Fragt man Juristen nach Visualisierungen des Rechts, pflegen ihnen zunächst die allegorische Figuration der weiblichen Justitia und die auf männliche Richter und Anwälte ausgerichteten Karikaturen eines Honoré Daumier einzufallen, also hauptsächlich zum einen Plastiken, die Gerichtsgebäude schmücken, und zum anderen gerichtssatirische Graphiken. In Hinblick auf Gemälde kommen Antworten, wenn überhaupt, nur zögerlich, auch wenn die Existenz einer entwickelten Rechtsikonographie1 nicht unbekannt ist und für Buchgeschenke im Kollegenkreis durchaus genutzt wird.
Im Folgenden sei der Horizont der Aufmerksamkeit etwas geweitet, und zwar anhand solcher Gemälde, die eine Treppe als Schauplatz in den Blick rücken.2 Die auf ihr dargebotenen Inszenierungen betreffen zwei Politikfelder, deren Rechtsstrukturen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa einem starken Wandlungsdruck ausgesetzt waren, dabei aber unterschiedliche geschlechtsspezifische Konstellationen erkennen lassen: das nationale Politikfeld und das soziale.
Während in nationalpolitisch ausgerichteten Inszenierungen die Stellung von Frauen gegenüber Männern gleichen Standes als nachgeordnet in Erscheinung tritt (I.), wird sie in sozialer Hinsicht weitaus differenzierter wahrgenommen. Zur Veranschaulichung seien zunächst Bilder vorgestellt, deren Maler sich offensichtlich an den schönen Seiten weiblichen Lebens haben erfreuen wollen (II.), sodann aber und sehr viel eindringlicher ein dessen Schattenseiten thematisierendes Frühwerk von Giovanni Segantini (III.–VI.). Durch die Verbindung von ästhetischen und rechtspolitischen Aspekten hebt sich die Darstellung von dem dazu bisher veröffentlichten kunsthistorischen Schrifttum ab. Sie beschreibt die im Entstehungsprozess des Bildes wirksamen Motive und Maßstäbe und erschließt dabei – auch dies ein neuer Aspekt – Treppenbilder anderer Künstler, die Segantini kannte und von denen er sich anregen lassen, aber auch absetzen konnte.
Begonnen sei mit einem Historienbild von 1867. Aus Sorge um den 1861 gegründeten italienischen Nationalstaat macht es auf ein Freiheitserbe aufmerksam, das es aus Sicht des Malers zu bewahren und fortzuentwickeln gilt. Die Rede ist von Francesco Hayez (1791–1882) – einem Protagonisten der italienischen Romantik – und seinem Alterswerk »Die letzten Augenblicke des Dogen Marino Faliero auf der sog. scala del piombo« (Abb. 1),3 das er umgehend der Mailänder Pinacoteca di Brera stiftete und so jenem Kunstmuseum der Stadt, an dessen Accademia di Belli Arti er selbst unterrichtete. Das Bild wurde bereits 1867 von der Mailänder Pinacoteca di Brera erworben und bildet seitdem ein Referenzwerk für den Freiheitssinn des neuen italienischen Staates und die italienische Malerei dieser Zeit.
Wie schon der Titel erkennen lässt, kommt hier ein höchst außergewöhnliches Ereignis aus der Geschichte der Republik Venedig zur Darstellung: die Hinrichtung eines Dogen wegen Hochverrats, vollzogen im April 1355 am Fuß jener Treppe vor der Waffenkammer seines Palastes, die Ende des 15. Jahrhunderts zur heutigen Scala dei Giganti umgestaltet werden sollte. Dieses Ereignis war ||bereits 1826 von Eugène Delacroix, in einem von ihm selbst zeit seines Lebens geschätzten Jugendwerk, ins Bild gesetzt worden.4 Vermittelt wurde das Ereignis jeweils durch eine 1820/21 verfasste – auf den Bühnen freilich nicht erfolgreiche – Tragödie von Lord Byron, der sich ja auch für den Freiheitskampf der Griechen gegen die osmanische Herrschaft begeisterte. Man sieht daran, dass die nationalpolitischen Inszenierungen des 19. Jahrhunderts voneinander wissen und sich in der künstlerischen Auffassung inspirieren können.
In Begleitung dreier Mitglieder des als Gericht tätigen Consiglio dei Dieci, auf deren Anordnung hin Faliero bereits seine Amtskleidung und Ehrenzeichen hat ablegen und Dienern übergeben müssen und ihm erneut das Urteil verlesen wird, nähert er sich dem am Richtblock wartenden Scharfrichter. Vom oberen Ende der Treppe her beobachten zahlreiche Personen diese Szene, darunter aber nur eine einzige Frau: die Ehefrau des Verurteilten, die vor dem Vorsitzenden des Consiglio auf die Knie gefallen ist und um Gnade fleht (Abb. 2). Ihre Behandlung in einem Verleumdungsprozess hatte Faliero empört und ihn dazu getrieben, sich mit seinen aristokratischen Standesgenossen zu überwerfen, ihre Herrschaft als Tyrannei anzuprangern und eine stärkere Berücksichtigung der Interessen des einfachen Volks anzumahnen, insbesondere ihm mehr Freiheit zuzugestehen.
