In seiner von Andreas Bihrer betreuten Kieler Dissertation wendet sich Stephan Bruhn mit einer außergewöhnlichen Fragestellung einem komplexen Thema zu. Er kombiniert nämlich verschiedene moderne Ansätze mit intensiver Quellenrecherche, um Entstehung und Effekte der titelgebenden »Wertegemeinschaften« zu eruieren. Mit anderen Worten, er geht über die reine Netzwerkanalyse hinaus, indem er die verbindenden Inhalte der Diskurse der Angehörigen solcher Gruppen in den Blick nimmt. Und dies über den beeindruckenden Zeitrahmen von zwei Jahrhunderten in einem nicht gerade kleinen und für seine Übersichtlichkeit bekanntem Raum.
Er klassifiziert zwei Kernpunkte, die »Alfredianischen Reformen« (Teil II, 71–290) und die »›Benediktinischen‹ Reformen« (Teil III, 291–500) seit etwa dem Jahr 940. Eine methodische Einführung (Teil I, 17–70) sowie ein ergebnisorientierter Ausblick auch auf weitere Forschungsfragen (Teil IV, 501–554) umrahmen diese umfangreichen Untersuchungsfelder, Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie ein Index schließen den Band ab. Den vergleichenden Wertekanon für beide Schwerpunkte definiert Bruhn anhand der folgenden elf Kriterien, die in den zwei entsprechenden Teilen gleichermaßen katalogartig untersucht werden: Gehorsam, Gerechtigkeit, Bußfertigkeit, Frömmigkeit, Keuschheit, Soziabilität, Demut, Freigiebigkeit, Gnade, Agonalität und Produktivität.
Bevor wir uns jedoch diesen Vergleichen zuwenden, interessiert besonders die Definition der »Wertegemeinschaften«, zumal diese auch für Fragestellungen des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie von großem Interesse sind, wo ja »Epistemische Gemeinschaften« eine Rolle spielen.
Anhand eines bislang unbeachtet gebliebenen Zitates aus der um 996 entstandenen Lebensbeschreibung des heiligen Æthelwold († 984) aus der Feder von Wulfstan Cantor, das einen Traum des Abtes Dunstan von Canterbury († 988) und dessen Auslegung beschreibt, führt Stephan Bruhn in sein Thema ein. In der Vision sah der Abt einen Baum, der statt Früchten Kutten trug und an dessen Wipfel eine noch größere Kutte zu sehen war, die den Baum gleichsam überschirmte. Diese nämliche Kutte sei diejenige Æthelwolds, erfährt der Träumende, eines derzeitigen Mönches aus seinem Kloster, der aber eines Tages die Kirche Britanniens geistlich führen werde (17–21). In der Tat war Æthelwold zum Zeitpunkt der Niederschrift der Quelle zwar schon über zehn Jahre tot, aber als Abt und dann als Bischof von Winchester hatte er Bemerkenswertes für die Reform des frühen angelsächsischen Mönchtums erreicht, was von Wulfstan posthum gewürdigt wird. Bruhn geht von diesem Bild des überschirmten Baumes aus und erkennt darin folgerichtig ein Symbol für die Vernetzung der reformwilligen Kleriker; allerdings nicht als Früchte desselben Baumes, sondern als unter dem Schutze der tatsächlichen Person Æthelwolds stehend.
Im Anschluss daran führt der Verfasser in die Erforschung von Gruppen durch die jüngere Mediävistik als Sozialgeschichte ein (21–29) und bescheinigt ihr das Defizit, stets das Politische in den Vordergrund gerückt zu haben (29f.). Die Erforschung der mittelalterlichen Hagiographie und von Visionen beurteilt er unter dem Aspekt der Diskursgeschichte (32–40), deren mangelnde »analytische Aussagekraft« und deren Verlust des »geschichtswissenschaftlichen Potentials« er als Folge fehlender Tiefenschärfe aufgrund zu starker Auffächerung bewertet, die zu dem schwachen Er|gebnis führten, »dass letztlich alles mit allem zusammenhängt« (40).
