Gestundete Souveränität*

[Sovereignty Deferred]

Sebastian M. Spitra Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte sebastian.spitra@univie.ac.at

The Life and Death of States von Natasha Wheatley könnte seinen Gegenstand auch in Poesie kleiden. In ihrem ersten Gedichtband aus dem Jahr 1953 fängt die wohl berühmteste österreichische Nachkriegsautorin, Ingeborg Bachmann, im Titelgedicht Die gestundete Zeit das zentrale Motiv von Wheatleys Buch zuverlässig ein: Zeitlichkeit. Im Denken über Souveränität und Staatlichkeit wurde Zeit als konstitutives Element von Rechts-, Ideen- und Globalgeschichten zumeist übersehen. Ihre Wichtigkeit lässt sich aber gerade anhand der politischen und juristischen Debatten im späten Habsburgerreich des 19. und 20. Jahrhunderts ablesen. Und auch in den Unabhängigkeitsargumenten der Nachfolgestaaten des Habsburgerreichs gab es unzählige Bezugnahmen auf – beispielsweise – eine böhmische, ungarische oder polnische Souveränität. Zumeist begründet mit dem historischen Staatsrecht der jeweiligen politischen Gebilde, war dieses und die daraus fließende Souveränität zu Lebzeiten der Monarchie, wenn überhaupt, so lediglich gestundet. Deutlich erkennbar wurde sie aber in den Konstitutionalismusdebatten der Monarchie und insbesondere dann wieder zum Ende des Habsburgerreichs durch den Ersten Weltkrieg. Oder im Takt von Bachmann: Dein Blick spurt im Nebel: / die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont.

Natasha Wheatleys Talent, regionale Studien mit breit angelegten theoretischen Reflexionen über internationale Ordnung in Geschichte und Gegenwart zu verbinden, ist in Fachkreisen inzwischen weithin bekannt. Nicht erst mit der Verleihung des Surrency Prize1 der American Society for Legal History im Jahr 2018 geriet sie in den Fokus einer breiteren Forschungsöffentlichkeit im Bereich der Völkerrechts-, Imperien-, Globalgeschichte und intellectual history, sondern sie bewies ihr scharfes Auge für interessante Zugänge zur internationalen Rechtssetzung bereits in früheren Studien zum Mandatssystem des Völkerbunds.2

In den letzten Jahren intervenierte sie sehr umsichtig im über ein Jahrzehnt andauernden Methodenstreit der Völkerrechtsgeschichte.3 Im Mittelpunkt dieser theoretischen Debatte zwischen historisch arbeitenden VölkerrechtlerInnen und intellectual historians steht die Frage, wie sehr völkerrechtsgeschichtliche Forschung historisch kontextualisiert werden muss und ab wann man in die Falle des Anachronismus tappt.4 Wheatley selbst zeigt Verständnis für beide Seiten und plädiert für einen Mittelweg, dessen Essenz sich in einem ihrer pointierten Zitate treffend zum Ausdruck bringen lässt: »To speak of law’s capacity to escape context and travel through time is another way of describing its normativity«.5

Damit gelangt man bereits mitten in das Argument von The Life and Death of States. Denn Wheatley versucht in ihrem Schlusskapitel (255–282) zu zeigen, wie die rechtsdogmatischen |Konzepte zur Staatennachfolge aus ihrem Testfeld Mitteleuropa auf die Dekolonisationsdebatten der 1960er und der folgenden Jahrzehnte vorausstrahlen. Ein Argument, das lediglich juristisch funktionieren kann und zahlreiche komplizierende Aspekte des Kolonialismus in anderen Weltteilen ausblendet. Bevor sie sich jedoch um den Brückenschlag bemüht, betrachtet Wheatley die Debatten um die Konstitutionalisierung des Habsburgerreichs seit der Märzrevolution des Jahres 1848.

Die ersten drei Kapitel wandeln dabei zwischen den historischen Staatsrechten der Länder und der Reichsverfassung, also der Innenperspektive des Habsburgerreichs samt seinen Verfassungskontroversen ab 1848, sowie dem Völkerrecht und damit der Außenperspektive auf die Monarchie vermittelt durch die internationaler Rechtsordnung. Beim Definieren und Festschreiben der einzelnen Teile und Länder des Reichs in den Verfassungen – bis zum Ende des Habsburgerreichs gab es, die nicht in Kraft getretenen Entwürfe miteingerechnet, gut ein halbes Dutzend solcher Verfassungstexte – stellt sich die Frage nach historischen, sprachlichen bzw. ethnischen Grenzziehungen innerhalb des Reichs. Dieses Moment weist einerseits auf Fragen nach der Rechtsnatur der Habsburgermonarchie;6 andererseits aber genauso auf die völkerrechtliche Stellung seiner Teile und des Reichs als solchen.