Das zweite hier vor Augen zu führende Bild ähnelt dem ersten darin, dass auch für seinen Aufbau eine Treppe bestimmend ist. Alles wirkt von unten nach oben gerichtet, wo die Herrschaft beanspruchende Instanz in Erscheinung tritt, in diesem Fall aber – anders als in der Republik Venedig – ein auf erhabene Weise absolute Herrschaft beanspruchender König (Abb. 3). Thematisiert wird dabei keine formal gefasste Rechtsprechung, keine Anklage und Verurteilung, erst recht keine Hinrichtung, sondern das Gegenteil: ein rechtlich informeller Gunsterweis. Das Bild wurde 1878 von Jean-Léon Gérôme (1824–1904) gemalt und trägt den Titel »Empfang des Grand Condé durch Louis XIV. (Versailles, 1674)«.5
Während der junge König, inmitten eines festlich gestimmten Hofgefolges, bereits zur Mitte einer prunkvollen Treppe seines Schlosses hinabgestiegen ist und sich dort, zusammen mit dem Kronprinzen sowie dem einflussreichen Bischof Bossuet, zum Empfang bereit gemacht hat, nähert sich ihm von unten – als siegreicher Feldherr durch Kränze, Fahnen und Soldaten willkommen geheißen – der Prince de Condé, selbstbewusst und doch, wie es sich bei Hofe gehört, mit tiefer Verbeugung die Stufen hinaufsteigend.6
Hier erscheint die nationalpolitische Zielsetzung des Bildes weniger sinnfällig, und so fragt |man sich: Warum greift ein französischer Maler zu Beginn der erst nach viel Leid und Mühsal durchgesetzten III. Republik ein solches Thema auf? Um das Bild in seiner Demonstration eines vom Recht zwar gestützten, aber nicht vollständig geklärten Machtgefälles richtig zu verstehen, muss man sich zunächst die innen- und außenpolitische Lage Frankreichs nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges vergegenwärtigen.
Der Krieg hatte das Land wirtschaftlich und finanziell stark belastet. Als 1643, nach dem Tod von Louis XIII., Kardinal Mazarin die Regierungsgeschäfte übernahm und sich bemühte, den vorgefundenen Schuldenberg durch Steuererhöhungen abzutragen, führte diese Politik zu landesweiten Spannungen, die 1648–1653 in der Fronde ihren für die Einheit und Ordnung des Landes gefährlichsten Ausdruck fanden. Condé war einer der Anführer dieser gewaltbereiten Protestbewegung – ein für Mazarin gefährlicher Umstand, da Condé nicht nur dem königlichen Geschlecht der Bourbonen angehörte, sondern, wiewohl noch jung an Jahren, bereits als Heerführer Anerkennung erfahren hatte. Noch bedenklicher freilich war, dass Condé ab 1653 für einige Jahre seine militärische Erfahrung in den Niederlanden auf der Seite Spaniens gegen Mazarin und die französische Krone eingesetzt hatte. Gleichwohl war er nach dem sog. Pyrenäenfrieden von 1659 wieder in französische Dienste übernommen worden. So kam es, dass er in dem 1672 begonnenen Krieg gegen die holländischen Generalstaaten als Feldherr eingesetzt wurde und 1674 einen Sieg errang, von dessen Feier im Schloss von Versailles Gérômes Bild berichtet.
Verschwiegen wird dabei allerdings, dass dieser Sieg zweifelhaft und wenigstens kein entscheidender war, der Krieg gegen die Generalstaaten vielmehr noch bis 1678 andauerte und der im Jahr darauf geschlossene Frieden von Nimwegen deren Grenzen unberührt ließ. Damit aber hatte Louis XIV., der seit 1661, nach dem Tod Mazarins, die Regierungsgeschäfte persönlich führte, in seiner Politik der territorialen Ausdehnung Frankreichs einen erheblichen Rückschlag erlitten. Diese Politik zielte auf die Schwächung der Herrschafts- und Einflussräume der Habsburger und bediente sich |dazu erb- und familienrechtlicher Argumente, die unter dem Stich- und Schlagwort réunion die Ausdehnung als Wiedervereinigung zusammengehöriger Teile erscheinen lassen sollten.
Diese außenpolitische Zielsetzung ging einher mit einer innenpolitischen, nämlich den Staat im Sinne eines monarchischen Absolutismus ganz und gar auf die Person des Königs auszurichten. Dazu gehörte vor allem die landesweite Kontrolle von Polizei und Finanzen mittels einer tiefgreifenden Zentralisierung der Verwaltung. Darüber hinaus zeigte sie sich aber auch in einer ebenfalls auf Vereinheitlichung ausgerichteten Konfessionspolitik, nämlich in der Stärkung eines landeseigenen, gallikanischen, nicht mehr vorrangig dem Papst verpflichteten Katholizismus, in der Schwächung des Jansenismus – einer sich am Kirchenvater Augustinus orientierenden und auch vom Philosophen Pascal unterstützten katholischen Reformströmung – und in der Bekämpfung des Protestantismus, die 1685 in dem Widerruf des Edikts von Nantes und den sich daran anschließenden Hugenottenverfolgungen gipfelte.
