Experten gesucht*

[Experts Wanted]

Marian Füssel Georg-August-Universität Göttingen marian.fuessel@phil.uni-goettingen.de

Juristen gelten neben Medizinern in der historischen Erforschung der Emergenz von Expertenkulturen in Mittelalter und Früher Neuzeit als prototypische Gruppe. Alle Eigenschaften von Experten, wie deren Anrufung, Inszenierung, Fachsprache oder Kritik lassen sich geradezu idealtypisch am vormodernen Juristenstand verfolgen. Grund genug, der Sache in einem Band mit Schwerpunkt auf der höchsten Reichsgerichtsbarkeit im 16. und 17. Jahrhundert empirisch weiter nachzugehen. |Anette Baumann ebnet in ihrer Einleitung analytisch den Weg zur wissenssoziologischen Rekonstruktion von juristischen Wissensbeständen und Expertenrollen. Doch Sammelbände – und auch solche von RechtshistorikerInnen – sind regelmäßig mit dem Konflikt zwischen Disziplin und Eigensinn ihrer BeiträgerInnen konfrontiert. Nicht nur stehen extrem lange Beiträge neben extrem kurzen, sondern auch solche, die sich auf das Rahmenthema einlassen, neben solchen, die den Weg aus der Komfortzone des eigenen Ansatzes scheuen. Im Fall dieses Bandes lassen sich die Beiträge in drei Kategorien einteilen: Aufsätze, die ganz oder weitgehend auf Forschungen zu Expertenkulturen verzichten, solche, die genuin juristischer Expertise nachspüren, und solche, die sich einem disziplinübergreifenden »Crossover« bzw. Wettbewerb von fachlichen Expertisen widmen.

Am Beginn steht ein 86-seitiger Mammutbeitrag von Tobias Schenk mit dem kurzen Titel Vom dominus referens zum Berichterstatter. Schenk schöpft reichlich aus dem theoretischen Werkzeugkasten von Organisationssoziologie, Systemtheorie, Praxeologie und in etwas geringerem Umfang aus Wissensgeschichte und Wissenssoziologie, um der »Intellektualisierung und Entkörperlichung« (66; 72) vieler traditioneller, rechtsgeschichtlicher Forschungen vehement entgegenzuarbeiten. Im Zentrum steht der Wandel von Dichotomien wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie Einzelrichter und Kollegium, anhand dessen Rekonstruktion Schenk eine konsequente Historisierung von Entscheidungsprozessen am Reichshofrat gelingt. Einziges Rezeptionshemmnis bleibt, dass Schenk sich dem barock ausladenden Argumentationsumfang einer Reichshofratsakte verdächtig nähert.

Kaum Gebrauch von der Rollenkategorie des Experten machen die beiden Beiträge zur frühneuzeitlichen Konsilienpraxis von Sabine Holtz zur Universität Tübingen und Alain Wijffels zu den burgundisch-habsburgischen Niederlanden. Beide betonen in unterschiedlicher Weise hingegen die Rolle des Gutachtens für die Stabilisierung und Verrechtlichung von Herrschaft und Regierung. In die gleiche Kategorie der Experten-Abstinenz fällt auch der gelehrte Beitrag Cornel Zwierleins über den Straßburger Frühkameralisten Georg Obrecht (1547−1612). Ihm attestiert Zwierlein einen hohen Praxisbezug, unter anderem gegenüber der Gerichtspraxis, in seiner eigenen akademischen Ausbildungspraxis wie seinen politisch-militärischen Konzepten. Dass Obrecht damit oft in der Rolle des Experten agierte, ist evident, wird aber analytisch nicht des Problematisierens für wert erachtet.

Die Kategorie der Crossover-Expertise jenseits der engeren Profession verfolgen die drei Beiträge von Horst Carl, Wim Decock und David von Mayenburg. Carl geht der Rolle von Juristen als Landfriedensexperten und damit »Sicherheitsexperten« ein und verknüpft überzeugend Expertiseforschung und historische Sicherheitsforschung. Bei Wim Decock stehen nicht Juristen selbst im Mittelpunkt, sondern Angehörige des Jesuitenordens mit juristischer und ökonomischer Expertise, genauer gesagt ein prominenter Angehöriger, Leonardus Lessius (1554−1623). Decock verbleibt jedoch weitgehend bei einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion der Inhalte, während man gerne mehr über Praktiken des konkreten »doing expertise« erfahren hätte. Das leistet David von Mayenburg in Ansätzen mit seiner Rekonstruktion von Juristen als Pestexperten, wenn er herausarbeitet, wie es Juristen gelang, den den Medizinern zugeschriebenen »Kompetenzvorsprung« allmählich aufzuholen, indem sie sich als »aktive Vertreter einer auf Empirie und Vernunft basierenden Problemlösungsstrategie« inszenierten (191).

Eine interessante Perspektive entwirft der Kunsthistoriker Stephan Brakensiek, indem er am Beispiel der Kunst- und Wunderkammern danach fragt, ob »Juristen in den von ihnen zusammengebrachten Sammlungen Expertenwissen generieren konnten« (236). Eine Antwort bleibt der Beitrag jedoch schuldig, der sich dann vielmehr den allgemeinen Entwicklungstendenzen frühmoderner Sammlungsepistemologie zuwendet. Der Leser erhält einen kompakten Überblick über die Sammlungsstrategien im Wandel von Repräsentation der »Welt in der Stube« zur Systematik empirischer Wissenschaft, erfährt jedoch wenig darüber, welche Rolle Juristen dabei spielten. So wäre es denkbar, dass das Sammeln mehr einer Statusdemonstration des Experten diente als einer objektbasierten Wissensgenerierung. Sammlungsbezug weist auch der Beitrag von Armin Schlechter über die »Provenienzen, Nutzergruppen und Verbreitungsgebiete« der Werke von Speyrer Reichskammergerichts-Juristen« in der Pfälzischen Landesbibliothek und in der Bibliothek des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer auf.

Es handelt sich durchweg um informative Beiträge, die mit dem Untertitel Wissensbestände und Diskurse auch eine ganz treffende Klammer erhalten, die Kategorie des Experten kommt indes nur |sehr verhalten heuristisch oder deutend zum Einsatz. Die positive Seite von Sammelband-Devianz zeigt indes der Beitrag von Schenk auf, der aus dem Band in mehrfacher Hinsicht heraussticht. Und damit ist nicht primär gemeint, dass er viermal so lang ist wie die anderen Beiträge, sondern konsequent theoriegeleitet (wissens-)soziologisch argumentiert, gleichzeitig empirisch einen gewichtigen Beitrag zur Forschung leistet und den Mut hat, mit eingefahrenen Narrativen und Denkstilen kritisch ins Gericht zu gehen. Gerade die Wissensgeschichte lädt als historische Wissenssoziologie eigentlich zu theoriegeleiteter Arbeit förmlich ein, wenn sie nicht als moderner Deckmantel für ältere ideen- und wissenschaftsgeschichtliche Zugänge dient. Anette Baumann setzt mit dem Band einen innovativen Impuls, dem weitere empirische Resonanz in Geschichte und Rechtsgeschichte zu wünschen ist.

Notes

* Anette Baumann (Hg.), Juristen als Experten? Eine Untersuchung zu Wissensbeständen und Diskursen der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert (bibliothek altes Reich 40),Berlin/Boston: De Gruyter 2023,viii + 299 S., ISBN 978-3-11-107012-4