Vorzustellen ist eine Neuerscheinung auf dem nicht gerade dünn besetzten Themenfeld der »Deutschen Verfassungsgeschichte«. So lautet auch der schlichte Titel dieses Buches; der eindeutige Schwerpunkt, aber auch die großen Stärken des Werks liegen in der Darstellung des 19. und 20. Jahrhunderts.
Es ist in den Worten des Verfassers eine geradezu »Kopernikanische Wende« (§12), die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Verfassungsentwicklung vollzogen habe und die es rechtfertige, an der Schwelle zur Moderne in der Darstellung der neuzeitlichen Verfassungsgeschichte einen Schnitt zu setzen. Denn damals tauchen zwei grundstürzend neue Ideen auf: »die Idee der geschriebenen Verfassung« und ein vollkommen neues »Konzept der Herrschaftsbegründung«. Sie tragen bis heute »unser staats- und verfassungsrechtliches Weltbild«. Weit über drei Viertel des Buches sind daher der modernen Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gewidmet. In der Tat erscheint es angesichts einer solch tiefen Zäsur im politischen Denken und in der Entwicklung des Verfassungsbegriffs plausibel, den Schwerpunkt der Darstellung auf die Epoche der »geschriebenen Verfassungen« zu setzen, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auftauchen.
Dennoch möchte Stefan Korioth die früheren Epochen »zumindest knapp behandeln«. Ihnen ist Teil 2 und 3 gewidmet. Diese sind nicht chronologisch gereiht, vielmehr wird in Teil 2 zunächst die Geschichte des Alten Reiches von der fränkischen Zeit an bis zu seinem Ende 1806 erzählt, im 3. Teil hingegen die Entstehung und Entwicklung des deutschen Territorialstaats vom Spätmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Für einen bloßen Überblick ist das Werk auch in diesen Teilen durchaus gelungen: Der Autor skizziert die Verwurzelung des Alten Reichs in der spätantiken Welt, und zumindest im Groben seine Struktur im Mittelalter und der Frühen Neuzeit; auch die Wendepunkte in der Entwicklung seiner »Verfassung« (im materiellen, faktischen Sinne) | werden behandelt. In Teil 3 werden die Entstehung des institutionellen Flächenstaates sowie Ständestaat und Absolutismus in den Territorien des Reichs besprochen. Das vermittelt einen soliden Überblick. Den Begriff der »Verfassung«, der bei der Beschreibung des Reichs und der frühneuzeitlichen Territorialstaaten üblicherweise zugrunde gelegt wird, vor allem die fundamentalen Unterschiede zum modernen Verfassungsbegriff, hätte man freilich deutlicher herausarbeiten können.
Seine Stärken zeigt das Buch ab dem 4. Teil, mit dem die Darstellung der verfassungsgeschichtlichen Moderne eröffnet wird, will heißen: die Ära der geschriebenen Verfassungen im Sinne eines auch formellen Verfassungsbegriffs. Demgemäß setzt der 4. Teil mit einem straffen Überblick über die beiden wahrhaft epochalen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts in Nordamerika und Frankreich ein, in deren Verlauf jener, vom Ideengut des Vernunftrechts und der englischen und französischen Aufklärung getragene Typ einer »geschriebenen Verfassung« auftaucht. Deren philosophischen und ideengeschichtlichen Grundlagen (»Staatstheorie im 18. Jahrhundert«; §11) schildert der Autor noch in dem vorangehenden 3. Teil, wobei diese Verortung nicht so recht überzeugt, denn Locke, Montesquieu und Rousseau haben mit dem deutschen Territorialstaat der Frühen Neuzeit nicht sehr viel zu tun. Das hätte man besser zusammen mit §12 (Die Idee der geschriebenen Verfassung) und §13 (Die Gründung der USA und die Französische Revolution) in den 4. Teil genommen, denn es stellt ja auch die ideelle Grundlage des deutschen Konstitutionalismus dar, dem Teil 4 gewidmet ist. Dann hätte deutlicher hervortreten können, in welchen Punkten sich die Idee der modernen »geschriebenen Verfassung« aus dem Gedankengut der Aufklärung und des Vernunftrechts speist; diesen Zusammenhang hätte man m.E. klarer herausarbeiten können.
