Gerichtsprivilegien vor Gericht*

[Court Privileges on Trial]

Karl Härter Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main haerter@lhlt.mpg.de

Privilegien als spezifische Ausprägung rechtlicher Normativität, die einzelnen Begünstigten eine Sonderberechtigung oder Befreiung verleihen, gehören noch immer zu den Themen mit rechtshistorischem Forschungspotential. Dies gilt insbesondere für die Gerichtsprivilegien, die Grundlagen und Kernfragen der vormodernen Gerichtsverfassung regelten. Die Studie des emeritierten Rechtshistorikers Ulrich Eisenhardt zu den kaiserlichen Gerichtsprivilegien im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation mit seiner Vielfalt an höchsten, territorialen, kommunalen, niederen, weltlichen, geistlichen, zivilen und Strafgerichten mit unterschiedlichen Inhabern der Gerichtsgewalt und Zuständigkeiten füllt daher eine Forschungslücke. Sie bietet erstmals eine umfassende Darstellung der verschiedenen Gerichtsprivilegien und ihrer Erteilung durch Kaiser/Könige, ihrer Adressaten, Regelungsgegenstände und Normen und untersucht epochenübergreifend deren Bedeutung in und für die Gerichtspraxis. Anhand der Rechtsprechung der Höchstgerichte des Alten Reiches − königliches Hofgericht und Kammergericht im Mittelalter, Reichskammergericht und Reichshofrat in der Frühen Neuzeit – arbeitet Eisenhardt die um Gerichtsprivilegien entstehenden Konflikte, ihre Bedeutung als Entscheidungsgrundlage und damit ihre Funktionen im Hinblick auf die Entwicklung von Gerichtswesen und Recht heraus.

Vorgehensweise, Methodik und Darstellung sind dem anspruchsvollen Forschungsvorhaben angemessen, das sich in drei Hauptteile gliedert: 1) Gerichtsprivilegien und Gerichtsverfassung im Mittelalter, 2) Gerichtsprivilegien und Rechtsprechung in der Neuzeit, 3) Wirkungen der Gerichtsprivilegien, die jeweils einen systematischen, profunden Überblick über die Gerichtsverfassung im Reich sowie über die verschiedenen Formen der Gerichtsprivilegien, ihre Funktionen und langfristige Entwicklungen bieten. Daran schließen sich nach den jeweiligen Gerichtsprivilegien gegliederte Analysen der Rechtsprechung des königlichen Hofgerichts und des königlichen Kammergerichts bzw. von Reichskammergericht und Reichshofrat an. Bei der Rechtsprechungsanalyse geht Eisenhardt methodisch geschickt vor, nutzt die vorhandenen Editionen, Regestenwerke und Datenbanken, aber auch Akten einzelner Fälle und verbindet quantitative Erhebungen mit der Analyse einzelner exemplarischer Fälle.

Auf dieser breiten Quellenbasis gelingt eine durchdringende Analyse der verschiedenen For|men von Gerichtsprivilegien, die Eisenhardt systematisch differenzierend herausarbeitet: Das privilegium fori des Klerus, das privilegium de non evocando (Befreiung von kaiserlicher Gerichtsbarkeit), Exemtionsprivilegien, Gerichtsstandsprivilegien und das privilegium de non appellando (Befreiung von Appellationen an die Reichsgerichte) regelten Zuständigkeiten von Gerichten, befreiten von fremder Gerichtsbarkeit, beschränkten Appellationen an fremde/höhere Gerichte, begründeten ausschließliche/partikulare Gerichtsstände und regelten Verhältnisse unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten zueinander und zur Reichsgerichtsbarkeit. Die Vielfalt der Gerichtsprivilegien führte aber auch zu Privilegienverletzungen, Überschneidungen, Eingriffen, Kollisionen und Jurisdiktionskonflikten. Normativ sehr unterschiedliche Gerichtsprivilegien regulierten einerseits gerichtliche Vielfalt, erzeugten aber andererseits auch justizielle Diversität, da sie spezifische Adressaten, Gerichte, Gerichtsgewalten, Verfahren oder Gegenstände befreiten, berechtigten oder ausschlossen und allgemein verbindliche Regeln erst als Folge von Konflikten ausgehandelt werden mussten.