Wheatley hält diese spezielle juristische Konstellation ausschlaggebend dafür, dass die Habsburgermonarchie besonders theorieaffine Juristen wie Georg Jellinek und Hans Kelsen hervorbrachte, die zu den maßgeblichen Vertretern des Fachs wurden, indem sie sich um einen neuen theoretischen Zugang zum Staatsrecht bemühten (4). So versucht etwa Jellineks Begriffsprägung »Staatsfragment« genau diesen Zwischenraum oder die »Zwischenstufe« der Souveränität abzubilden, die sich zwischen dem Reich und seinen einzelnen Provinzen befand (104).

Das Spannungsverhältnis zwischen der Innen- und Außendimension wird sich bis zum letzten Kapitel nicht auflösen, aber konstitutiv für die Wahrnehmung der Zeitlichkeit von Staaten und Souveränität sein. Das Ende und die Geburt von neuen Staaten lassen sich für Wheatley nur durch diese zweifache Perspektive verstehen. Im Rhythmus von Bachmann: Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, / er steigt um ihr wehendes Haar, / er fällt ihr ins Wort, / er befiehlt ihr zu schweigen, / er findet sie sterblich / und willig dem Abschied / nach jeder Umarmung.

Diese Umarmung der subimperialen, staatlichen und internationalen Rechtssphären löst sich beim Ende der Habsburgermonarchie, und Wheatley erzählt, wie es sich bei den Pariser Friedensverhandlungen sowie zuvor auf Betreiben der Exilregierungen neu zu finden versucht. Dass historische Ansprüche der unterschiedlichen Staaten bei den Verhandlungen in variierendem Ausmaß erfüllt wurden, ist bekannt. So gewann das ehemalige Königreich Böhmen durch die Entstehung der Tschechoslowakischen Republik viele neue Gebiete hinzu, auf die es historische Ansprüche erhob, während Ungarn dieselben Argumente nichts halfen und es große Teile des beanspruchten Staatsgebiets verlor (181–216). Außerdem entstand mit dem Völkerbund eine neue Klammer, welche die Folgestaaten der Habsburgermonarchie zusammenhielt und auch teilweise auf seine Praktiken zur Verwaltung von Vielfalt zurückgriff.7

Die Republik Österreich, die ihren zunächst gewählten Namen Deutschösterreich ändern musste, wurde von den Alliierten als Rechtsnachfolgerin der Habsburgermonarchie angesprochen – ein Übergang von Souveränität, dem sich das offizielle und fachjuristische Österreich widersetzte. Diese rechtlichen Entwicklungen wurden jedoch von Hans Kelsen und seinem Wiener Kreis theoretisch begleitet und reflektiert. Er und insbesondere seine Schüler Josef L. Kunz, Alfred Verdross und Fritz Sander bemühten sich nach dem Ersten Weltkrieg um eine Auflösung des bereits erwähnten Spannungsverhältnisses zwischen Innen und Außen. Das Ergebnis war der Monismus der Rechtsordnung, oder, wie es Verdross in einem seiner Buchtitel programmatisch formulierte: Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung.8 Damit wurde das |Spannungsverhältnis zugunsten der internationalen Rechtsordnung aufgelöst, das staatliche Recht in den größeren »Stufenbau« der Rechtsordnung integriert.

Wheatley bricht ihr Buch jedoch an dieser Stelle in der Zwischenkriegszeit ab, bevor sie zum Sprung in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ansetzt. Die Annexion Österreichs durch NS-Deutschland – die juristisch heute als eine Okkupation betrachtet wird – und die Debatten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in den ehemaligen Ländern der Habsburgermonarchie sind kein Gegenstand des Buchs. Ob auch hier Bachmann tongebend war? Sieh dich nicht um. / Schnür deinen Schuh. / […] / Es kommen härtere Tage.

