Was für ein Leben*

[What a Life]

Sascha Ziemann Leibniz Universität Hannover sascha.ziemann@jura.uni-hannover.de

Philipp Auerbach (1906–1952) ist dem Tod wiederholt entkommen und hat ein Dutzend Leben gelebt. In der Zeit des Nationalsozialismus war er in verschiedenen Lagern und Gefängnissen inhaftiert, darunter in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald sowie in einem Gefängnis der SS in Paris, hatte im Januar 1945 einen Todesmarsch von KZ-Insassen von Auschwitz nach Groß-Rosen überlebt und Zwangsarbeit in einem Steinbruch, hatte Hunger und Krankheiten überstanden. Das erlebte Grauen ließ ihn, den deutschen Juden, jedoch nicht mit seiner Heimat brechen. Anders als viele andere glaubte Auerbach an eine Zukunft der Jüdinnen und Juden in Deutschland. Seinem Biografen Hans-Hermann Klare zufolge, dessen Buch hier vorgestellt werden soll, war Auerbach überzeugt, »die Nazis würden einen nachträglichen Sieg davontragen, sollte jüdisches Leben in Deutschland für alle Zukunft beendet sein« (48). Vorher aber musste hier und jetzt den | Überlebenden geholfen werden, die zu Tausenden nach Bayern in die amerikanische Besatzungszone gekommen waren. Philipp Auerbach tat sein Bestes als Bayerischer »Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte« und Präsident des‍‍‍ bayerischen Landesentschädigungsamtes. In diese Position hatte ihn im Jahr 1946 der damalige bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD) auf Empfehlung von Parteigenossen aus Düsseldorf geholt. Auerbach hatte sich im Rheinland einen Namen als Wiedergutmachungsexperte gemacht und gehörte außerdem »zu den bekanntesten und aktivsten Mitliedern« der wieder‍‍‍ entstehenden jüdischen Gemeinden in Deutschlands (17).

Die Auerbach-Behörde in München wurde nach‍‍‍ dem Krieg zur Anlaufstelle für die Überlebenden des Holocaust, die sich nun als sog. DPs (displaced persons) zu Tausenden im Land der Täter befanden – heimat- und mittellos. Die meisten von ihnen sahen für sich in Deutschland oder ihren anderen Heimatländern keine Zukunft; viele waren nach Bayern in die amerikanische Besatzungszone gekommen, weil hier wie sonst nirgends die realistische Aussicht bestand, eine rettende Passage in die USA oder in den 1948 gegründeten Staat Israel zu erhalten (20f.). Philipp Auerbach versuchte dem Ansturm Herr zu werden und zu helfen – schnell und unbürokratisch. In seiner fünfjährigen Tätigkeit als Staatskommissar half er etwa 100000 Jüdinnen und Juden bei der Ausreise aus Bayern. Auerbach verstand sich dabei nicht nur als Anwalt seiner Glaubensgenossen – das war er auch, zumal als Direktoriumsmitglied des neu gegründeten Zentralrats der Juden in Deutschland. Er half auch anderen Opfergruppen des Nationalsozialismus, was ihm in den eigenen Reihen nicht nur Zustimmung einbrachte. So forderte er etwa Entschädigungen nicht nur für jüdische Opfer, sondern auch für Opfergruppen wie Homosexuelle oder Sinti und Roma. Jeder ehemalige KZ-Häftling sollte, so Auerbach, eine Entschädigung von 10 Reichsmark pro erlittenem Hafttag erhalten (251). Für die Finanzierung hatte der einfallsreiche Staatskommissar eine konkrete Idee: das Raubgut der Nazis sollte dafür herangezogen werden. Ein Vorschlag, der ihm beleidigende Zuschriften einbrachte, die nicht selten das antisemitische Zerrbild des rachsüchtigen und gierigen Juden beschworen. Wiedergutmachung freilich bedeutete für Auerbach mehr als nur finanzielle Entschädigung. So schrieb er kurz vor Weihnachten 1947 in einer Veröffentlichung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes: »Wiedergutmachung heißt nicht Bereicherung! Wiedergutmachung heißt nicht: nach Vermögen streben! Wiedergutmachung heißt: den moralischen Wert des Menschen wieder anzuerkennen, den man uns geraubt. Wiedergutmachung heißt: das zurückgeben, was man uns genommen hat.« (34f.)