Dieser harten Seite des politischen Handelns von Louis XIV. stand eine andere gegenüber, die gefälliger anmutet, aber auch über eigene Zwänge verfügte. Sie diente der Verherrlichung des Königs durch Propaganda und Legende. Dazu gehörten die Rede vom »Sonnenkönig«, seine Präsentation als Apollon im Schloss und Park von Versailles, das glanzvolle Leben am Hofe und die ständige Fertigung von Gedenkmünzen und Gedenkstichen, die dem königlichen Handeln in Krieg und Frieden Ausstrahlung (rayonnement) verleihen sollten.7 Auch schon der Empfang des siegreichen Condé in Versailles 1674 – die Erweiterungs- und Umbauten des Schlosses waren noch nicht beendet – ist Ausdruck dieser Politik.
Wenn hier auf all dies – die von Gérôme dargestellte Zeit – ausführlich eingegangen wird, so um verständlich werden zu lassen, was das Bild seiner eigenen Zeit – gewissermaßen der darstellenden Zeit – mitzuteilen hat. Warum also ruft ein Maler zweihundert Jahre später einen Sieg in Erinnerung, wenn dieser Sieg nur ein vorläufiger und zweifelhafter war? Man wird den Grund dafür in der politischen Lage seines Landes Ende der 1870er Jahre suchen müssen und auch finden dürfen. Frankreich hatte 1870/71 unter Napoléon III. den Krieg gegen Preußen und seine deutschen Verbündeten verloren. Im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles hatten der preußische König Wilhelm I. und sein Kanzler Bismarck das Deutsche Reich ausgerufen. Elsass und Lothringen – Gebiete also, die Louis XIV. Frankreich einverleibt hatte – wurden als »Reichsland« annektiert. Das Second Empire ging unter, und in Paris brach ein Bürgerkrieg aus,8 aus dem sich das neue Frankreich, die Dritte Republik, nur unter großen Mühen wieder erhob.
Gérômes Bild repräsentiert ein Stück Erinnerungsarbeit, das sich in den Dienst der Bewältigung zeitgenössischer politischer – nicht zuletzt rechtspolitischer – Herausforderungen stellt, insbesondere solche der Modernisierung des Landes angesichts des Aufstiegs eines von Preußen geführten Deutschen Reichs, der Frankreich schockierte. Es richtet den Blick auf eine Zeit, in der Frankreich selbst eine Vorrangstellung in Europa erlangt hatte. Aber dies geschieht nicht vorrangig in Wehmut, sondern zur Aufmunterung und in Verbindung mit dem Hinweis, dass sich eine wesentliche Verbesserung der Lage nur erwarten lässt, wenn man – dem Beispiel der Versöhnung zwischen Louis XIV. und Condé folgend – nach schwerwiegenden innenpolitischen Konflikten um der gemeinsamen Zukunft willen wieder zu nationaler Geschlossenheit zurückfindet.
Dass Gérôme offensichtlich Wert darauf legt, an eine politische Versöhnung zu erinnern und ihrer Darstellung besonders festlichen Glanz zu verleihen, entspricht durchaus dem tradierten französischen Staatsverständnis. Bereits der gegenwärtig vor allem als Theoretiker der Staatssouveränität in Erinnerung gehaltene Jean Bodin hat sich – im letzten Kapitel seiner 1583 erschienenen Six livres de la République – für eine »justice harmonique« eingesetzt,9 d.h. für eine Auffassung von Gerechtigkeit und Justiz, die gerade in kritischer Zeit auf |Verständnis und Verständigung zielt und insoweit Souveränität und Harmonie auf eine normativ pragmatische Weise miteinander zu verbinden sucht; anders ausgedrückt: die Gnade vor Recht ergehen lässt, nicht um dieses zu missachten, sondern um es vor einer gefährlichen Überspannung seines Geltungsanspruchs zu schützen, indem sie – nach einer Unterscheidung des Aristoteles – die »ausgleichende«, unerbittlich rechnende Gerechtigkeit zugunsten einer nach Würdigkeit großzügig »austeilenden« Gerechtigkeit zurücktreten lässt.
Freilich, bei einem solchen Rückgriff auf das Ancien Régime kann es nicht überraschen, dass die Stellung der Frau in Gérômes Bild nur wieder als nachgeordnet wirkt: Frauen gehören zur königlichen Familie oder zur höfischen Gesellschaft (Abb. 4), sie verleihen Glanz, sind auf vielerlei Weise unverzichtbar, treten aber nicht als nationalpolitisch relevante Entscheidungsträger in Erscheinung. Man wird noch bis ins 20. Jahrhundert hinein warten müssen, bis sich daran etwas ändert.
In sozialpolitischer Hinsicht kündigen sich die Veränderungen in der künstlerischen Wahrnehmung von Frauen schon früher an. Anfangs waren sie im Zusammenhang mit der Visualisierung biblischer und anderer antiker Erzählungen aufgetreten, sodann in Porträts politisch oder ökonomisch bedeutender Familien sowie in Nonnenbildnissen, schließlich aber auch in Alltagsszenen der weniger begüterten oder gar verarmten Bevölkerung, beim Wasserholen am Brunnen, bei der Hausarbeit und im Umgang mit Kindern, also in sog. Genrebildern.
Hieran lässt sich mit einem Werk anschließen, das als Genrebild zu bezeichnen freilich dem innovativen Charakter seiner Thematik und Präsentation – der auf Gleichberechtigung zielenden Herausstellung weiblicher Arbeitskräfte in einer vorwiegend von Männern bestimmten industriellen Arbeitswelt – nicht gerecht würde: »Grubenarbeiterin an einem Schacht des Borinage«, 1882 entstanden aus der Hand des wallonischen Malers und Bildhauers Constantin Meunier (1831–1905).10 Es zeigt eine junge Frau auf den Treppenstufen des Eingangs einer Schachtanlage mit einer Grubenlampe in der Hand. Ihre alltäglich zu erfüllende Aufgabe bestand darin, Kohleloren zu füllen und zu bewegen, – eine schwere und auf Dauer gesundheitsschädliche Arbeit.
