Die Erfindung der »Kompetenzen« – ein Sonderweg der deutschen Verfassungsjuristen?*

[Invention of »Competences« – A Unique Path of German Constitutional Lawyers?]

Christoph Schönberger Universität zu Köln christoph.schoenberger@uni-koeln.de

Kompetenz ist ein spröder juristischer Begriff, der keinerlei Phantasie zu entfachen scheint. Der Leser dieser ambitionierten und gut lesbaren Studie wird eines Besseren belehrt. Im Kern untersucht der Autor die Entstehung der »Kompetenzen« als einer spezifisch deutschen staatsrechtlichen und vor allem: staatsrechtswissenschaftlichen Begrifflichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von drei ausgewählten Autoren: Karl Twesten, Albert Hänel und Georg Jellinek. Die eingehende Untersuchung dieser Autoren nimmt – nach einer die Fragestellung umreißenden Einleitung und der Darstellung der theoretischen und gesellschaftlichen Ausgangssituation im Gefolge der gescheiterten Revolution von 1848 – den Löwenanteil der Studie ein (53–352). Das letzte Kapitel resümiert das »liberale Paradigma« der Kompetenz, stellt zeitgenössische Kritiker aus der Zeit um 1900 vor (Hugo Preuß, Hans Kelsen, Max Weber) und skizziert abschließend knapp die Problematik der Redeweise von den Kompetenzen für das deutsche Verfassungsrecht der Gegenwart an vier Problemfeldern (Organstreitverfahren, Bundesstaatsrecht, Europarecht, Grenzen des Äußerungsrechts von Regierungsmitgliedern). Nach Anspruch und Aufbau verfährt die Studie also zunächst (wissenschafts-)historisch, dann systematisch (3). Sie fragt im ersten – langen – Schritt, wann und warum man in Deutschland begann, Verfassungen und politische Institutionen in der Sprache von Organ und Kompetenz zu verhandeln, und schließt im zweiten – vergleichsweise kurzen – Schritt die Frage nach der Bedeutung der Kontinuität dieser Sprache im Verfassungsrecht der Gegenwart an.

Die Geschichte, die Christian Neumeier in seinem umfangreichen historischen Teil erzählt, ist genauso einfach wie suggestiv: Ernüchterte Liberale entwickelten die Kategorie der Kompetenzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, um den entstehenden ausdifferenzierten Verwaltungsstaat parlamentarisch anleiten und kontrollieren zu können. Indem sie dies nun gerade in der Sprache von Organen und Kompetenzen taten, geriet ihnen indes die seit den atlantischen Verfassungsrevolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts entstandene Bedeutung der Verfassung als Ordnung gleicher Freiheit aus dem Blick. Die Kompetenzsemantik bürokratisierte ungewollt die Sprache des Verfassungsrechts mit langfristigen, bis in die Gegenwart reichenden Folgen. In der Sprache des Verfassers: »Die Konstitutionalisierung der Verwaltung schlug in die Bürokratisierung der Verfassung um« (12; 366).

Sehr ansprechend beschreibt der Verfasser dabei zunächst, wie sich Gesellschaft und Herrschaftsapparate im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend organisatorisch ausdifferenzierten und damit die vergleichsweise schlichten Grundannahmen des klassischen Konstitutionalismus aus der Zeit um 1800 wesentlich in Frage stellten. Die juristische Kategorienbildung versuchte, mit dieser Ausdifferenzierung Schritt zu halten, indem sie die ältere Semantik natürlicher Freiheitsrechte und des Sozialvertrags mehr und mehr abstreifte und begann, für Gesellschaft und Staat gleichermaßen von Verbänden, Zwecken, Organen und Kompetenzen zu sprechen (50).