Der »westlichen«, in Nordamerika und Frankreich hervortretenden Verfassungsidee stellt Korioth sodann das Konzept des deutschen Konstitutionalismus und dessen Verwirklichung in der Verfassungsgesetzgebung gegenüber: zuerst in den deutschen Einzelstaaten (4. Teil), sodann mit der Reichsverfassung 1849 und der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 »auf gesamtdeutscher Ebene« (5. Teil). »Die Verfassungsentwicklung im Kaiserreich« wird unter drei Aspekten geschildert: Neben der »Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche« im Zuge des sog. »Kulturkampfs« wird die rasche Integration und rechtliche Vereinheitlichung des Deutschen Reiches als eines »bündischen Bundesstaats« (»Festigung und Institutionalisierung des Reichs«) dargestellt, also die sog. »zweite Reichsgründung« auf der Basis einer entsprechenden Gesetzgebung wie etwa den Reichsjustizgesetzen. Drittens werden die »Veränderungen des politischen Systems im Miteinander und Gegeneinander von Reichstag und ›Reichsleitung‹« behandelt; hier sieht der Autor Ansätze zur »Parlamentarisierung der Reichsleitung« (230). Dementsprechend konstatiert er in der Reichsverfassung 1871 bereits den »Ausklang des Monarchischen Prinzips« (211) und begründet das nicht zuletzt damit, dass dem Kaiser im Gegensatz zu den frühkonstitutionellen Verfassungen kein Vetorecht bei der Gesetzgebung mehr zugekommen sei. Bei dieser Schlussfolgerung übersieht der Autor allerdings, dass es in der Verfassung 1871, welche das Reich als einen Monarchenbund konstituierte, die im Bundesrat vereinigten Monarchen waren, denen die vollziehende Gewalt und damit auch das absolute Vetorecht zukommen sollte. Das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrats zu den vom Reichstag verabschiedeten Gesetzen war nichts anderes als ein kollektives absolutes Vetorecht aller am Monarchenbund beteiligten Fürsten, so dass es in diesem Punkt jedenfalls prinzipiell auch in der Reichsverfassung 1871 noch beim »Monarchischen Prinzip« verblieb.
Die beiden Teile zum Konstitutionalismus im »langen 19. Jahrhundert« (4. und 5. Teil) schließen mit dem »Ende der Monarchien« in Deutschland und der kurz zuvor erfolgten (und daher folgenlos gebliebenen) »Parlamentarisierung des Reiches«, |vor allem aber mit dem sehr schnellen Anwachsen des Interventionsstaates zur Bewältigung der Kriegswirtschaft seit 1914. Verbunden war das mit einer Art »Teilabdankung« des Reichstags: Mit dem Gesetz über »die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen im Falle kriegerischer Ereignisse«, wurde der vollziehenden Gewalt (also formal dem Bundesrat!) eine weitreichende Kompetenz zur Verordnungsgebung »zur Abhilfe wirtschaftlicher Schädigungen« übertragen (236). Mehr als 800 Verordnungen ergingen während des Krieges auf dieser Grundlage, um Staat und Gesellschaft einer möglichst »schnell agierenden Steuerung« zu unterwerfen.
Nahezu die Hälfte des Buches ist im 6. Teil zusammengefasst, in dem der Zeitraum »Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart« behandelt wird. Gerade hier zeigt das Werk seine größten Stärken, denn hier löst Stefan Korioth sein methodisches Ideal einer Verbindung von Rechts- und Geschichtswissenschaft in wirklich gekonnter Weise ein. Das Resultat ist eine außerordentlich spannend zu lesende »Neueste Verfassungsgeschichte« bzw. »Verfassungszeitgeschichte«, die am Schluss unmittelbar an die wichtigsten verfassungsrechtlichen und -politischen Probleme und Diskussionspunkte im Deutschland der ersten Jahrzehnte nach dem Jahr 2000 anknüpft.