Voraussehbare Resultate dieser Art möchte Bruhn methodisch vermeiden, indem er sich auf ein Quellenkorpus (die Heiligenviten) beschränkt und eine epistemische Gruppe (die Reformer) in einer Region und einem umgrenzten Zeitraum untersucht (41–56). Diese Voraussetzungen führen ihn zu dem thematisch zentralen Aspekt, den er unter der Überschrift »Der Eingang in die Heilsgemeinschaft als einendes Ziel, oder: Soziale Gruppen als Wertegemeinschaften« behandelt (57–66), wobei er der »positiven Inklusion« eine »negativ definierte Exklusion« als »zentrale Kategorien« für die Gruppenzugehörigkeit an die Seite stellt (56), mit anderen Worten: Es reichte nicht, ein Mönch zu sein, um der Werte und Normen teilenden Gemeinschaft anzugehören. Dementsprechend wird Æthelwolds Führungsrolle schon in der Vision nicht über sein institutionelles Abbatiat begründet, sondern aus seiner intellektuellen, religiösen und persönlichen Autorität, eine »gemeinsame Wertorientierung« als »eigentliches Proprium« seines Kreises zu erschaffen (57f.).
Mit diesen beiden Begriffen – Werte und Normen – setzt sich Bruhn auseinander, indem er die Funktion von Normen in der Forschung über Gesellschafts- und Rechtsgeschichte kurz umreißt, auf die »Diffusität des modernen Begriffsgebrauchs« eingeht und als Mangel hervorhebt, dass durch mehr oder weniger moderne Fragestellungen mit heutigen Begriffen die Werte und Normen ferner Zeiten nur mittelbar erfasst werden können, beziehungsweise ausgeblendet werden (58–63). »Werte an sich« (Barbara Stollberg-Rilinger) seien durch Quellenanalyse nicht zu greifen, wohl aber die »Kommunikation mit Werten und über Werte« (63f.). Eine Zusammenfassung der auch hier einflussreichen Thesen von Hans Joas zum Verhältnis Werte-Normen beschließt dieses Kapitel und leitet zu der Darstellung der »Methodischen Leitlinien« über (65–68), die die Kriterien für die vorgenommenen Einschränkungen auf ein bestimmtes Gefüge aus Zeit, Raum und Menschen sowie die oben referierten methodischen Ansätze plausibel macht.
Teil IV fasst Bruhns Ergebnisse und die sich daraus ergebenden Perspektiven zusammen: Nicht die Einführung der Regularis Concordia oder der Benediktregel seien als Hinweise auf Reformbestrebungen einer Wertegemeinschaft zu klassifizieren, sondern die anstrengenden Bemühungen einzelner Akteursgruppen, durch eigenes Handeln gegen Widerstände Missstände zu beheben (509f.). Dieses Verhalten sei durch die im Untersuchungszeitraum entstandenen Lebensbeschreibungen erkennbar. Mittels der dem Vergleich zugrunde gelegten »Checkliste« seiner elf Kriterien in Verbindung mit der Frage nach Inklusion und Exklusion versuchte Bruhn, die Wertediskurse aus seinem umfangreichen Quellenkorpus zu extrahieren, was ihn vor große Herausforderung stellte (513). Nicht der Begriff der Norm, sondern der des Normenbruchs erwies sich dabei als tauglich (314f.). So folgert der Verfasser als ein Ergebnis seiner Studien, dass »Werte an sich« dem Zugriff des Historikers entzogen seien, weil sie platterdings nicht existieren (516f.).
Ein Satz aus dem zweiten Kapitel des vierten Abschnitts scheint dem Rezensenten von besonderer Wichtigkeit: »Statt eine stark formalisierte Gruppe nach den in ihr greifbaren Wertevorstellungen zu befragen oder die soziale Signifikanz lediglich eines Verhaltensideals auf Basis eines möglichst breit gestreuten Quellenkorpus zu ermitteln, wurde die gemeinschaftsbildende Relation unterschiedlicher Ideale im Rahmen eines spezifischen Kommunikationszusammenhanges – der reformorientierten Vitenproduktion im spätangelsächsischen England – untersucht« (518). Durch diesen »mikrodiachronen« (518) Zugriff sei es nunmehr gelungen, für »die unterschiedlichen Ansätze und Zugriffe, welche innerhalb der mediävistischen Erforschung normativer Ordnungen verfolgt werden« und dabei »häufig unverbunden nebeneinander« stehen, neue Blickwinkel für die historische Werteforschung (nicht nur zu Reformkontexten, CE) zu eröffnen (519f.). Da sich weder die Wertegemeinschaften noch die Autoren der Heiligenviten nur an eine klerikale Adressatengruppe richteten, sondern auch explizit Laien – mithin die ganze Welt – einzuschließen versuchten (520–529), ist in der Tat die Möglichkeit einer derartigen methodischen Fokuserweiterung der Forschung gegeben.
