgeheimnisses als »Palladium« richterlicher Unabhängigkeit; Überzeugung der Öffentlichkeit durch Offenlegung aller Entscheidungsgründe; Belebung des Dialogs zwischen »Volk und Richter«; Sondervoten als Ausdruck richterlicher Eitelkeit; Vorteil wissenschaftlicher Fortentwicklung des Rechts; Gefahren für Ansehen und Autorität des Gerichts; parteipolitische Argumentation als Störung des Rechtsfriedens und der Kollegialität innerhalb des Gerichts; Auflockerung der Anonymität des Richterstandes; offener Umgang mit Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Kollegialgerichts; Abwehr »fremder« Rechtstradition aus USA und Großbritannien; zusätzliche Arbeitsbelastungen des Gerichts durch Sondervoten; gestärkte Transparenz des offen gelegten gerichtlichen Entscheidungsprozesses; Stärkung richterlicher »Verantwortungsfreude«. Dies sind die oft wiederkehrenden Hauptargumente in den Diskussionen. Erstaunlich modern war 1879 der – chancenlose – Vorschlag von Lasker zum GVG, dass jeder Richter seine von der Mehrheitsentscheidung »abweichende Ansicht bei der Verkündung des Urteils aussprechen und begründen darf« (30–32).
Aus der – keineswegs vollständigen – Aufzählung sind unschwer die Argumentationslinien zwischen Befürwortern und Gegnern des Sondervotums zu erkennen. Sie spiegeln parteipolitische, gesellschaftspolitische und verfassungsrechtliche Positionen wider. Liberale Staatsauffassungen und Forderungen nach Stärkung der Bürgerrechte beflügeln in der Gründungsphase des BVerfGs 1951 die Diskussion um die Einführung des Sondervotums. Namentlich der »Kronjurist« der SPD Adolf Arndt warb differenziert nach Verfahrensarten für die Einführung des Sondervotums. Von konservativer parteipolitischer Seite wurde 1950 eingewandt, dass die junge Bundesrepublik noch kein »in seiner Grundsubstanz absolut gesichertes Staatsleben« repräsentiere »mit der Tradition der Achtung vor dem richterlichen Spruch« (39). Die Erfahrungen des NS-Staates wirkten nach, zumal 1956 noch 79% der BGH-Richter in der NS-Justiz tätig war. Aber die Bereitschaft zur Offenlegung der Abstimmungsergebnisse nahm zu; ab dem 21. Band der BVerfGE (1967) wurden die Namen der Richter und die Abstimmungsergebnisse mitgeteilt. Ein neues liberales Richterbild wurde unter dem Stichwort »Demokratisierung der Justiz« diskutiert, und »Justizsoziologie« wurde zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, die zeitgeschichtliche Strömungen aufnimmt. Der 47. Deutsche Juristentag von 1968 reflektiert diese Entwicklung sehr deutlich und votiert für die Einführung des Sondervotums auch an den obersten Bundesgerichten. §30 BVerfGG von 1970 bildet mit der Einführung des Sondervotums schließlich einen gesetzgeberischen Schlusspunkt in diesem dauerhaft kontroversen Meinungsbildungsprozess. Die Argumente sind jedoch nicht verbraucht und haben – wie der Autor mit Recht betont (5) – in einer rechtspolitischen Diskussion vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Überzeugungen ihre Bedeutung behalten.
Die vom Autor gebotene empirische Analyse der Urteilspraxis des BVerfGs reicht von 1971 bis 2020. Sie wird gestützt durch statistische Übersichten über Gegenstand und Häufigkeit des Sondervotums sowie seiner Dissenter in den beiden Senaten. Daraus ergibt sich, dass über 80% der Richterinnen und Richter von der Möglichkeit eines Sondervotums zumindest einmal Gebrauch gemacht haben. Der Autor nennt das Sondervotum sehr bildhaft einen kleinen »Türöffner« in das Beratungszimmer der Senate. Anhand inzwischen berühmter Einzelfälle (Lüth, Mephisto, Kopftuchverbot usw.) wird die weitreichende Funktion des Sondervotums als ein Element der Selbstkontrolle und der Information der Öffentlichkeit sowie über die argumentativen Operationen des Entschei|dungsprozesses verdeutlicht. Daraus folgt, dass Sondervoten als Rechtserkenntnisquelle für spätere Rechtsprechung, für neue gesetzgeberische Initiativen und den wissenschaftlichen Diskurs von hohem Wert sein können. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft stehen in einem engen und wechselseitig einander bedingenden Gesamtzusammenhang. Das Sondervotum ist dafür ein Scharnier im Rechtsquellensystem. Insofern legt Matthias Klatts überzeugende Arbeit die Frage nahe, ob das Sondervotum als »Instrument« rechtsprechender Verfassungsinterpretation nicht auch für die anderen Höchstgerichtsbarkeiten entsprechende Bedeutung haben sollte.
* Matthias K. Klatt, Das Sondervotum beim Bundesverfassungsgericht (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht 191), Tübingen: Mohr Siebeck 2023, XIII + 310 S., ISBN 978-3-16-161119-3
1 Cf. das Forschungsfeld »Normativitätserzeugungswissen« am MPI für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie: https://www.lhlt.mpg.de/normativitaetserzeugungswissen.