Die harte Arbeitswelt des Kohleabbaugebiets Borinage war zuvor auch schon Vincent van Gogh aufgefallen. Ende der 1870er Jahre war er aus den Niederlanden dorthin gezogen, um den Bergarbeitern und ihren Familien Bibelstunden zu geben und seelsorgerlich beizustehen. Die erbärmlichen Lebensverhältnisse empörten ihn aber dermaßen, dass sich sein ernüchterter Glaube dem ererbten dogmatischen Christentum seines Elternhauses zunehmend entfremdete und ihn bewog, das sich vor seinen Augen vollziehende Elend aufzuzeichnen und Maler zu werden.|
Meunier verzichtet hier aber auf die Schilderung von Anstrengung und Entbehrung, um stattdessen geradezu denkmalartig Würde und Selbstbewusstsein einer jungen Arbeiterin hervorzuheben. Er lässt Brust und Kopf die Arbeitstreppe überragen und setzt sie ins helle Licht des Himmels. Das Rot des Kopftuchs in einem ansonsten farbarmen Bild mag man im Sinne des auch von Meunier vertretenen, bei ihm aber christlich grundierten Sozialismus deuten.11
Im Vergleich damit herrschte im seinerzeit ökonomisch weniger entwickelten Italien eine deutlich traditionellere Motivwahl, gerade auch hinsichtlich der Darstellung von Frauen, deren Aufgaben vor allem in der Familie gesehen wurden, in Haus und Hof, und damit in einer ganz anders orientierten Welt. Kennzeichnend dafür ist ein Werk von Francesco Paolo Michetti (1851–1929). Es entstand 1877 und ist unter verschiedenen Titeln bekannt geworden. Das Museum, das es derzeit besitzt und ausstellt, nennt es »Mammina«, in Anspielung auf die herzerfrischende Mütterlichkeit, die es zum Ausdruck bringt. Die Titelvariation erklärt sich aus der Nähe des Bilds zu einem größeren Werk des Malers aus demselben Jahr, das sofort große Aufmerksamkeit fand und ihn weithin bekannt machte. Es zeigt, wie eine Fronleichnamsprozession das Portal des Doms in Chieti, einer Stadt in den Abruzzen, durchschreitet und die breite Freitreppe hinabzuziehen beginnt.12 »Mammina« entnimmt dieser großen Szenerie einen Ausschnitt, ohne dabei aber weniger ausgearbeitet zu sein als das Hauptwerk.
Das Bild überrascht durch sein südliches, geradezu in die Augen springendes Temperament. Farbenfroh lässt es überall das Licht pulsieren, besonders im Baldachin, in den Lampions und schwebenden Blüten. Die Malweise ist flüssig und großzügig, teilweise geradezu rauschhaft, wodurch das Katholische der Szenerie einen bacchantischen Zug erhält. Was der Maler beobachtet hat, wird emotional durchdrungen und aufgemischt.
Vor dem Hintergrund der im Domportal erscheinenden, von einem Zug nackter kleiner Kinder angeführten Prozession schreitet auf einem schmalen, aber festlichen Teppich eine junge, kräftige und freudig strahlende Mutter mit zwei ebenso kräftig und lebhaft anmutenden, wonniglich nackten Kleinkindern auf den Armen die Treppe herunter; links steigt Weihrauch auf, rechts folgt eine junge Nonne mit Kruzifix, Kerze und Gebetbuch, während, etwas zurückgesetzt und vor einem übergroßen Heiligenbildnis, ein Mädchen unbeschwert tanzt – drei Weisen jungen weiblichen Lebens also, aber auch eine allegorische Überhöhung, insofern sich Mutterliebe und Liebe zu Christus in der Darstellung zu einer natürlichen Instinkt und religiöse Tugend übergreifenden Caritas verbinden. Aufgrund der in ihrer Kleidung vorherrschenden Farben der italienischen Trikolore (Grün-Weiß-Rot) mag man zudem in der jungen Mutter eine Verkörperung des noch jungen italienischen Nationalstaats sehen.13
Ein Vierteljahrhundert später präsentiert Gaetano Bellei (1857–1922) unter dem Titel »Windstoß« eine ganz andere Sichtweise.14 Vor dem sommerlich grünen Hintergrund eines Parks lässt er eine junge Frau die Stufen einer breiten Steintreppe mit geschwungener Brüstung hinabsteigen, auch sie dem Bildbetrachter zugewandt und lachend, aber aus ganz anderem Grund, hat sie doch gerade ihren kleinen Sonnenschirm loslassen müssen, um das im Wind sich blähende Kleid zusammen- und den Hut festhalten zu können. Die Treppe wirkt hier |als Schauplatz noch jugendlich schwungvoller, gänzlich unbekümmerter Frische und modisch herausgeputzter Koketterie, wie es die Belle Époque nahegelegt haben mag, mit neckischem Halstuch, die Unterarme in langen weißen Handschuhen, in einem fein gewirkten Kleid und darauf farblich abgestimmtem Schuhen. Die besonderen stofflichen Qualitäten herauszuarbeiten, hat dem Maler sichtlich Freude bereitet.