Dass sich Auerbach in seiner Amtsführung zuweilen am Rand der Legalität bewegte, ist in der Rückschau wohl keine unberechtigte Feststellung; genauso richtig ist aber, dass auch die Verhältnisse der von Not und Improvisation geprägten Nachkriegszeit nicht immer die buchstabengetreue Einhaltung der Regeln erlaubten. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtages sollte Philipp Auerbach später vollständig rehabilitieren. Der Schlussbericht kam im Januar 1954 zu folgendem Ergebnis: »Solche Aufgaben waren nicht mit normalen Mitteln und auch nicht von Persönlichkeiten zu lösen, die getreu dem Gesetz arbeiteten, der außergewöhnlichen Lage gegenüber jedoch ziemlich hilflos gewesen wären. Mit anderen Worten: Behörden und Beamte im eigentlichen Sinne wären der Schwierigkeiten noch weniger Herr geworden.« (420)

Der Kampf für die Wiedergutmachung der Überlebenden, die sich jeden Morgen aufs Neue vor dem Eingang seiner Behörde drängten, sollte jedoch auch seine Kräfte übersteigen. Wurde der einfallsreiche und in der jüdischen Community gut vernetzte Staatskommissar zunächst sowohl von Seiten der US-Militärregierung in Bayern als auch von der bayerischen Staatsregierung unterstützt, geriet er Anfang der 1950er Jahre zunehmend ins Fadenkreuz von Politik und Justiz. Gerüchte über Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung und die unberechtigte Auszahlung mehrerer hundert Tausend DM Wiedergutmachungsgelder hatten die Runde gemacht. Auf Initiative des bayerischen Justizministers Josef Müller (CSU), der sich zu einem einflussreichen Gegenspieler Auerbachs entwickelt hatte, wurde eine staatsanwaltschaftliche Ermittlung in Gang gesetzt. Im Januar 1951 wurde Auerbachs Behörde durchsucht und Auerbach spektakulär in seinem Dienstwagen auf der Autobahn von der Polizei gestoppt und verhaftet. Nach über einjähriger Untersuchungshaft begann im April 1952 das Strafverfahren vor dem LG München I gegen Auerbach und weitere Mitangeklagte, darunter zwei Mitarbeiter und den bayerischen Landesrabbiner Aaron Ohrenstein. |Die Staatsanwaltschaft warf Auerbach unter anderem schwere Amtsunterschlagung, Erpressung, Untreue, Betrug sowie das unberechtigte Führen eines Doktortitels vor. Auerbach sah sich einem Gericht gegenüber, dessen Angehörige alle Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Sie waren nach dem Krieg zunächst wegen ihrer Verstrickungen in der NS-Zeit als ungeeignet für den Staatsdienst angesehen worden, wurden aber später rehabilitiert und wieder in den Justizdienst übernommen. Der Vorsitzende Richter Josef Mulzer etwa war ein früherer Oberkriegsgerichtsrat, NSDAP-Mitglied (375) und zudem ein ehemaliger Kanzleikollege des schon erwähnten bayerischen Justizministers Müller.

In der Hauptverhandlung vor Gericht, die von Klare lebendig anhand von Mitschriften der Verfahrensbeteiligten und Zeitungsberichten rekonstruiert wird, kam es zuweilen zur offenen Konfrontation zwischen Auerbach und dem Vorsitzenden Richter Mulzer sowie dem Staatsanwalt Wilhelm Hölper. Alle drei schenkten sich nichts. Als Auerbach einmal bei der Sachverständigenvernehmung eines Wirtschaftsprüfers die Gelegenheit zur Stellungnahme verweigert wurde und in Rage geriet, ließ ihn der Vorsitzende aus dem Sitzungssaal entfernen. Was dann geschah, berichtet Klare unter Rückgriff auf die Süddeutsche Zeitung: »Auerbach erhob sich zornbebend aus seinem Sessel und rief, während er von zwei Polizeibeamten flankiert den Saal verließ: ›Das sind Nazi-Methoden. Diese Nazi-Methoden macht man mit mir nicht, Herr Mulzer!‹ Als der Landgerichtsdirektor ihn als Angeklagten zu einer förmlicheren Anrede anhielt, fügte Auerbach hinzu: ›Jawohl, Herr Vorsitzender und die Herren Nazi-Staatsanwälte‹.« (397)