Nur gelegentlich verliert sich die detaillierte, alle Aspekte beleuchtende Darstellungsweise in speziellen Einzelheiten oder führt zu textlichen Redundanzen. Da Eisenhardt zahlreiche Zusammenfassungen einschaltet, in denen er die Ergebnisse einordnet und mit Bezug auf die Forschung diskutiert, bleiben Überblick und Kohärenz jedoch immer gewahrt. Die Ergebnisse sind reichhaltig: Eisenhardt beleuchtet die jeweiligen Akteure (Privilegieninhaber, Kläger/Beklagte, Kaiser, Reichsstände usw.), arbeitet sowohl allgemeine Konfliktkonstellationen als auch spezifische Probleme der jeweiligen Gerichtsprivilegien heraus, bezieht das Reichsrecht als Rechtsquelle und Entscheidungsgrundlage mit ein und macht so die Relevanz der Gerichtsprivilegien in der juridischen Praxis der Reichsgerichte als auch hinsichtlich der allgemeinen politisch-rechtlichen Auswirkungen auf allen Ebenen des Alten Reiches deutlich. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem privilegium fori, den von fremder Gerichtsbarkeit befreienden Gerichtsstandsprivilegien und den Appellationsprivilegien zu. Die wesentlichen damit zusammenhängenden und in den Reichsgerichten bearbeiteten Konflikte kreisen um das Spannungsverhältnis und die Abgrenzung zwischen geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit sowie zwischen territorialer Gerichtsbarkeit und Reichsjustiz. Die Regulierung dieser vielfältige Konstellationen annehmenden Grundkonflikte wirkte sich sowohl auf die Weiterentwicklung der partikularen territorialen Gerichtsverfassungen (z.B. bezüglich Zuständigkeitsregeln, Verfahren, Instanzenzug, Zugang) als auch auf die allgemeine Rechtsentwicklung aus. Einerseits schufen Gerichtsprivilegien für einzelne Reichsmitglieder einen gewissen Freiraum zur eigenständigen Entwicklung partikularen Rechts, führten aber auch – wie Eisenhardt differenzierend hervorhebt – auf der Ebene des Reiches zu einer Verdichtung der Einzelfallregelungen zu Rechtsnormen, die wiederum ein gewisses Maß an Einheitlichkeit gewährleisteten.

Um Spannungsverhältnis und Entwicklungsprozesse zwischen Gerichtsprivilegien und allgemeinem Recht zu interpretieren, verwendet Eisenhardt allerdings einen veralteten Gesetzesbegriff: Alle im Verhältnis zu Privilegien stehenden allgemeinen Rechtsquellen und reichsrechtlichen Normen werden als »Gesetze« qualifiziert, vom Deutschenspiegel bis zu den kaiserlichen Wahlkapitulationen oder den Westfälischen Friedensverträgen. Zwar verweist der Autor darauf, dass es sich nicht um Gesetze im heutigen Sinn handle und vormoderne Gesetze auf der Gesetzgebungsgewalt des Königtums beruhen würden (317f.). Dennoch setzt er ohne weitere Diskussion und Berücksichtigung der einschlägigen Forschungsliteratur die komplexe Multinormativität des Reichsrechts mit (Reichs-)Gesetz gleich. Die im Kontext der Gerichtsprivilegien entstehenden reichsrechtlichen Normen waren aber nicht nur kaiserliche Gesetze, sondern Teil eines auf Beratungs- und Aushandlungsprozessen beruhenden, einen Vereinbarungs- und Vertragscharakter aufweisenden Reichsrechts, das sich nur bedingt mit dem Gesetzesbegriff beschreiben lässt. Letztlich würden damit das Wirkungsverhältnis und die Entwicklung vom Gerichtsprivileg zu allgemeineren Rechtsnormen auf die Dichotomie Privileg – Gesetz reduziert. Die reichhaltigen empirischen Ergebnisse der Studie machen gerade deutlich, dass Gerichtsprivilegien in einem pluralem Rechtsspektrum situiert waren und in diesem unterschiedliche Formen von Normativität beeinflussten, zur Weiterentwicklung beitrugen, aber auch in Konkurrenz traten und kollidierten.

Mit seiner quellengesättigten, die Analyse von Normen und Gerichtspraxis verbindenden Studie zeigt Eisenhardt folglich eindrucksvoll, dass Gerichtsprivilegien nicht nur für die juridische wie |politische Praxis eine große Rolle spielten, sondern das komplexe Justizsystem des Alten Reiches rechtlich-politisch organisierten und über die juridische Bearbeitung von Konflikten weiterentwickelten. Gerichtsprivilegien waren mehr als disparate Einzelakte und ein wesentliches Element eines pluralen Rechtssystems, das sowohl die Ausformung partikularer Gerichtsbarkeiten und unabhängiger Jurisdiktionen auf der Ebene einzelner Reichsmitglieder als auch gemeinsame Grundnormen und Konfliktregulierung durch die überwölbenden Instanzen des Reiches – Reichsgerichte und Kaiser – ermöglichte. Damit förderten sie die langfristige Ausformung eines formalen Gerichtswesens – und somit von Landesherrschaft und vormoderner Territorialstaatlichkeit –, stießen Reformen an, ermöglichten Zugang zu Justiz und mehr Rechtssicherheit. Insofern demonstriert die Studie von Eisenhardt exemplarisch, dass Gerichtsprivilegien eine lohnenswerte Thematik sind, um normativen und justiziellen Pluralismus in vormodernen Imperien weiter zu erforschen.

Notes

* Ulrich Eisenhardt, Kaiserliche Gerichtsprivilegien. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der Rechtspflege im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 78), Wien/Köln: Böhlau 2023, 442 S., ISBN 978-3-4-12-52857-7