Der zweite Teil des Buches zu den frühen angelsächsischen Reformen wertet allein den zeitgenössischen Bericht über die Taten König Alfreds († 899) aus der Feder des im Jahre 893 schreibenden walisischen Mönches und Bischofs Asser (De rebus gestis Ælfredi) aus, der zum engen Umfeld des Königs gehörte (88) – einer Wertegemeinschaft ohne Frage. Insofern handelt es sich weniger um eine Vita als um »Res Gestae« (89–91, 94–97). Bruhn interpretiert sie als »reformorientierte |Selbstvergewisserung« (71–228, Zitat 97) und entwickelt an ihr seine elf Kriterien.
In Teil III, in dessen Zeithorizont die Produktion der Heiligenviten fällt, wird deren Zustandekommen im »reformorientierten Milieu« untersucht (dazu der Katalog 307–344). Bruhn geht es um Querbezüge sowie um den zeitgenössischen Diskurs über die genannten elf Kriterien innerhalb des Korpus. Insgesamt werden gemäß den Kriterien des Verfassers sieben Viten ausgewertet, was hier nicht einzeln nachvollzogen werden kann. Was auch dem Leser auffiel, fasst der Verfasser folgendermaßen zusammen: »Die Vorstellung der einzelnen Texte hat dabei ergeben, dass personelle und institutionelle Netzwerke aufgrund der vielfach deutlich später einsetzenden handschriftlichen Überlieferung der Viten sowie der häufig nicht gesicherten Identität ihrer Autoren nur bedingt tauglich sind, die Produktion und Rezeption der Werke zu verorten« (344). Daher muss Bruhn in der Regel vermuten, dass sich die Vitenschreiber an kleinere Gruppen der entschlossenen Reformer richtete, an Konvente oder eben Wertegemeinschaften, auch wenn die Verbreitung ihrer Schriften nur minimal oder recht umfangreich ausgefallen ist. Bemerkenswert ist allemal, dass sich angelsächsische Protagonisten der Reform in mehreren Fällen an Autoren aus dem Westfrankenreich mit der Bitte wandten, Viten anzufertigen beziehungsweise zu überarbeiten: Lantfred und Abbo von Fleury, der anonyme Verfasser B. der Vita Dunstans sowie Adelard (310f., 314–318, 326 und 331f.).
Derartige Netzwerke sowie die »intertextuelle Perspektivierung der Werke« und deren »Diskurszusammenhang« werfen Schlaglichter auf die Wertegemeinschaften, auch wenn »Erkenntnistheoretische Ansprüche […] mit diesen Identifikationen indes nicht verbunden beziehungsweise [nur] hypothetisch formuliert« werden könnten (344).
Das Buch von Stephan Bruhn bietet scharfsichtige Einblicke in die während der beiden Reformphasen der angelsächsischen Kirche entstandenen Vitenliteratur, was vor allem mittels der »deep lecture« der Quellen, ihres Verhältnisses zueinander und innerhalb des gewählten gattungsspezifischen Korpus sowie den vergleichenden Analysen mittels der elf Kriterien erreicht worden ist. Inwieweit die dafür entwickelte Methode der Suche nach den Wertegemeinschaften im Sinne einer Identifizierung von Akteuren beziehungsweise deren Wirkungen als epistemische Gruppen tragfähige Ergebnisse dazu liefert, wurde vom Verfasser in angenehm aufrichtiger Weise selbst ab und an hinterfragt. Da sich auch der Rezensent mit derartigen epistemologischen Fragen beschäftigt, weiß er um diese Schwierigkeiten. Wie es sich Stephan Bruhn in seinem Teil IV wünscht, sollten weitere Forschungen von seinem Buch inspiriert sein.
* Stephan Bruhn, Reformer als Wertegemeinschaften. Zur diskursiven Formierung einer sozialen Gruppe im spätangelsächsischen England (ca. 850–1050) (Mittelalterforschungen 68), Ostfildern: Thorbecke 2022, 607 S., ISBN 978-3-7995-4389-7