Zwischen diese beiden Werke von Michetti und Bellei ist eines zu stellen, das deren bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit gleichermaßen ungetrübtes Frauenbild in Frage stellt, nicht indem es wie Meunier auf neuartige spannungsreiche Arbeitswelten aufmerksam macht, sondern indem es Bruchlinien traditionsbestimmten Lebens aufzeigt. Mit ihm gilt es sich nun auseinanderzusetzen.
Es geht hier um das Werk eines Künstlers, der zur Entstehungszeit, Mitte der 1880er Jahre, noch seinen Weg suchte: Giovanni Segantini (1858–1899). Die große Anerkennung, die er danach erfahren hat, gilt hauptsächlich Gemälden, die maltechnisch vom divisionismo – der Aufspaltung der Farben in Spektraltöne – geprägt und thematisch einer zurückgezogen lebenden Alpenwelt gewidmet sind. Doch gibt es anfangs auch solche, die in einer traditionelleren Malweise den architektonischen und sozialen Formen kirchlichen Lebens Ausdruck geben. Das bei weitem bekannteste davon trägt den Titel »Zur Frühmesse«.
In seinen Maßen ungewöhnlich, sehr breit und aufgrund der Rahmung nach oben hin leicht gewölbt, zieht es den Blick unweigerlich auf eine Steintreppe, deren Darstellung mehr als die Hälfte der Bildfläche beansprucht. Der auf den Austritt, die oberste Stufe, folgende Weg wird nicht gezeigt. Dadurch verselbständigt sich die Treppe auf überraschende Weise. Während sie auf ihrer untersten Stufe, dem Antritt, die maximale Bildbreite einnimmt, verengt sie sich zudem, bedingt durch das begleitende wuchtige Mauerwerk ihrer Wangen, nach oben hin so stark, dass die dem Austritt unmittelbar folgende Öffnung zum Himmel wie eine Befreiung wirkt. Aber dieser kosmische Himmel hat den Raum jenseits der Oberkante des Austritts, die als Horizontlinie figuriert, nicht für sich allein. Denn hier schließt sich linkerhand eine gemauerte Brüstung an, die zu einer spätbarocken Kirche mit prächtigem Portal führt. Wenngleich der Weg dorthin nicht einzusehen ist, so deuten ihn die Zierfelder der Brüstung doch an; sie nehmen den regelmäßigen Rhythmus der Treppenstufen auf und verleihen ihm dabei einen anspruchsvolleren und vornehmeren Ton. Während der Weg zum natürlichen, kosmischen Himmel einfach und frei erscheint, wirkt der Weg zur Kirche verstellt und wie ein Nebenweg. Wenigstens gibt es zu denken, dass die Kirche an den äußersten linken Rand der Bildfläche platziert wird und nur mit einem kleinen Ausschnitt ihrer Fassade zu sehen ist.
In diese architektonisch aufgebaute Spannung setzt Segantini nun einen einzelnen, die Treppenstufen ersteigenden Menschen ein. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine fromme Frau, wie man vielleicht auch erwarten könnte, sondern um einen Priester (Abb. 5).15 Ein die gesellschaftliche Stellung von Frauen berührender Gehalt ist also gar nicht zu erkennen – nicht mehr, muss man jedoch sogleich hinzufügen. Denn was wir hier vor uns haben, ist eine Art Palimpsest: eine auf Sparsamkeit des Materialverbrauchs bedachte Ersetzung einer ursprünglichen Bilddaussage durch eine andere. Segantini hat, wie immer schon bekannt gewesen ist, die nur in einer Photographie überlieferte Erstfassung dieses Gemäldes übermalt, zwar nur verhältnismäßig wenig, aber gerade hinsichtlich des hier besonders interessierenden Treppengeschehens.
Nicht dieses Geschehen also, sondern die Treppe selbst bildet, wie ja auch schon die Größenverhältnisse vermuten lassen, das Fundament der Bildfindung. Sie darf daher bei der Bilddeutung nicht unbeachtet bleiben. So stellt sich zunächst die Frage, was den Maler zu einer solchen Motiv|wahl veranlasst hat, eine Frage, die auf seine Ausbildungsjahre an der Kunstakademie in Mailand, der Reale Accademia di Belle Arti im Palazzo di Brera, verweist.
Segantini hatte in dieser Zeit bereits mehrere Bilder mit kirchenbezogener Thematik gemalt, fühlte sich aber in seiner Kunstauffassung und Maltechnik noch nicht ausgereift, auch wenn 1883 auf der Weltausstellung in Amsterdam sein Werk »Ave Maria bei der Überfahrt« – heutzutage, freilich in einer etwas anderen, späteren Fassung, eines seiner bekanntesten – bereits mit einer Goldmedaille ausgezeichnet worden war.
