Reinheit und Recht in abrahamitischen Rechtstraditionen*

[Purity and Law in Abrahamic Legal Traditions]

Serdar Kurnaz Berliner Institut für Islamische Theologie, Humboldt-Universität zu Berlin serdar.kurnaz@hu-berlin.de

In seinem jüngsten, im Open Access verfügbaren Werk Law Beyond Israel knüpft Holger Zellentin (Universität Tübingen) an seine bisherige vergleichende Forschung zu jüdischen, christlichen und frühislamischen bzw. koranischen Rechtskulturen an. Das Buch bringt dabei drei bereits publizierte Schriften Zellentins zusammen,1 die überarbeitet und von einer Einleitung, einem weiteren Kapitel 4 und einem Ausblick umrahmt sind. Es zielt darauf ab, die Entwicklung, die Interaktion und den Wandel der Rechtstraditionen innerhalb des Judentums, Christentums und Islams bzw. von der hebräischen Bibel bis zum Koran nachzuzeichnen. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie sich Gesetze und Rechtskonzepte über den spezifischen Kontext Israels hinaus entwickelt haben und inter|pretiert wurden. Dabei geht es Zellentin nicht darum zu zeigen, was der Koran vom Judentum und Christentum übernommen hat, sondern zu untersuchen, auf welche Weise diese verschiedenen religiösen Traditionen miteinander im Dialog standen und wie deren Interaktion als rechtskultureller Kontext des Koran, den er als Text der Spätantike versteht, für das bessere Verständnis der juristischen Anordnungen im Koran fruchtbar gemacht werden kann.

Dies unternimmt Zellentin anhand von Fallbeispielen zu Reinheitsgesetzen und -vorstellungen für Nicht-Juden (gentiles), die die gemeinsame Klammer der Kapitel darstellen. Die einzelnen Kapitel zeichnen die Entwicklungslinie in ausgewählten Fallstudien an Gesetzen, die den Bewohnern des Heiligen Landes gegeben wurden, den rabbinischen Noah-Gesetzen, dem Aposteldekret und dem Koran nach. Dabei versucht der Autor, die vielfältigen Traditionen innerhalb von Judentum und Christentum zu berücksichtigen. So zeigt er an verschiedenen Stellen, dass der Koran etwa der syrischen Tradition oder der expansiven Deutung des Aposteldekrets innerhalb des Christentums näher ist als anderen christlichen Traditionen. Sein Anliegen ist es, die Beständigkeit eines prägnanten Rechtskorpus zu veranschaulichen und gleichzeitig die dynamische Entwicklung dieses Korpus in sich ständig verändernden kulturellen, sprachlichen und theologischen Kontexten aufzuzeigen.

Methodisch unterscheidet Zellentin in den Fallstudien zwischen »verbotener Unreinheit« (prohibited impurity) und »regulierter Unreinheit« (regulated impurity): eine Unterscheidung, die allen drei Traditionen gemeinsam ist. Die verbotene Unreinheit beschreibt Handlungen, deren Vollzug als moralisches Fehlverhalten und Sünde gilt, wie etwa Ehebruch, Unzucht und Götzendienst. Die regulierte Unreinheit dagegen bezieht sich auf einen Zustand der Unreinheit, der nicht vermieden werden kann, es aber erlaubt, den Reinheitszustand wiederherzustellen. Eine solche Handlung ist weder moralisch verwerflich noch eine Sünde; dazu gehören etwa Menstruation, Toilettengang oder Geschlechtsverkehr.

Der Autor analysiert die religiösen Texte nach konzeptionellen, exegetischen, formalen, erzählerischen und lexikalischen Gesichtspunkten. Besonders hervorzuheben ist, dass er Recht als Literatur versteht. Denn Rechtstexte, insbesondere solche zu Reinheitsvorschriften, seien nicht nur Vorschriften, sondern auch literarische Kompositionen, die durch Erzählungen, Symbolik und rhetorische Mittel Bedeutung vermittelten. Diese literarische Herangehensweise an das Recht ermöglicht eine umfassendere Interpretation von Rechtstexten und offenbart das komplexe Zusammenspiel zwischen Rechtsnormen, kulturellen Werten und narrativen Rahmenbedingungen innerhalb religiöser Traditionen.

Mit einer äußerst bemerkenswerten Detailtreue und besonderen Kenntnis der religiösen Traditionen der Spätantike gelingt es Zellentin, die Interdependenz und den Austausch der jüdischen, christlichen und koranischen Reinheitsvorschriften und -vorstellungen nachzuzeichnen, ohne dabei voreilig auf ›Übernahmen‹, ›Fehldeutungen‹ oder ›Originalität‹ abzuzielen. Er folgt deutlich, auch seiner eigenen Aussage entsprechend, dem Trend in der Koranforschung, den Koran stärker mit christlichen Traditionen zu verbinden und im Dialog zu sehen. Dennoch betont er in seinem Buch an vielen Stellen, dass auch der arabische Kontext für den Koran ausschlaggebend gewesen sei. Dazu gehört etwa das Verbot der Ehe zwischen Milchgeschwistern: eine Verwandtschaftsbeziehung, die dadurch entsteht, dass ein Junge und Mädchen von derselben Mutter gestillt werden, sodass sie beide als Geschwister gelten und die Ehe zwischen ihnen verboten ist. Die Reaktionen des Koran auf seine eigene Umgebung versteht er entsprechend als eine Art Fortschreibung der abrahamitischen Tradition und auch als Bestätigung des Selbstverständnisses des Korans, die vorherigen Offenbarungsschriften zu bestätigen, sie zu korrigieren, arabisch zu sein und auch eigene Wege zu gehen. Das gehe nicht nur aus den Parallelen zwischen den Traditionen, sondern auch aus den Unterschieden und jeweils eigenen Wegen hervor.