Der Prozess, der sich zu einem der größten Prozesse in Nachkriegsdeutschland entwickelt hatte, endete nach einer viermonatigen Hauptverhandlung und 62 Verhandlungstagen am 14. August 1952 mit der Verteilung zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren. Zwar konnten die Hauptvorwürfe wie etwa die der schweren Amtsunterschlagung nicht aufrechterhalten werden, doch blieb es bei einem Schuldspruch wegen Untreue und Unterschlagung sowie – von Auerbach eingestanden – wegen unberechtigten Führens eines Doktortitels. Auerbach fühlte sich unschuldig verurteilt und in seiner persönlichen Ehre tief verletzt. Und er war auch körperlich am Ende seiner Kräfte; Auerbach litt an Nierensteinen und Bluthochdruck, auch war ein Tumor diagnostiziert worden. Zwei Tage nach der Urteilsverkündung setzte Auerbach seinem Leben, er war gerade einmal 45 Jahre alt, im Krankenzimmer einer Privatklinik selbst ein Ende. »Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen« waren seine letzten Worte in einem an die Öffentlichkeit gerichteten Abschiedsbrief (415).

Was für ein Leben! Wer einmal mit der Lektüre der eindrücklichen Biografie des früheren stern-Journalisten Hans-Hermann Klare begonnen hat, wird das Buch so schnell nicht wieder aus der Hand legen. Das selbstgewählte Ende des Philipp Auerbach ist zugleich Anfang (Kap. 1) und Ende (Kap. 16) der fesselnd geschriebenen und gut lesbaren Biografie. Dazwischen ein vollgepacktes und packendes Leben eines deutschen Juden aus Hamburg. Die weiteren Kapitel (Kap. 2–15) widmen sich, weitgehend chronologisch, einzelnen Lebensstationen: von der Kindheit im Hamburg des Kaiserreichs, dem ersten politischen Engagement in der Weimarer Republik, über die Emigration 1934 nach Belgien und die Deportation nach Frankreich sowie die Verschleppung und Inhaftierung in die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald bis hin zum Neuanfang als Wiedergutmachungsexperte in Düsseldorf und München. Die Ausführungen berichten zuweilen Unglaubliches. So erfährt der Leser, wie Auerbach den Chemikalien-Großhandel seines Vaters in Hamburg nutzt, um den Antifaschisten im Spanischen Bürgerkrieg Chemikalien für den Bau von Bomben zukommen zu lassen (101ff.). Sein chemisches Talent, Auerbach war gelernter Drogist, rettete ihm in den Lagern ein ums andere Mal das Leben, da er es verstand, sich nützlich zu machen. Etwa, indem er aus Tierknochen Kohle als Heilmittel für an Typhus erkrankte Insassen herstellte (198) oder an der Produktion von Desinfektionsmitteln und Seife innerhalb der von der SS beaufsichtigten Abteilung für Schädlingsbekämpfung mitwirkte (165ff.). Klare betont, dass es Auerbach in allen seinen Aktivitäten während seiner Inhaftierung gelungen sei, »davonzukommen, ohne sich dafür Vorteile auf Kosten anderer Häftlinge« verschafft zu haben (209). Dass Auerbach in der Bundesrepublik Opfer einer politischen Kampagne wurde, ist eine bittere Pointe eines Lebens, das von Klare mit Recht im Untertitel des Buches als »jüdisch-deutsche« Tragödie beschrieben wird. Die »Stunde Null« war keine Tabula rasa. Auch der Antisemitismus hatte überlebt und brach sich |zuweilen unverhohlen Bahn. Die Wiedergutmachungsleistungen gegenüber den NS-Opfern etwa empfanden viele Deutsche als eine ungerechtfertigte Bevorzugung.

Dass Philipp Auerbach in Klares Biografie nicht nur sympathisch und als Heldengestalt beschrieben wird, sondern dass auch die weniger sympathischen Charakterzüge und Widersprüchlichkeiten Auerbachs zur Sprache kommen, wie beispielsweise das großspurige Auftreten, der autokratische Führungsstil oder auch das zuweilen gebrochene Verhältnis zur Wahrheit (unter anderem ein falscher Doktortitel), gibt dem dargestellten Leben eine menschliche Tiefe und ist lobend hervorzuheben. Als kleines Petitum sei gleichwohl das Fehlen eines Personenverzeichnisses angesprochen, das es erlaubt hätte, zielgenau den vielen prominenten und weniger prominenten Persönlichkeiten nachzuspüren, denen Auerbach im Verlauf seines ereignisreichen Lebens begegnet ist.

Notes

* Hans-Hermann Klare, Auerbach. Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte, Berlin: Aufbau Verlag 2022, 475 S., ISBN 978-3-351-03896-0