Verfassungshistoriographie zwischen Geschichts- und Rechtswissenschaft*

[Constitutional Historiography Between History and Jurisprudence]

Thomas Simon Universität Wien thomas.simon@univie.ac.at

In dem zu besprechenden Aufsatzband geht es um »die Entwicklung einer gegenstandsorientierten Historik«, nämlich »um die Analyse der Bedingungen, unter denen Verfassungsgeschichten plausibel erzählt werden können« (76). So sucht Tim Neu am Schluss seines Beitrags (»Inszenierte, vielfältige und vielzeitige Gefüge – Bausteine einer Theorie der Verfassungsgeschichte«) die thematische Ausrichtung des Tagungsbandes zusammenzufassen. »Historik« ist ihm eine »Theorie in der Geschichtswissenschaft«, »ein Mittel, das helfen soll, bessere und überzeugendere empirische Geschichten zu erzählen«.

In der »Einführung« (»Verfassungshistoriographie zwischen Geschichtswissenschaft, Philosophie und Rechtsdogmatik«) fächern die beiden Herausgeber das Themenfeld der insgesamt 15‍‍‍ Beiträge weiter auf: Im Mittelpunkt steht die Verortung der Verfassungsgeschichtsschreibung zwischen Rechts- und Geschichtswissenschaft. Ist die Verfassungsgeschichte eher als ein Teil der Geschichtswissenschaft und damit als »eine dezidiert deskriptiv arbeitende Disziplin« oder als Teilgebiet der Rechtswissenschaft anzusehen, »mit der Folge, dass sie teilhat an den normativen Fragen und Lösungsmethoden dieser Disziplin«? Ist sie als Teil der Geschichtswissenschaft zu betrachten, dann müssten wohl auch die diversen, in rascher Ab-folge sich einander ablösenden methodologischen »turns« der Historiographie stärkeren Eingang in die Verfassungsgeschichte finden. Der letzte Schrei diesbezüglich war bekanntlich der »cultural turn«, der das Augenmerk der Historiker sehr stark auf die »Verfassungspraktiken« gelenkt hat, insbesondere auf »die prozedurale, kommunikative Grundierung jeder historischen Faktizität«, wie es die Herausgeber ausdrücken. Für sie stellt sich hier die Frage, inwieweit »die besondere Textualität des Verfassungsrechts und damit das Spezifikum der modernen Verfassungsgeschichte« einem »kulturelle[n] Zugriff aus einer kulturtheoretischen Beobachterperspektive« entgegensteht (22).

Meines Erachtens müsste hier viel stärker zwischen der älteren und der modernen Verfassungsgeschichte unterschieden werden, denn beide haben doch einen sehr unterschiedlichen Untersuchungsgegenstand und verfügen über sehr unterschiedliche Quellen: Nur die moderne Geschichte der geschriebenen Verfassungen hat die »besondere Textualität« ihrer Quellen zu berücksichtigen. Sie stehen in einem einheitlichen Traditionszusammenhang »fortschreitende[r] Herausbildung herrschaftsbegrenzender und freiheitssichernder Ordnungen« (19). Es ist insofern kein Zufall, dass die Geschichte der geschriebenen Verfassungen eine Domäne der Verfassungsjuristen ist, denn sie haben es auch bei den historischen Verfassungen durchgehend mit einem Normengefüge zu tun, das einen ausgeprägten gemeinsamen Nenner mit jener Verfassung aufweist, die sozusagen »ihr täglich’ Brot« ist. Die »Verfassung« des Alten Reiches hingegen – und gleiches gilt durchgehend für das Jus Publicum der Territorien – wurde überwiegend bestimmt durch das Herkommen, das nur punktuell verdichtet war durch die sog. »Fundamentalgesetze«. Das »Herkommen« wiederum entstand bekanntlich im Zuge langfristig geübter »Verfassungspraxis«, die bestimmt war durch »prozedurale, kommunikative Grundierung«, um noch einmal eine Formel der Herausgeber aufzunehmen. Hier befindet sich der moderne Jurist auf ungewohntem Gelände, und hier steht er auch in größerer Konkurrenz mit den Historikern, die die viel stärker von Praxis und Faktizität geprägte Normenordnung der Vormoderne durchaus auch als ihre Domäne betrachten können. |