Rat fand er bei seinem finanziellen Förderer und künstlerischen Mentor, dem Mailänder Kunsthändler Vittore Grubicy De Dragon. Dieser machte ihn Ende des genannten Jahres auf die realistische Malerei der Haager Schule aufmerksam. Zu deren Vertretern zählte Anton Mauve, der sich thematisch, wie andere dieser Schule auch, dem Leben der Bauern und Fischer zuwandte, aber in helleren Farben malte und damit 1881/82 bereits Vincent van Gogh, seinen deutlich jüngeren Vetter, nachhaltig beeindruckt und auch beeinflusst hatte. Mauve brachte das in die Oberflächen der Gegenstände eingedrungene und von ihnen zurückgeworfene Licht zur Anschauung, nicht nur das Licht in den Wolken, auch das Licht in den Gräsern der Wiesen und in den Fellen der Schafe, in Sand und Schlick, Eis und Schnee, und entsprechend variationsreich fallen seine Weißtöne aus.
Segantini war beeindruckt16 und machte sich daran, seine Malerei neu auszurichten. Dazu nahm er aber anders als Mauve nicht Natur, sondern Architektur in den Blick, und zwar die Treppenanlage vor der Kirche von Veduggio, einem kleinen Ort in der nördlich von Mailand gelegenen Brianza, wo er mit seiner Familie lebte. Sie bildet den Ausgangspunkt unseres Gemäldes.
In der Tat gelingt die Darstellung der Treppe – die Erfassung der farblichen Nuancen in den verwitternden Stein- und Putzflächen, die zu einer deutlichen Aufhellung und Verfeinerung von Segantinis Palette führte17 – mit einer erstaunlichen und bewundernswürdigen Intensität.18 Es fällt allerdings auf, dass Segantini die Zuordnung von Treppe und Kirche verändert hat. Während er sich hinsichtlich Treppe und Brüstung an die |örtlichen Gegebenheiten hält, ist die Randständigkeit der Kirche das Ergebnis einer freien Bildgestaltung (in Veduggio führt die gezeigte Treppe gerade auf die Kirche zu19), ebenso der besondere Blickwinkel auf die Treppe, der sie unten in die Breite zieht, dadurch monumentalisiert und dynamisiert.
Da die Art der Inszenierung der Treppe den Blick des Bildbetrachters von unten nach oben wandern lässt, darf man wohl annehmen, dass sich Segantini den Bewegungsimpuls der figurativen Ergänzung anfangs so vorgestellt hat, wie es die Zweitfassung zeigt, also ebenfalls von unten nach oben gerichtet und damit auf den frei geräumten Horizont hinausweisend. Überraschenderweise hat der Maler in der Erstfassung20 aber etwas anderes verwirklicht, und dies obwohl auch sie schon die gewölbte Rahmung aufweist und damit den Eindruck einer zwar nicht kirchen-, aber naturfrommen Himmelsöffnung unterstützt.
Anstelle eines alten aufsteigenden Priesters zeigt sie eine junge schwangere Frau, die mit einem Gebetsbuch in den Händen und von einem Hund begleitet die Treppe hinabsteigt, während ihr von oben – dort, wo Treppe und Brüstung aufeinandertreffen – drei wohlbeleibte Mönche nachschauen (Abb. 6). Für diese Fassung sind mehrere Bildtitel bekannt, die hier zusammengezogen werden: »La penitente – Non assolta/Die Beichtende – Ohne Absolution«.21 Sie geben zu verstehen, dass der Schwangerschaft keine Eheschließung vorausging und der jungen Frau deswegen bei der Beichte die Absolution verweigert worden ist, und haben dazu geführt, dass den Gesichtszügen der Mönche, obwohl sie nicht gut zu erkennen sind, Hohn und Spott abgelesen werden.22 Segantini macht die Kirchentreppe damit zum Schauplatz einer Verurteilung.
Immerhin jedoch hat er die junge Schwangere nicht so dargestellt, als sei sie an der Verweigerung der Absolution zerbrochen. Es gibt keine Geste der Verzweiflung, im Gegenteil, ihre Haltung strahlt Würde, Lebenswillen und Selbstvertrauen aus. Der Hund an ihrer Seite mag in gewisser Weise als Gegenbild zu den Mönchen figurieren, als Beispiel einer naturgegeben verlässlichen Zuwendung, auch und gerade in Zeiten menschlicher Not.
Um zu verstehen, wie es zu einer solchen figurativen Ergänzung kommen konnte, obwohl sie zu der von Segantini bereits vorgenommenen Bildstrukturierung – der Verrückung der Kirchenfassade zugunsten einer Freiräumung des Horizonts – nicht recht passt, empfiehlt sich zum einen (IV.) die Vergegenwärtigung thematisch verwandter Treppenbilder, die der Maler während seiner Ausbildungszeit in der Pinacoteca di Brera kennengelernt hatte, und zum anderen (V.) die Beleuchtung seiner kirchen- und frauenpolitischen Haltung, die darüber entschied, ob und gegebenenfalls in welcher Hinsicht diese Bilder ihm für die Lösung seines Problems Anregung zu geben vermochten.|
Thematisch verwandt ist zunächst das bereits besprochene hochpolitische Gemälde von Hayez (Abb. 1). Daneben fallen in der Pinacoteca di Brera drei Treppenbilder wesentlich religiösen, kirchlichen Charakters ins Auge, in denen nicht Männer, sondern Frauen die entscheidende Rolle spielen.
