Das tintenklecksende Säkulum*

[The Age of Scribblers]

Peter Oestmann Universität Münster oestmann@uni-muenster.de

Die grundlegenden Unterschiede zwischen einem mündlichen und einem schriftlichen Gerichtsverfahren gehören zu den klassischen Themen der Rechtsgeschichte. Die Ablösung des ungelehrten mündlichen Prozesses durch das sprichwörtliche »Quod non est in actis non est in mundo« ist als solche gut bekannt. Auch das Frankfurter Max-Planck-Institut hat hierzu bereits einen Band mit dem schönen Titel »Als die Welt in die Akten kam« vorgelegt.1 Das »Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit« wendet sich in der »bibliothek altes Reich« abermals dem Gegenstand zu. Wie |die Herausgeber zu Recht betonen, lassen sich in der Vormoderne schriftliche oder mündliche Gerichtsverfahren in ihrer Reinform nur selten festmachen (12–13). In der Tat: Zum einen gab es Protokollbücher mündlicher Verhandlungen, zum anderen oftmals mündliche Rezesse bei der Übergabe anwaltlicher Schriftsätze an die Richterbank. Hier muss man freilich genau im Blick behalten, wovon der jeweilige Verfahrenstyp im Kern abhängt. So betont etwa Eva Ortlieb durchaus zutreffend, dass die Mitglieder des Reichshofrats ihre schriftlichen Relationen im Kollegium verlasen und diskutierten (362–363). Dennoch handelt es sich zumindest aus rechtshistorischer Sicht nicht um ein gemischt schriftlich-mündliches Verfahren. Entscheidend für die Einordnung sind nämlich die sog. Prozesshandlungen der Parteien, nicht die internen Beratungen des Gerichts. Je klarer man also die Frage zuspitzt, desto leichter fallen die Antworten.

Die Herausgeber, zwei Historiker und zwei Juristen, bieten in ihrer umfangreichen Einleitung zwölf Thesen zur vormodernen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und versuchen auf diese Weise, Kohärenz zu stiften. Der Sache nach handelt es sich teilweise um knappe Zuspitzungen des Forschungsstandes, teilweise um Vermutungen, manchmal auch um Schwulst: »Die Schreiber selektierten daher im Rahmen des institutionellen Kontexts die relevanten Lautfolgen, Erzählschilderungen und Handlungen der Akteure, generierten so deren gerichtspragmatischen Sinn und verliehen ihm Dauerhaftigkeit« (21, übernommen von Maria Weber ebd. 147). Insgesamt 15 Einzelbeiträge, hervorgegangen aus einer Tagung von 2019, spannen den Bogen vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit mit einem gewissen Schwerpunkt auf der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich.

Mit jeweils rund 50 Druckseiten beanspruchen die beiden ersten Aufsätze besonderes Augenmerk. Eberhard Isenmann schöpft aus seiner riesigen Quellenkenntnis und beschreibt das Konsilienwesen spätmittelalterlicher Ratsjuristen. Den heutigen Rechtshistorikern schreibt er ins Stammbuch, sich bei Fragen nach der Rezeption und dem gemeinen Recht nicht vorschnell mit formal-methodischen Punkten zu begnügen, sondern endlich auch auf die Rechtsinhalte einzugehen (56–57). Dazu zählt etwa eine zeitgenössische Lehre vom kaiserlichen Absolutismus (71, 73, 85). Wenig quellenkritisch übernimmt Isenmann allerdings die Kritik gelehrter Juristen an der angeblich unzulänglichen älteren Laiengerichtsbarkeit.

Ulrich Falk hingegen beschreibt die Eigentümlichkeiten des rein schriftlichen Aktenversendungsverfahrens. Sein Beitrag weist die Überlegungen der Herausgeber zur angeblich besonderen Objektivität des schriftlichen Verfahrens und zum Verzicht auf Anwaltsrhetorik zurück, weil auch die geschriebenen Stellungnahmen der Advokaten und Prokuratoren den Zwecken ihrer Mandanten dienen sollten und keineswegs um Unparteilichkeit bemüht waren (94, 129). Mit Belegen aus dem frühen 19. Jahrhundert beschreibt Falk beißend die fabrikmäßige Urteilsproduktion der Juristenfakultäten für ihre Kundschaft (105). Gelehrte wie Gustav Hugo und andere beklagten damals die‍‍‍ Vernachlässigung der Zivilrechtswissenschaft durch die universitären Praktiker an den Spruchkollegien. Hier muss man freilich quellenkritisch bleiben und darf die zeitgenössischen Äußerungen aus dem Umfeld der historischen Rechtsschule nicht als rechtshistorische Befunde für die frühe Neuzeit ansehen. Unter einem gänzlich verschiedenen Wissenschaftsideal sahen die Dienstpflichten 1720 eben anders aus als 1820. Zutreffend macht Falk auf die unüberwindbaren Grenzen der Gründlichkeit aufmerksam, die sich jedem Referenten boten. Wenn der strenge Schriftbetrieb regalmeterweise Akten produzierte, wer sollte dies alles dann für eine einzelne Entscheidung durcharbeiten (125)? Falls auf der anderen Seite unterinstanzliche Akten fehlten oder sogar verlorengegangen waren, standen zeitgenössische Obergerichte vor nahezu unlösbaren Erkenntnisproblemen, wie Stefan Stodolkowitz eindrücklich zeigt (282–283).

