Die Banalität des Rechtslebens*

[The Banality of Legal Life]

Jan Schröder Juristische Fakultät der Universität Tübingen jan.schroeder@uni-tuebingen.de

Lahusens vielgelobte Arbeit – eine von der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin angenommene Habilitationsschrift – behandelt das Schicksal der deutschen Justiz in den letzten Kriegs- und den ersten Nachkriegsjahren. Die Hauptfragen sind dabei, ob es irgendwann in dieser Zeit einen »Stillstand der Rechtspflege« (»Iustitium«) und es ob es eine »Stunde Null« ge-geben hat. Lahusens Antwort ist, dass der Rechtsbetrieb nie versiegt, dass auch chaotische Verhältnisse irgendwelchen Rechtsregeln unterworfen sind und es keinen rechtsfreien Raum gibt. Dementsprechend verneint er jedenfalls eine völlige Stillegung der Gerichte zwischen 1943 und 1948. Dieses Ergebnis ist nicht selbstverständlich.1 Lahusen sieht durchaus, dass die Alliierten zeitweise alle Gerichte, und endgültig das Reichsgericht schlossen (z.B. 23, 233ff., 236, 264f.), und er bestreitet schon gar nicht den Ausfall vieler einzelner Gerichte vor und nach dem Krieg (vgl. nur 45 zu Rostock, 160 zum Amtsgericht Aachen, weitere z.B. 196f.). Auch die kurz erwähnte »Universalhemmung« aller Verjährungsfristen seit 1944 (265) spricht nicht unbedingt für einen reibungslosen Fortgang der Rechtspflege. An verschiedenen Stellen bejaht Lahusen sogar selbst einen »Stillstand der Rechtspflege« (19: »Die Rechtspflege stand still«, 234: »Der Stillstand der Rechtspflege im Sommer 1945«, 263: Das Kriegsende erreichte es, »die Rechtspflege stillzustellen«). Aber er meint, eine völlige Lahmlegung der Justiz habe es nie gegeben: »Irgendwo arbeitete immer ein Gericht« (242), »[e]inen Moment, in dem alle deutschen Gerichte gleichzeitig stillgestanden hätten, gab es‍‍‍ nicht« (239), zu keiner Zeit finde sich ein »historischer Nullpunkt« (242), eine »Stunde Null« (26, 305). Um das zu beweisen, müsste man allerdings alle Tage zumindest vom 8.‍‍‍ Mai bis Ende September 1945 durchgehen und die jeweils aktiven Gerichte benennen. Gelingt das und lässt man das genügen, dann kann man Lahusens These zustimmen. Sie ist aber sozusagen nur das Leitmotiv für das ganze Buch. Denn was Lahusen vor allem zeigen will, ist die Kontinuität des Rechtslebens zwischen Diktatur und Demokratie, die weitgehende Beibehaltung des Justizpersonals (jedenfalls im Westen), des Rechts – soweit es die Alliierten nicht aufhoben – und der alltäglichen Routine des »Dienstbetriebs«. Sehr überraschend ist das allerdings nicht. Gewohnheit und Routine bestimmen nun einmal das Leben der Menschen, und auch der nationalsozialistische Staat hatte, wie wir nicht nur durch Ernst Fraenkel (1941) wissen, eine »normale« Seite. Der Mehrwert von Lahusens Werk kann also nur darin liegen, dass er diese fortwirkende »Normalität« besonders einprägsam und beispielreich vor Augen führt.