Die Parallelen zwischen den rechtlichen Entwicklungen in Mitteleuropa und den Dekolonisationsereignissen nach dem Zweiten Weltkrieg liegen an diesem Punkt aber bereits auf der Hand.9 In beiden Fällen entstehen Staaten in ein bereits vorhandenes Völkerrecht und eine internationale Ordnung hinein, dennoch sind die zu übernehmenden Rechte und Pflichten unklar. Hier beginnt Wheatleys Buch jedoch ein anderes Register zu ziehen, das vom vorangegangenen abweicht. Anstatt dem oben beschriebenen chronologischen Ablauf und dem regionalen Kontext zu folgen, bemüht sich Wheatley wirkungsgeschichtlich um das Einfangen der mitteleuropäischen Lehren aus dem Ende des Habsburgerreichs für die Dekolonisationsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dies ist jedoch nur um den Preis einer sehr einseitigen Darstellung möglich, die zwar ein interessantes Argument hervorbringt, an dessen Überzeugungskraft man aber als Leserin und Leser selbst glauben muss. Es erinnert an vergleichbare Werke (völker)rechtlich orientierter intellectual history, die dem Verstehen und der Einordnung juristischer Entwicklungen abstrahierend ideengeschichtlich auf der Spur sind. So beschäftigt sich etwa King Leopold’s Ghostwriter. The Creation of Persons and States in the Nineteenth Century von Andrew Fitzmaurice mit der Kreierung von (juristischen) Personen auf persönlich-privater, korporativer, kirchlich-öffentlicher sowie völkerrechtlicher Ebene.10 Mit diesen Personwerdungen verfolgt man im Buch einen roten Faden durch das Leben des englischen Juristen Travers Twiss, das den Zusammenhang zwischen diesen unterschiedlichen Bereichen und Episoden zwar durch eine reichhaltige geschichtliche Kontextualisierung plausibilisiert, nicht aber zu begründen vermag.

Wheatley liefert die Erklärung für dieses Vorgehen jedoch bereits in ihrer Intervention zum völkerrechtlichen Methodenstreit: Die Normativität von Völkerrecht übersteigt zeitliche und geographische Grenzen.11 Im Abstrahieren von Kontexten und dem Ausfindigmachen von Wiederholungen zeigt sich das genuin rechtliche (und dogmatische) dieser Geschichten. Damit positioniert sie sich mit ihrem Dekolonisierungskapitel im Nahbereich zu Anne Orfords völkerrechtshistorischer Traditionslinie.12

Demgegenüber hätte die Einbettung des Habsburgerreichs in die gegenwärtigen de- und postkolonialen Debatten aber durchaus erhellende Einsichten bringen können; insbesondere auch für eine breiter angelegte Kontextualisierung ihres Souveränitätsarguments in den Dekolonisierungsdebatten.13 Dies wurde von Wheatley aber leider gänzlich vermieden. Dabei ist ihr Buch ansonsten stark kontextgesättigt: So wird vermutet, dass Adolf Merkls räumliche Vorstellung vom »Stufenbau« der Rechtsordnung auf seine Kindheit im bergig bewaldeten Niederösterreich zurückgeführt |werden könnte (233). Es wird erzählt, dass sich Georg Jellinek während seiner zweimonatigen Hochzeitsreise durch Italien nicht viel aus fixen Reiseplänen machte (93) und angedeutet, dass Freuds Theorie des ödipalen Ursprungs der menschlichen Gesellschaft für Kelsen eine Bestätigung seiner Kritik an modernen Staatstheorien war (176). Trotz dieser umfassenden Bemühung um Kontexte sind manche Regionen wie Böhmen und Ungarn mit ihren historischen Rechtsansprüchen stark überrepräsentiert und andere Teile des Reichs in ihrer Zugehörigkeit zu größeren, später nationalen Einheiten wie Dalmatien oder Galizien kaum vertreten.14 Zumindest eine Erklärung für dieses Ungleichgewicht hätte man sich beim Lesen gewünscht.