Tobias Schenk plädiert am Beispiel der reichshofrätlichen Quellen für eine genetische Aktenkunde. Damit lassen sich die Aktenüberlieferung und die überkommenen Protokollserien miteinander verbinden. Auf diese Weise geraten die Entstehungsbedingungen der Akten stärker ins Visier, und damit kann man wenigstens erahnen, an welchen möglicherweise wesentlichen Weichenstellungen die Prozessakten schweigen. Ob man hier von politisch motivierter Rechtsbeugung im großen Stil ausgehen sollte (333), erscheint hierbei als bloße Geschmacksfrage. Denn dass die Auswahl der Referenten, verzerrte Zusammenfassungen des Streitstandes, zweifelhafte Zurückweisungen von Schriftsätzen und anderes die gewünschten Ergeb|nisse herbeiführen konnten, ist insgesamt gut belegt. Mit einem sehr schönen Zitat von Feuerbach betont Schenk, Prozessakten zeigten nichts weiter als sich selbst und ließen die gerichtlichen Handlungen als solche gerade im Dunkeln (319). Das stimmt sicherlich. Doch wirkt es riskant, wenn Schenk deswegen ausdrücklich überzeitlich argumentiert und das Reichskammergericht wie den Bundesgerichtshof über einen Leisten schlägt. Der entscheidende Einfluss von Geschäftsverteilungsfragen und damit die Schlüsselrolle frühneuzeitlicher Gerichtspräsidenten ist zweifellos wichtig. Unklar bleibt jedoch, ob es nicht eine große Zahl von Normalfällen jenseits politischer oder wirtschaftlicher Bedeutung gab, die genau deswegen dem jeweiligen Ränkespiel ein stückweit entzogen waren. Deswegen bleibt die Verortung in Zeit und Raum unerlässlich.

Interdisziplinäre Verständnishürden zeigen sich innerhalb des Bandes mehrfach, so etwa wenn Untertanen als Mitwirkende an behördlicher Schriftlichkeit erscheinen, weil ein großer Teil von Reichshofratsprozessen durch Supplikationen eingeleitet wurde (Thomas Schreiber, 367). Wenn an solchen Stellen jeder Hinweis auf Instanzenzüge und Rechtsmittel fehlt, ist das schade. Auf der anderen Seite firmieren spätmittelalterliche Oberhöfe verfehlt als zweite Instanz, in den Fußnoten begleitet durch das längst überholte Lehrbuch von Mitteis/Lieberich (Heike Hawicks, 157). Inwieweit die Sprüche der Oberhöfe als »Relikte oraler Rechtsweisung« anzusehen sind (165), erscheint überdies zweifelhaft, und die mittelalterliche Bevölkerung sollte man auch lieber nicht als Bürger bezeichnen (175). Die zeitgenössische Rückbindung an angebliche Vorväter reicht dafür jedenfalls nicht aus. Die schroffe Gegenüberstellung von schriftlichen Aushandlungsprozessen und den realen Verhältnissen vor Ort (Carolin Katzer, 262) wirkt ohnehin überzeichnet. Historische Wirklichkeit ist eben fast ausschließlich schriftlich vermittelt greifbar, so misslich dies im Einzelfall auch wirken mag. Überzeugend sind einige Tiefbohrungen wie etwa von Daniel Kaune, der spätmittelalterliche Urteilsbücher aus Basel als Beleg für die alltägliche Schriftlichkeit vor Gericht deutet und sogar nachweist, wie einzelne Streitgegenstände einzelnen Buchserien zugeordnet waren (189). An solchen Stellen gelingt die Verknüpfung von Lokalstudien mit größeren Fragen sehr gut. Ein Beispiel aus der historischen Kartographie unterstreicht zudem den Zusammenhang von Bild und Text bei Beweisfragen um streitige Grenzen (Dorothea Hutterer).

Ein Gesamturteil ist wie immer bei Sammelbänden schwierig, gerade angesichts zweier kaum einschlägiger Beiträge am Ende des Buches. In der Verdichtung von Bekanntem, Erschließung von Neuem und den Leitüberlegungen als Orientierung bietet der Band aber insgesamt eine anregende Mischung, die über die bisherigen Zugänge vielfach hinausgeht.

Notes

* Josef Bongartz, Alexander Denzler, Carolin Katzer, Stefan Andreas Stodolkowitz (Hg.), Feder und Recht. Schriftlichkeit und Gerichtswesen in der Vormoderne (bibliothek altes Reich, Bd. 39), Berlin/Boston: De Gruyter 2023, ISBN 978-3-11-107730-7

1 Susanne Lepsius, Thomas Wetzstein (Hg.), Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter, Frankfurt am Main 2007.