Das Buch ist nicht systematisch, zum Beispiel nach Zeiten und Orten, gegliedert, sondern entwirft in sieben Kapiteln und aus verschiedenen Perspektiven ganz unterschiedliche Bilder der deutschen Gerichtsbarkeit in und nach dem Krieg. Zunächst (»Die Freuden der Pflicht: Dienstbetrieb im Endkampf«) geht es um die Bemühungen der Führung, einen kriegsbedingten Rechtsstillstand zu vermeiden. In mindestens einem Fall, dem Angriff auf Rostock im April 1942, gelang das zwar nicht. Aber das feuerte die vorbeugenden und schadensmindernden Maßnahmen nur weiter an. Der Justizdienst wurde zum Kriegsdienst, in dem unter allen Umständen der Fortgang der Rechtspflege gesichert werden musste. — Im zweiten Kapitel erfindet (!) Lahusen ein südwestdeutsches Städtchen »Neustadt am Wassersturz«, in das er Geschehnisse und Personal aus den »Quellenbestände[n] zweier kleiner Gerichte« und anderer verlegt. Man erfährt einiges über die Lage des Ortes, über sein Gericht, über die dort tätigen Juristen (ein Amtsrichter und ein Rechtsanwalt) und deren Nachkriegsschicksal, über eine Reihe von alltäglichen Rechtsfällen und die Auswirkungen des Kriegsendes, welches das Gericht nicht an der Fortführung seiner Arbeit hinderte. All das wird belegt aus fast vierzig Aktenzitaten des »AG |Neustadt«, die aber eben fiktiv und in keinem Archiv zu finden sind. Wenn man von einer wissenschaftlichen Arbeit verlangt, dass ihre Aussagen nachprüfbar sind, dann überschreitet Lahusen hier die Grenzen des Erlaubten. — Das dritte Kapitel ist überschrieben »Die Parzellierung des Todes. Das Amtsgericht Auschwitz und die Grundbücher der IG Farben«. In Auschwitz entstand seit 1940 nicht nur das Konzentrationslager der SS, sondern auch ein großes Werk der IG Farben. Dessen Gelände war aber grundbuchmäßig nicht erfasst. Erst nach einem Eingriff von Reichsjustizminister Thierack wurden die entsprechenden Grundbücher angelegt, so dass das Reich dem Unternehmen das benötigte Grundstück 1944 ordnungsgemäß übereignen konnte. Der Zusammenhang dieses Kapitels mit dem kriegs- und nachkriegsbedingten Fortgang der Rechtspflege ist nicht ohne weiteres ersichtlich; immerhin wird noch das weitere Schicksal des grundbuchführenden und nun »überflüssig« (132) gewordenen Amtsgerichts Auschwitz dargestellt. — Einem »durchaus typische[n] Vertreter seiner Art« (141), Hans Keutgen, widmet sich das vierte Kapitel (»Lastenausgleich. Das Sondergericht Aachen und sein letzter Richter«). Lahusen berichtet über Keutgens Karriere und im Zusammenhang damit über die Aachener Justiz im und nach dem Krieg. Das Amtsgericht arbeitete nicht weiter, so dass hier ein Stillstand der Rechtspflege eintrat (160), die anderen Gerichte wurden, zum Teil mehrmals, verlegt, später zurückverlegt. Keutgens Karriere setzte sich nach einer Unterbrechung fort, und zuletzt erhielt er sogar Trennungsentschädigung für die schwierigen Kriegsjahre. — Umfassender schildert das folgende fünfte Kapitel die Auflösung oder Verlegung der Gerichte in der letzten Phase des Krieges 1944/45. Betroffen waren nicht nur die östlichen Gebiete des Reichs, sondern auch die westlichen, und nicht nur das Personal und die Einrichtungsgegenstände zogen um, sondern auch die Akten, vor allem die Personalakten. Wo man befürchten musste, sie könnten in Feindeshand fallen, wurden sie vernichtet. — »Zwischen den Jahren: Der Stillstand der Rechtspflege im Sommer 1945« heißt das sechste Kapitel. Nun wird der Übergang der Justiz in die Nachkriegszeit dargestellt. Die Alliierten schlossen alle Gerichte und eröffneten sie bald wieder, das Reichsgericht verschwand im Oktober 1945 endgültig; aber »[i]rgendwo arbeitete immer ein Gericht, manchmal noch immer und manchmal schon wieder« (242). Das Hauptproblem war die Besetzung der Richterstellen. Während man im Osten die NSDAP-Mitglieder entließ, wurden sie im Westen, soweit keine weiteren erschwerenden Umstände hinzutraten und es nicht um besonders hohe Posten ging, in ihren Ämtern belassen. Auch in der Rechtsprechung, sowohl bei Behandlung der neuen, als auch der »Altfälle« beobachtet Lahusen keinen Aufbruch zu grundsätzlichen Veränderungen. — Im siebten und letzten Kapitel (»Die Abwicklung. Der Krieg und sein langes Ende«) wiederholt der Autor noch einmal seine Grundauffassung, dass Krieg und Kriegsende keinen fundamentalen Umbruch des Rechtslebens bewirkt hätten: der Krieg wird aus der Rechtsordnung verbannt (266). Allerdings bedurfte das Schicksal von unbeendigten Verfahren, die an untergegangenen Gerichten geschwebt hatten, einer Regelung. Sie erfolgte im Osten durch eine Zuständigkeits-»Anordnung« von 1947, im Westen durch ein »Gesetz zur Ergänzung von Zuständigkeiten …« von 1952. — Ein »Epilog« (»Der Traum vom echten Leben«) beschließt das Werk. Nach dem Vorigen nicht überraschend bestreitet Lahusen, dass das »Iustitium« den »Archetyp des modernen Ausnahmezustands« (Giorgio Agamben) darstelle. Immer befinde man sich auf dem Boden des Rechts, einen rechtsfreien Raum gebe es nicht. In all den Katastrophen des NS und den Wirren der frühen Nachkriegszeit dauere »[d]ie Banalität des juristischen Dienstbetriebes« (305) fort.