Bei dem liberalen Politiker Carl Twesten, dem ersten der drei Helden dieses Buches, wurde »Competenz« zum liberalen politischen Programmbegriff. Mit diesem Schlagwort war zunächst die genaue rechtliche Festlegung der Befugnisse der preußischen Regierung unter der Verfassung von 1850 gemeint. Mit dem Begriff der Kompetenz knüpfte Twesten an eine bereits existierende Terminologie an, die insbesondere für die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden Verwendung fand. Die Eingrenzung der Befugnisse der Regierung sollte durch |die Ministerverantwortlichkeit parlamentarisch kontrollierbar werden, diejenige der Verwaltung durch eine gerichtliche Kontrolle. Eine besondere Bedeutung gewann der Kompetenzbegriff zusätzlich in den Debatten um die Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahr 1867. Die komplexe Struktur des Bismarck’schen Verfassungsentwurfs warf vielfältige Zweifelsfragen auf, insbesondere zum Verhältnis von Verfassung und Gesetzgebung und zur Frage, auf welchem Weg die Verfassung änderbar sein sollte. Hier plädierten nun die Liberalen wie Twesten für möglichst weitgehende – und durch Verfassungsänderung jederzeit erweiterbare – Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes, um dem Norddeutschen Reichstag beispielsweise die Möglichkeit zu geben, das Zivilrecht zu vereinheitlichen. Der Kompetenzbegriff erwies sich als politisch variabel. Hatte er gegenüber der preußischen Regierung auf Eingrenzung von Befugnissen gezielt, so diente er auf Bundes- und wenig später auf Reichsebene nun dazu, einen möglichst umfassenden nationalen Rechtsraum durch die Gesetzgebung des Reichstags zu ermöglichen. Der konservative Rostocker Juraprofessor Hugo Böhlau wandte sich mit einem 1869 erschienenen Pamphlet unter dem kritisch gemeinten Titel »Competenz-Competenz?« dagegen. Im Ergebnis wurde das Problem durch Artikel 78 der Verfassung gelöst, der Verfassungsänderungen im Wege der Gesetzgebung – also durch übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse von Bundesrat und Reichstag – für‍‍‍ zulässig erklärte und lediglich im Bundesrat erschwerend 14 Stimmen – und damit faktisch: Preußen – ein Vetorecht gegen jede Verfassungsänderung gab. Auf diesem Weg wurde wenig später im Jahr 1873 durch die »lex Miquel-Lasker« als verfassungsänderndes Gesetz etwa die Reichskompetenz für das Zivilrecht eingeführt. Nunmehr ins Positive gewendet, wurde die »Kompetenz-Kompetenz« wenig später zu einem Schlüsselbegriff der Bundesstaatslehre Albert Hänels.

Albert Hänel war wirkmächtiger Staatsrechtsprofessor und führender linksliberaler Reichstagsabgeordneter zugleich. In der Rekonstruktion Neumeiers waren Kompetenzen für Hänel der Schlüssel zur Herrschaft des Parlaments in einer modernen liberalen Gesellschaft, weil das Parlament über das Gesetz nicht nur die gesellschaftlichen Organisationen einem Regelwerk für ihren Freiheitsgebrauch habe unterwerfen, sondern zugleich auch Regierung und Bürokratien habe instruieren können (358; 111ff.). Im Einklang mit der bisherigen Sekundärliteratur und sehr differenziert werden dabei im Einzelnen Hänels reichsfreundliche Bundesstaatslehre mit ihrer grundlegenden Kritik der Vorstellung von vertragsmäßigen Elementen der Reichsverfassung, seine Kritik des herrschenden doppelten Gesetzesbegriffs, die auch den Innenbereich der Staatsorganisation wie‍‍‍ selbstverständlich für den Zugriff des Gesetzgebers öffnete, und seine Lehre vom Budget als parlamentsfreundliche Theorien erläutert. Freilich kommt in dieser Rekonstruktion etwas zu kurz, dass Gesetzgeber im Deutschen Kaiserreich eben nicht allein der Reichstag war, sondern alle Gesetze nur bei gleichzeitiger Zustimmung von Reichstag und Bundesrat ergehen konnten. Wenn der Verfasser Hänel entgegenhält, das »kompetenzielle Paradigma« habe es nicht zugelassen, die politische Funktion des Gesetzes in einen inneren Zusammenhang mit dem parlamentarischen Verfahren zu bringen (208), so ist das deshalb weniger ein Einwand gegen Hänel als gegen das damalige Verfassungsrecht selbst. Hänel rekonstruierte eben das Verfassungsrecht einer sehr besonderen konstitutionellen Monarchie, nicht dasjenige einer demokratischen Republik. Bei aller Würdigung der parlamentsfreundlichen Tendenzen Hänels hebt der Verfasser insgesamt hervor, durch seine Form der Analyse hätten sich die Kategorien des Verfassungsrechts ins Organisationstheoretische verschoben, und es sei deshalb im Kern nur noch um möglichst effektive Aufgabenerledigung durch alle Organe der öffentlichen Gewalt gegangen (112).