Zum Abschluss zurück zu Bachmann. In ihrer wenige Jahre nach Kriegsende verfassten Dissertation über »Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers«15 hat sie in Wittgensteins Positivismus und dem Wiener Kreis das Instrumentarium gefunden, um die Existenzialphilosophie nach Heidegger zu kritisieren. Wie Heidegger in Sein und Zeit die unterschiedlichen Zeitformen diskutierte, um eine grundsätzlichere Analyse des Seins einzuleiten, so führt jedoch auch Bachmann in ihrem Werk Die gestundete Zeit eine auf den zwischenhaften Charakter von Zeitlichkeit gerichtete Betrachtung durch. Doch gerade diese künstlerisch-poetische Herangehensweise, im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen, rechtfertigt für sie die Auseinandersetzung mit solchen Formen der Zeitlichkeit.16

Notes

* Natasha Wheatley, The Life and Death of States: Central Europe and the Transformation of Modern Sovereignty, Princeton (NJ): Princeton University Press 2023, XIII + 406 p., ISBN 978-0-691-24407-5

1 Die Auszeichnung bezog sich auf den Artikel: Nathasha Wheatley, Spectral Legal Personality in Interwar International Law: On New Ways of Not Being a State, in: Law and History Review 35,3 (2017), 753–787.

2 Natasha Wheatley, The Mandate System as a Style of Reasoning. International Jurisdiction and the Parceling of Imperial Sovereignty in Petitions from Palestine, in: Cyrus Schayegh, Andrew Arsan (eds.), The Routledge Handbook of the History of the Middle East Mandates, London 2015, 106–122; dies., Mandatory Interpretation: Legal Hermeneutics and the New International Order in Arab and Jewish Petitions to the League of Nations, in: Past and Present 227 (2015), 205–248.

3 Zu den zentralen Texten der Debatte zählen u.a.: Anne Orford, On International Legal Method, in: London Review of International Law 1 (2013), 166–197; Andrew Fitzmaurice, Context in the History of International Law, in: Journal of the History of International Law 20 (2018), 5–30; Lauren Benton, Beyond Anachronism: Histories of International Law and Global Legal Politics, in: Journal of the History of International Law 21 (2019), 7–40; Anne Orford, International Law and the Politics of History, Cambridge 2021.

4 Ein Überblick über die Debatte erscheint demnächst in Sebastian M. Spitra, A Short Introduction to Research in the History of International Law: Current State, Contexts and Perspectives, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 46 (2024 i.E.).

5 Natasha Wheatley, Law and the Time of Angels: International Law’s Method Wars and the Affective Life of the Discipline, in: History and Theory 60,2 (2021), 311–330 (311).

6 Zu den Anfängen dieser juristischen Problematik siehe Martin P. Schennach, Austria inventa? Zu den Anfängen der österreichischen Staatsrechtslehre, Frankfurt am Main 2020.

7 Peter Becker, Natasha Wheatley (eds.), Remaking Central Europe. The League of Nations and the Former Habsburg Lands, Oxford 2021.

8 Alfred Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, Tübingen 1923.

9 Siehe auch Natasha Wheatley, Samuel Moyn, Towards a History of the Decolonization of International Law. An Introduction to the Special Issue, in: Journal of the History of International Law 23 (2021), 1–3.

10 Andrew Fitzmaurice, King Leopold’s Ghostwriter: The Creation of Persons and States in the Nineteenth Century, Princeton (NJ) 2021.

11 Siehe wieder Wheatley (wie Fn. 5) 311.

12 Als pointierte Einführung in ihren Ansatz siehe Anne Orford, What Is the History of International Law For?, in: Global Intellectual History, special issue (2023), 1–23.

13 Siehe dazu etwa den rezenten Überblick: Dirk Rupnow, Jonathan Singerton, Habsburg Colonial Redux: Reconsidering Colonialism and Postcolonialism in Habsburg/Austrian History, in: Journal of Austrian Studies 56 (2023), 9–20. Wegweisend aber bereits Walter Sauer (Hg.), k. u. k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika, Wien 2002; Johannes Feichtinger et al. (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Innsbruck 2003; Walter Sauer, Habsburg Colonial: Austria-Hungary’s Role in European Overseas Expansion Reconsidered, in: Austrian Studies 20 (2012), 5–23.

14 Zu Dalmatien, siehe zuletzt Johannes Kalwoda, Parteien, Politik und Staatsgewalt in Dalmatien (1900–1918), Wien 2023.

15 Ingeborg Bachmann, Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers, Dissertation Universität Wien 1949. Inzwischen erschienen unter gleichem Titel bei Piper: München 1985 und 2022.

16 Joachim Eberhardt, Existentialphilosophie und Existenialismus, in: Monika Albrecht, Dirk Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2. Aufl. Stuttgart 2020, 295–298.