Vier Autoren fassen nun allerdings zunächst das Verhältnis der neuesten Geschichte zur Verfassungsgeschichte ins Auge und fragen nach dem Beitrag der Zeitgeschichte zur Verfassungsgeschichte; drei dieser Beiträge sind auf Deutschland, einer ist auf die USA bezogen. Alle Autoren sehen bei der neueren und neuesten Geschichte nur geringes Interesse für die Verfassungsgeschichte. Es fehle den Vertretern der Zeitgeschichte »an Sensibilität für die politische und soziale Relevanz der Verfassung und für die eigenständige Bedeutung ihrer Auslegung und Anwendung« (Dieter Grimm, »Verfassungsgeschichte und Geschichtswissenschaft«, 42). Verfassungsgeschichte, jedenfalls als »Geschichte materiellen Verfassungsrechts«, stehe »in der Zeitgeschichte aktuell nicht hoch im Kurs«, deutlich im Gegensatz zu den Historikern der Vormoderne (Gabriele Metzler, »Zeitgeschichtliche Beobachtungen von Staat und Verfassung«). Die Historikerin Metzler erklärt das vor allem auch mit einer Interessenverlagerung der Zeitgeschichte weg vom Staat hin zur Sozial- und Gesellschaftsgeschichte (44–47). Ähnlich argumentiert Anna-Bettina Kaiser (»Szenen einer Ehe – Verfassungshistoriographie zwischen Geschichts­ und Rechtwissenschaft«): »Die Beziehung zwischen Geschichts- und Rechtswissenschaft« sei »zerrüttet, das gemeinsame Projekt Verfassungsgeschichte zum Zankapfel geworden«. Das habe nicht zuletzt »die teilweise positive Neubewertung der Weimarer Reichsverfassung durch die juristische Verfassungsgeschichte im Jubiläumsjahr 2019« sichtbar gemacht (79). Besonders lesenswert ist schließlich der Beitrag von Justin Collings hierzu (»Was nützt Verfassungsgeschichte – und wem?«), der sich schon durch seine erfrischend klare Sprache abhebt (was man leider nicht durchgehend von den übrigen Beiträgen sagen kann, die teilweise doch recht »hermetisch« daherkommen). Auch für die »US-amerikanische Historikerzunft« konstatiert Collings das »Verschwinden der Verfassungsgeschichte« (168); nicht zuletzt ist das für ihn eine Folge der »sich stets wandelnden akademischen Moden«. Traditionell sei die Verfassungsgeschichte in den USA »Nationalgeschichte«, häufig in Form »patriotische[r] Erfolgsgeschichte«. Das aber sei für die Berufshistoriker wenig anziehend, da das glatte »Gegenteil von avantgardistisch« – und wer ist als Wissenschaftler schon gerne mit der Nachhut unterwegs? Umgekehrt aber betrieben »die US-amerikanischen Juristen des 21. Jahrhunderts Verfassungsgeschichte wie nie zuvor« – ein Umstand, den Collings mit dem Vordringen des »Originalism« erklärt, einer Art subjektiver Auslegungsmethode in der amerikanischen Verfassungsinterpretation, die »die Bedeutung eines Verfassungstextes in seinem ursprünglichen Sinngehalt« sucht (169), und eben dieser wird durch die Verfassungsgeschichte erschlossen. Die Verfassungsgeschichte spielt hier also eine ähnliche Rolle als dogmatische Hilfswissenschaft wie einst die Rechtsgeschichte im Zivilrecht.

Bei der Lektüre der teils sehr ambitionierten Beiträge kommen dem Leser leise Zweifel, die vielleicht auch die beiden Herausgeber gespürt haben. Es fällt jedenfalls auf, wenn sie »eine regelrechte ›Theorieaversion‹ innerhalb der Verfassungsgeschichte« beobachten (11), und daraus – freilich etwas versteckt in einer Fußnote (Fn. 45) – »produktiv gewendet den Vorschlag ableiten, statt immer weiteren ›Meta-tisierungen‹ der Perspektive im Sinn einer Geschichte der Geschichte des Verfassungsrechts, Theorie der Theorie etc. auch einfach wieder etwas zu machen, das heißt selbst wieder am Material zu arbeiten«. Wie darf man das verstehen? Sollte man sich vielleicht nicht zu lange mit Methodologie und Theorie aufhalten, statt dessen zum Quellen-»Material« zurückkehren und damit beginnen, Verfassungsgeschichte(n) zu schreiben?

Notes

* Ino Augsberg, Michael W. Müller (Hg.), Theorie der Verfassungsgeschichte. Geschichtswissenschaft – Philosophie – Rechtsdogmatik, Tübingen: Mohr Siebeck 2023,X + 225 S., ISBN 978-3-16-162198-7