In einer differenzierten Lektüre Georg Jellineks (213ff.) zeigt Neumeier im Anschluss, wie vor allem im »System der subjektiven öffentlichen Rechte« (1892) eine fundamentale Zweiteilung der normativen Formen des öffentlichen Rechts in subjektive Rechte der Individuen und Kompetenzen der staatlichen Organe konzipiert wurde. Er arbeitet heraus, wie mit einer hochformalisierten Organlehre alles staatliche Handeln als Handeln von Amtswaltern rekonstruiert werden konnte, was insbesondere auch die Monarchen der Einzelstaaten und den Kaiser einschloss – und sich damit gegen zeitgenössisch neu aufflammende neopatrimoniale Tendenzen richtete – und die Bürokratien aus einer bloßen Gehilfenstellung für den jeweiligen Monarchen herauslöste.

Die Ausführungen des Verfassers sind kenntnisreich, differenziert und elegant formuliert. Hübsch trocken heißt es etwa zu Jellinek: »Die Realität der kompetentiellen Arbeitsteilung verdrängte die mo|narchische Verfassungspoesie« (340). Die drei Einzelstudien werfen indes zugleich die Frage auf, um welches wissenschaftliche Unternehmen es sich dabei eigentlich handelt. Hier liegen beachtliche Bruchstücke einer Dogmengeschichte des Kompetenzbegriffs in der deutschen Staatsrechtswissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Nach Bekunden des Autors soll die Auswahl der Frage gefolgt sein, ob sich aus ihren Schriften das »Kompetenz-Paradigma« am klarsten habe rekonstruieren lassen (15). Das ist aber ein zirkuläres Argument, wie der Autor selbst einräumt, zumal die Redeweise von Kompetenzen zeitgenössisch rasch auf diffuse Weise ubiquitär wurde (12). Schon bei den drei näher untersuchten Autoren schillerte der Kompetenzbegriff überdies vielfältig zwischen einer allgemeinen Organisationstheorie, der juristischen Rekonstruktion politischer Wahlämter, der rechtsstaatlichen Einhegung des monarchischen Verwaltungsstaats und den spezifischen Verfassungsproblemen föderativer Systeme.