Die beiden ältesten, schon aus dem sehr frühen 16. Jahrhundert stammend, betreffen die Jungfrau Maria. Das erste, gemalt von Vittore Carpaccio (1465/67–1525/26), zeigt sie als junges Mädchen bei einem treppauf gerichteten, dem Hohepriester zustrebenden Tempelgang, der freilich nicht frontal, sondern von der Seite aus in den Blick gerückt wird.23 Das zweite, gemalt von Raffaello Sanzio (1483–1520), hat die Vermählung Marias mit Joseph vor dem Hohepriester zum Thema.24
Raffaels Bild (Abb. 7) ist hier insofern besonders bemerkenswert, als es eine starke Horizontorientierung aufweist, den Tempel dabei aber nicht an den Rand rückt, wie Segantini mit der Kirche verfährt, sondern zentral auf den Horizont setzt, so dass es den Blick zunächst über einen treppenartig gestuften Weg auf den Tempel lenkt und erst anschließend in die Weite eines offenen Himmels schweifen lässt. Unterstützt wird diese Gewichtsverschiebung dadurch, dass zwar beide Bilder oben gewölbt sind, bei Raffael die Wölbung indes von der Kuppel des Tempels getragen zu sein scheint, während Segantini der Kirche diese Funktion entschieden verweigert und das Himmelszelt selbst weit schwingend und selbsttragend erscheinen lässt.
Es kontrastiert aber nicht nur der Bildaufbau, es kontrastiert auch der soziale, religiöse und rechtliche Kontext. Raffael zeigt, wie der Hohepriester dem Zusammenleben von Maria und Joseph ein neues, religiös wie rechtlich tragfähiges Fundament stiftet, indem er in einer Harmonie ausstrahlenden Zeremonie Joseph – demütig barfuß erscheinend – den Ehering über den Finger Marias streifen lässt.25 Die Evangelien des Neuen Testaments wissen davon zwar nichts, wohl aber die »Legenda aurea« des Genueser Erzbischofs Jacopo da Varazze, eine um 1270 entstandene lateinische Sammlung von Marien- und Heiligenlegenden, die seitdem in zahlreichen volkssprachlichen Varianten Verbreitung gefunden hatte.
Vor ihrem Hintergrund lässt sich verstehen, wer in Raffaels Bild Maria und Joseph begleitet:26 Es sind zum einen vier, wohl unter der Aufsicht einer älteren Frau stehende Mädchen, die wie Maria im Tempel gedient haben und dies durch besondere Kleidungsstoffe zum Ausdruck bringen, zum anderen fünf Männer, die wie Joseph um Maria geworben und dies durch einen Stock zu erkennen gegeben haben. Da Maria sich inzwischen für Joseph entschieden hat, zeigt sich am Ende seines Stocks eine zarte Blüte. Zwei der anderen Männer haben dies bereits bemerkt und daraufhin ihren Stock übers Knie bzw. mit den Händen gebrochen, um so ihren Rückzug aus der Bewerbung kundzutun.
Das dritte der religiösen, kirchlichen Gemälde, das Segantini angeregt haben könnte, verdankt sich Federico Zandomeneghi (1841–1917), entstand 1872 und weist ebenfalls ein betont breites Format auf (Abb. 8). Es öffnet sich der sozialen Wirklichkeit seiner eigenen Zeit und gibt ihr einen christlichen Rahmen, doch nicht im selbstgewissen hohen Ton Raffaels, sondern auf eine eher unauffällige, hintergründig wirkende Weise, wie auch im neutral formulierten Titel »Römische Impressionen« zum Ausdruck kommt. Gezeigt wird nämlich, wie sich an einem trüben Wintertag bedürftige Frauen und Kinder auf den breiten Stufen einer Klostertreppe27 versammelt haben, um von ||einem fürsorglichen Mönch eine warme Suppe zu empfangen.28
Zusammenfassend betrachtet lassen sich die genannten Werke, die sämtlich auf die eine oder andere Weise auch rechtliche Dimensionen aufweisen, wie folgt einander zuordnen: Mit Hayez verbindet Segantinis Erstfassung der Aspekt männlicher Verurteilung auf einer frontal präsentierten Treppe; mit Carpaccio der Aspekt priesterlich begleiteter weiblicher Frömmigkeit; mit Raffael der Aspekt eines priesterlich gegründeten Zusammenlebens von Mann und Frau und einer Inszenierung solcher Gründung anhand einer frontal präsentierten komplexen Konstellation von natürlichem Horizont und religiöser Architektur; mit Zandomeneghi schließlich der Aspekt kirchlicher Sozialverantwortung.29
Doch münden die Anregungen dieser Vor- Bilder bei Segantini in ein hauptsächlich negatives Ergebnis, nämlich in die scharfe Kritik am kirchlichen Umgang mit nicht-ehelicher Schwangerschaft, wenn auch gepaart mit einer aufmunternden und insoweit positiven Herausstellung der Schwangeren selbst. Und so stellt sich die Frage: Woher kommt diese kritische Einstellung, und wie verhält sie sich zum zeitgenössischen Familienrecht Italiens, also dem Land, zu dem sich Segantini – ungeachtet seiner Geburt im damals noch österreichischen Trentino – zeit seines Lebens zugehörig fühlte?30