Das Werk stützt sich auf eine enorme Fülle von Archivmaterial. Aber seine juristische Substanz (immerhin handelt es sich um eine rechtswissenschaftliche Habilitationsleistung) ist schmal. Das liegt auch am Thema, denn es geht ja nicht um die Herausarbeitung irgendwelcher Rechtsregeln und vielleicht sogar ihrer Gründe, sondern vor allem um rechtstatsächliche Feststellungen, namentlich, ob es zwischen 1943 und 1948 eine generelle Stilllegung der deutschen Gerichte gegeben hat. Dazu braucht man nicht viel Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte. Aber Lahusen hätte wenigstens darauf hinweisen sollen, dass der Stillstand der Rechtspflege in §245 ZPO (von dem er ausgeht) gar nicht der generelle ist, nach dem er fragt, sondern schon die Untätigkeit eines speziellen Gerichts. Die Folgen des »Iustitium« werden unzulänglich beschrieben, wenn es nur heißt: »Was soll man dazu auch sagen? Wenn die Gerichte nicht mehr arbeiten, dann arbeiten sie nicht mehr« (21). Denn mindestens könnte man etwas sagen von | den‍‍‍ Fristen-Hemmungen und -Unterbrechungen (§203 I a.F. BGB, §§245, 249 I ZPO), die durchaus praktische Bedeutung haben.2 Leichthändig und ungenau sind auch andere Aussagen. So behauptet der Autor, beim Grundstückskauf gingen die Parteien nach der notariellen Beurkundung des Kaufvertrags »zum Grundbuchamt«, um dort die Auflassung zu erklären (110), so soll die Freirechtsbewegung (270f.) für eine »Auslegung ohne Ziel und ohne Weg, juristisches Handeln ohne Telos und ohne Methode« stehen (aber wenigstens das Ziel einer gerechten Entscheidung eint fast alle Freirechtler!), so wird die Existenz eines »rechtsfreien Raums« verneint, ohne die Gegenmeinungen3 auch nur anzudeuten (299). Viel befremdlicher ist aber die offene Verachtung, die Lahusen der Jurisprudenz überhaupt entgegenbringt. Sie wird vor allem im vierten Kapitel über den Aachener Juristen Hans Keutgen deutlich. Hier ist zu lesen: Dass Keutgen sein Jurastudium nur in Köln absolvierte, »dürfte durchaus der Weite seines geistigen Horizonts entsprochen haben« (143); »Gründlichkeit und Fleiß ersetzten die fehlende Kreativität, der ausgeprägte Ehrgeiz fand in einem belastbaren (?) Opportunismus sicheren Halt. Kurzum: ein Jurist« (148), und schon vorher grundsätzlich: »Meinungsfreude, Originalität, Brillanz sind in der Welt des Rechts keine tauglichen Währungen« (147). Man fragt sich, ob man den Hochschulort wechseln muss, um nicht geistlos zu erscheinen, ob alle Juristen ehrgeizig und opportunistisch sind und »Kreativität« und »Brillanz« wirklich nur außerhalb des Juristenberufs (den ja auch ein Rechtsprofessor und Volljurist wie Lahusen ausübt) geschätzt werden?

Der Ertrag des Buches liegt denn auch nicht in dem geordneten Beweis seiner Thesen und in der Beantwortung von Rechtsfragen. Es geht dem Autor um Geschichten, um banale, traurige oder groteske Rechtsfälle, den Alltag von Richtern, Staats- und Rechtsanwälten, geglückte oder weniger geglückte Maßnahmen von Behörden, Streitigkeiten zwischen ihnen und was sonst noch die juristische Praxis ausmacht. Die elegante, wortgewaltige und detailreiche (oft leider auch ironisch-besserwisserische) Erzählung ist die eigentliche Stärke des Werkes. Sie erreicht gelegentlich auch literarische Qualität, etwa in der Beschreibung des erfundenen Ortes »Neustadt am Wassersturz«, die an Thomas Manns Schilderung seines fiktiven Großherzogtums in »Königliche Hoheit« erinnert. Man verabschiedet sich mit gemischten Gefühlen von diesem Buch, das kein wirklich juristisches ist, sondern eines über die unverwüstliche Banalität des Rechtslebens.

Notes

* Benjamin Lahusen, »Der Dienstbetrieb ist nicht gestört«. Die Deutschen und ihre Justiz 1943–1948, München: C.H. Beck 2022, 384 S., ISBN 978-3-406-79026-3

1 Abweichende Meinungen anderer Autoren sieht Uwe Wesel in seiner Rezension von Lahusens Buch in: ZRG Germ. Abt. 140 (2023) 608–612 (609). Aber auch abgesehen davon halte ich Wesels Kritik in vielen Punkten für berechtigt.

2 Siehe z.B. das Urteil des OLG Breslau vom 14.3.1922, in: Juristische Wochenschrift 52 (1923) 190 (verspäteter Einspruch gegen ein Versäumnisurteil während eines Gerichtsstillstandes).

3 Vgl. die differenzierte Untersuchung von Karl Engisch, Der rechtsfreie Raum, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 108 (1952) 385–430.