Zellentin stellt schlussfolgernd die Notwendigkeit fest, die Beobachtungen über Reinheitsvorschriften auf weitere Felder des (religiösen) Rechts zu erweitern. Seine Darstellungen zum Strafrecht in einem kurzen Unterkapitel von Kapitel 4 sind ein erster Versuch, jedoch wirkt dieses Unterkapitel im Vergleich zum Rest des Buches wie ein Fremdkörper und wird den bisherigen Maßstäben der Analyse nicht gerecht. Ferner sind, wie Zellentin selbst betont, weitere Traditionen (wie die aksumitische [abbesinische] und noch stärker die altarabische) einzubeziehen. So haben zuletzt einige Studien gezeigt, dass die junge islamische Gemeinde, die im Austausch mit anderen religiösen |Gruppierungen insbesondere der abrahamitischen Tradition gestanden habe, innerhalb der mesopotamischen sowie altarabischen Rechtskulturen verortet werden könne. Zudem sollten die islamischen Überlieferungen berücksichtigt werden, da diese wichtige Informationen zum Umfeld des Korans und der altarabischen Tradition liefern könnten. In seiner Publikation hat Zellentin diese Überlieferungen allerdings nicht behandelt. Sie einzubeziehen wäre jedoch hilfreich gewesen, zumal der Verfasser sein Werk auf bereits veröffentlichten Studien aufbaut. Damit hätte er dazu beitragen können, die Methodendiskussion zur Historizität dieser Überlieferungen voranzubringen und die mannigfachen Informationen aufzuarbeiten. Ausreichend wäre in diesem Falle der Fokus auf Überlieferungswerke aus den ersten drei Jahrhunderten der muslimischen Zeitrechnung des Typs Muṣannaf, Musnad, Ǧāmiʿ und Sunan2 gewesen, zudem auf koranexegetische Texte und Rechtswerke aus dieser frühen Zeit, die insgesamt überschaubar sind.

Das Buch ist durchweg klar strukturiert und, bis auf die intensiven detailtreuen Ausführungen, insofern ›lesendenfreundlich‹, als Zellentin mit dem strukturierten Aufbau jedes Kapitels und den zahlreichen Zusammenfassungen wichtiger Beobachtungen hilft, den roten Faden zu behalten. Hilfreich sind auch die übersichtlichen Tabellen in den Kapiteln sowie die Karte am Anfang des Buches. Ein – wenn auch kleines – Manko ist die fehlende weitere Untergliederung der Unterkapitel, die zu einem noch klareren Aufbau beigetragen hätte. So erscheinen die einzelnen Unterkapitel durchweg als zu lang. Unklar bleibt zudem, wieso nicht alle in den Fußnoten angegebenen Referenzen im Literaturverzeichnis vorkommen: Es fehlt dort eine erhebliche Anzahl an zitierten Werken, auch aus dem neuen Kapitel 4.

Summa summarum bietet das besprochene Werk wichtige Einsichten in die dialogische Entwicklung der rechtlichen Vorschriften im Koran, die sich mit Reinheitsvorschriften befassen. All diejenigen, die zu christlichen Traditionen und jüdischen Vorstellungen zu Reinheitsgeboten sowie zur Entwicklung von Reinheitsgeboten im Koran im Besonderen und zum islamischen Recht im Allgemeinen forschen, werden in diesem Buch eine wertvolle Studie finden. Es bleibt abzuwarten, wie auch die historisch-kritische (theologische) Koranexegese und die islamrechtlich-theologische sowie die islamwissenschaftliche Forschung auf Zellentins Analysen und Ergebnisse reagieren werden.

Notes

* Holger M. Zellentin, Law Beyond Israel. From the Bible to the Qur’an, Oxford: Oxford University Press 2022, 366 p., ISBN 978-0-19-967557-9

1 Holger Zellentin, Judeo-Christian Legal Culture and the Qurʾān: The Case of Ritual Slaughter and the Consumption of Animal Blood, in: Francisco del Río Sánchez (Hg.), Jewish Christianity and the Origins of Islam, Turnhout 2018, 117–159 in Kapitel 1; Gentile Purity Law from the Bible to the Qurʾān: The Case of Sexual Purity and Illicit Intercourse, in: Holger Zellentin (ed.), The Qurʾān’s Reformation of Judaism and Christianity: Return to the Origins, New York 2019, 115–215 in Kapitel 2; Law in the Medinan Qurʾān: The Case of Biblical Incest Law and Its Qurʾanic Re-Iteration, in: Nicolai Sinai (ed.), Unlocking the Medinan Qurʾan, Leiden 2022, 315–389 in Kapitel 3.

2 Dabei handelt es sich um Überlieferungswerke unterschiedlicher inhaltlicher Gewichtung, die entweder nur Überlieferungen vom Propheten oder solche der ersten drei Generationen beinhalten.