Selbst wenn man nur das eher linksliberale Spektrum der damaligen Staatsrechtslehre hätte berücksichtigen wollen, hätte sich als weiterer wichtiger Autor zumindest Hugo Preuß aufgedrängt, für den die Redeweise von den Kompetenzen ebenfalls eine wichtige Rolle spielte. Dieser wird in der vorliegenden Studie aber nur knapp als einer der vermeintlichen »Kritiker« angeführt (368ff.), obwohl bereits die kurzen Ausführungen zu Preuß zeigen, dass dieser eine weitere gewichtige Variante des damaligen Kompetenzdiskurses darstellte, die diesen stärker mit demokratischen Leitvorstellungen verband. Erst recht gilt das für Paul Laband, den der Autor nur kurz und abschätzig erwähnt (116), der aber als konservativer Nationalliberaler maßgeblichen Anteil daran hatte, die Redeweise von »Kompetenzen« und »Organen« im staatsrechtlichen Mainstream der Zeit zu verankern. Wissenschaftsgeschichtlich sind die eigenwilligen Auswahlentscheidungen des Autors daher nur begrenzt plausibel, zumal auch die parallele Dogmengeschichte von Begriffen wie »juristische Person«, »Staatsperson« und »Organ« nur nebenbei Berücksichtigung findet. Auch die implizite Sonderwegserzählung des Buches (vgl. etwa 393f.) ist mangels rechtsvergleichender Einordnung nur begrenzt plausibel, zumal gerade die deutschen Kategorien von »Staatsperson«, »Organ« und »Kompetenz« um 1900 zu äußerst erfolgreichen wissenschaftlichen Exportartikeln in Kontinentaleuropa wurden, etwa in Italien oder Frankreich.

Da der Autor den Kompetenzdiskurs bereits für das Kaiserreich nicht systematisch abschreitet und keinen näheren Versuch unternimmt, die Kontinuität seines »Kompetenz-Paradigmas« durch Einflussstudien für Weimar und die Bundesrepublik zu erhärten, sondern vielmehr die entsprechenden Rezeptionslinien selbst für »begrenzt« erklärt (379, siehe auch 353), hängen auch die Aktualisierungen der Studie (17ff.; 376ff.) eigentümlich in der Luft. Sie beruhen letztlich auf der petitio principii, wer heute in der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft von Organen und Kompetenzen rede, der handele sich gleichsam automatisch die Perspektive administrativer Aufgabenerledigung ein, eben das »Kompetenz-Paradigma« (379). Es fehlt hier indes an einer systematischen Analyse der Frage nach der Frage, auf die der Kompetenzbegriff die Antwort sein soll. Das gilt erst recht deshalb, weil der Autor nicht ausreichend zwischen der Verwendung des Wortes »Kompetenz« im positiven Recht, in der Rechtsdogmatik oder in einer rechtstheoretischen Begrifflichkeit unterscheidet. Das zeigt sich etwa exemplarisch an der kritischen Behandlung des Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht (383ff.). Hier bleibt offen, wo aus Sicht des Autors eigentlich das Problem liegen soll: im positiven Recht (Grundgesetz, BVerfGG), in dessen spezifischer rechtsdogmatischer Rekonstruktion durch die Staatsrechtswissenschaft und das BVerfG oder auch nur in allgemeinen Beschreibungen des Verfahrens durch das BVerfG und die Kommentarliteratur, in denen immer wieder, wie der Verfasser durchaus zutreffend beobachtet, spätkonstitutionelle Restbestände einer strikten Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung mitschwingen. Mangels spezifischen Problembefunds führt aber die Einordnung, man sei hier irgendwie noch dem »Kompetenz-Paradigma« verhaftet, nicht wirklich weiter.

Die hier formulierten Einwände und Einzelkritiken mindern den positiven Gesamteindruck dieses Buches nicht. Mit seiner ideenreichen historischen Rekonstruktion der Kompetenzsemantik im deutschen öffentlichen Recht hat Christian Neumeier die Grundlage für jede künftige Beschäftigung mit der Kategorie der Kompetenz geschaffen. Die Redeweise von den Kompetenzen hat durch die vorliegende Studie zwar vielleicht nicht ihre wissenschaftliche Berechtigung eingebüßt, aber doch zumindest ihre unschuldige Selbstverständlichkeit verloren.

Notes

* Christian Neumeier, Kompetenzen. Zur Entstehung des deutschen öffentlichen Rechts, Tübingen: Mohr Siebeck 2022, xii, 464 S., ISBN 978-3-16-160725-7