Der 6. Teil beginnt mit dem Umbruch im November 1918 und dem Weg zur »Weimarer Verfassung«, der ersten republikanischen Verfassung Deutschlands auf der Grundlage der Volkssouveränität (253). Bei der Analyse der Weimarer Verfassung (253ff.) liest man besonders gespannt die Passagen zum Reichspräsidenten und dessen Kompetenzen in Art. 48 WRV, »nach dem unglücklichen Ende der Republik die am meisten erörterte und häufig für ihr Scheitern maßgeblich verantwortlich gemachte Vorschrift der Reichsverfassung«, wie der Verfasser betont (267). Die Notstandsbefugnisse des Reichspräsidenten macht er demgemäß zum Gegenstand eines eigenen Kapitels, in dem er auch die berühmte Auseinandersetzung zwischen Carl Schmitt und Hans Kelsen aufgreift, wer »der Hüter der Verfassung« sein sollte (266ff.), der Reichspräsident oder der »zum justizförmigen Schutz der Verfassung« eingerichtete Staatsgerichtshof. Er zeigt die verfassungspolitischen Motive für den starken Reichspräsidenten: Das war vorrangig das Bemühen, einen »Parlamentsabsolutismus« zu vermeiden, indem man eine »zweite Linie unmittelbarer demokratischer Legitimation« schafft, »neben derjenigen, die von der Wahl zum Reichstag ausging« (267). In einem eigenen Abschnitt greift Korioth die heftig umstrittene Frage auf, inwieweit sich »Konstruktionsfehler« der Weimarer Verfassung ausmachen lassen, die zu ihrem letztendlichen Scheitern beigetragen haben könnten (317f.); er wendet sich dezidiert gegen die nach dem Krieg lange Zeit herrschende und auch vom Parlamentarischen Rat 1948/49 bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes zugrunde gelegte These, dass »inhaltliche Mängel der Verfassung wesentlich für ihr Scheitern verantwortlich gewesen seien«. Die Weimarer Verfassung war »konsequent demokratisch« und »insbesondere in ihrem Grundrechtsteil modern und zukunftsweisend«, aber »sie setzte eine Gesellschaft voraus, die eine solche Verfassung als Rahmen der Entfaltung nutzen würde und sich von der Verfassung in Form bringen ließ« (317f.). Der Verfasser sucht diese These mit der Gegenfrage zu untermauern: »Was änderte sich heute, wenn anstelle des Grundgesetzes die Weimarer Verfassung gälte?« Mangelte es unserer gegenwärtigen Gesellschaft, so seine Antwort, in gleicher Weise an den »vorrechtlichen Fundamenten des Rechtsstaates und der Demokratie«, dann »müsste auch die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes zu Ende gehen« (ebd.).
Auch das »nationalsozialistische Regime« (§23) mit der es prägenden totalitären »Durchdringung von Staat und Gesellschaft« und die Verfassungsgeschichte der »Bonner Republik« wie auch der DDR wird in einem Stil dargestellt, der weit über eine reine Normengeschichte hinausgeht; diese wird vielmehr in einer höchst anschaulichen Weise in den zeitgenössischen politik- und sozialgeschichtlichen Kontext eingebettet. Die Darstellung gewinnt nicht zuletzt auch dadurch ungemein an Anschaulichkeit, dass der Autor literarische Quellen einfügt. Für ein »Lehrbuch der Verfassungsgeschichte« ist das ungewöhnlich, aber diese Texte sagen dem Leser teilweise erheblich mehr als jede Bebilderung. Teils kommen hier Zeitzeugen zu Wort, etwa der notorische Tagebuchschreiber Harry Graf Kessler, teils werden Passagen aus fiktionalen Texten eingebaut, in denen die Stimmung und das jeweilige Zeitgefühl einer Epoche in besonders verdichteter Weise zum Ausdruck kommt, wie etwa »das Gefühl, daß eine Epoche sich endigte« in den Augusttagen des Jahres 1914 beim Komponisten Adrian Leverkühn im »Dr. Faustus« von Thomas Mann.
Auf diese Weise zieht Stefan Korioth den Faden seiner Verfassungszeitgeschichte durch bis in das 21. Jahrhundert, schließend mit einem umfangreichen Teil zu den »Verfassungsentwicklungen« im wiedervereinigten Deutschland seit 1990 (§27); hier werden einige der wichtigsten Debatten um die Reichweite der Grundrechte in den Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung dargestellt, neben dem Asylrecht die teils massiven Einschränkungen »grundrechtlicher Freiheit« durch »zahlreiche Gesetze zum Schutz vor organisierter Kriminalität und internationalem Terrorismus«, ganz zum Schluss »die staatlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gesundheitsgefahren im Zuge der Covid-19-Pandemie« (417).
* Stefan Korioth, Deutsche Verfassungsgeschichte, Tübingen: Mohr Siebeck 2023, XXVIII + 490 S., ISBN 978-3-16-162069-0