Obwohl Segantini durchaus bereit war, in seiner Malerei kirchennahe Themen aufzugreifen, stand er dem Katholizismus kritisch gegenüber.31 Er lebte mit seiner Frau in keiner eherechtlich an|erkannten Verbindung und lehnte es ab, die gemeinsamen vier Kinder nach katholischer Lehrauffassung religiös zu erziehen.32 Dabei sah er die Mutterschaft – gleichgültig, ob nun innerhalb oder außerhalb einer ehelichen Bindung, und überhaupt unabhängig von staatlichen und kirchlichen Reglementierungen – als etwas der Frau von Natur aus Aufgegebenes an. Besonders deutlich zeigen dies manche unter symbolistischem Einfluss stehende Gemälde aus den 1890er Jahren, die sich zwar zum Teil in die christliche Bildtradition der »Madonna mit Kind« stellen (wie 1894 »L’angelo della vita/Der Engel des Lebens«, wo eine junge Mutter mit ihrem Kind in das Geäst eines Baumes eingesetzt wird33), aber andererseits auch auf eine nicht-christliche Literatur beziehen, in der jene Frauen in die Kritik geraten, die sich der Mutterschaft verweigern oder sie vernachlässigen.34
Mit seiner Kritik am Einfluss der Römisch-Katholischen Kirche auf die italienischen Familienverhältnisse stand Segantini nicht allein. Das Familienrecht des neuen Staates, des Regno d’Italia, war höchst umstritten, insbesondere hinsichtlich der anstehenden Säkularisierung des Eheschließungs- und Ehescheidungsrechts.35 Mit dem 1865 verabschiedeten und zum folgenden Jahr in Kraft getretenen codice civile, der unter starkem Einfluss des französischen code civil stand, wurde überall die Zivilehe (matrimonio civile) eingeführt und somit die kirchliche Trauung in ihrer Bedeutung gegenüber der standesamtlichen Eheschließung zurückgedrängt, nicht zuletzt um auch Nichtkatholiken eine zivilrechtlich wirksame Ehe zu ermöglichen.36 Versuche jedoch, die Zivilehe nunmehr obligatorisch der kirchlichen Trauung vorangehen zu lassen und auch eine Ehescheidung zu ermöglichen, scheiterten und dies ungeachtet langjähriger heftiger Debatten zwischen den Verfechtern eines »Stato laico« und ihren traditionsorientierten Gegnern, die man der Verteidigung einer »clerocrazia« beschuldigte. Die Auseinandersetzungen sollten noch über Jahrzehnte verbissen weitergeführt werden, so dass man hier wie im Deutschen Reich von einem »Kulturkampf« gesprochen hat.37
Die tatsächlichen Familienverhältnisse – die Stellung von Mann, Frau und Kindern zueinander, die Aufgabenverteilung und Bestimmungsmöglichkeiten – änderten sich ohnehin nur langsam und zudem regional variabel. Wie in anderen europäischen Ländern dieser Zeit, bestanden große Unterschiede zwischen Stadt und Land, also beispielsweise zwischen einer sich industrialisierenden Großstadt wie Mailand und dem traditionsorientierten ländlichen Sizilien.
Diese Unterschiede betreffen auch den Umgang mit vorehelichen Schwangerschaften.38 Als maßgeblich dafür erwiesen sich neben religiös-morali|schen und rechtlichen Bindungen die faktischen Strukturen der Arbeitsorganisation, also ob und auf welche Weise Frauen familienwirtschaftlich eingebunden waren oder aber außerhalb ihrer ursprünglichen Familie Arbeit aufgenommen hatten und auf welche Geschlechterverhältnisse sie dabei stießen. Es ist naheliegend, dass sich die Verhaltenserwartungen des ländlichen Herkunftsortes und des städtischen Arbeitsortes unterschieden und zueinander in Spannung gerieten.
Um mit den belastenden Folgen ungewollter Schwangerschaften besser fertig zu werden, gab es in größeren Städten Findelhäuser, meist in kirchlicher, klösterlicher oder kommunaler Hand, wie z.B. schon seit dem 15./16. Jahrhundert in Mailand. Solchen Findelhäusern konnten auch ehelich geborene Kinder anvertraut werden, um ihren Müttern bis zum Ende der Stillzeit oder für die ersten, pflegeaufwändigen Jahre die Arbeitsaufnahme (insbesondere in einer Fabrik) zu erlauben oder zu erleichtern, so dass sie in ihre Familie zurückkehrten, sobald sie dieser als Arbeitskraft wieder nützlich erschienen.39
Es ist also wohl eher nicht so, dass sich Segantini um eine unverheiratete junge schwangere Frau, wie er sie seinem Bild einfügte, in Veduggio hätte ernsthaft sorgen müssen, wenigstens soweit es ihre soziale Einbettung und Unterstützung betrifft. Seine Kritik zielt daher wesentlich auf die in seinen Augen reine Negativität der anscheinend erwartbaren kirchlichen Verurteilung.
Deren Inszenierung erfolgt nach dem Vorbild von Hayez anhand eines Treppenabstiegs, aber im Gegensatz dazu nicht in Verbindung mit einer Verherrlichung der säkularen Rechtsordnung eines Gemeinwesens und deren Verteidigung, sondern in Verbindung mit der Verurteilung eines moralischen Aspekts seitens einer eigentlich nur subsidiären, nämlich bloß kirchlichen Ordnung, deren Tragweite er hinsichtlich ihrer Legitimität grundsätzlich in Frage stellt.
Durch die Übermalung dieser Erstfassung seines Bildes hat Segantini zwar offenkundig auf eine dermaßen scharfe Akzentuierung seiner Kritik verzichtet. Bedeutet dies aber, dass er sie in der Zweitfassung gänzlich aufgegeben hat?
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Haltung des Priesters bei seinem Treppengang (Abb. 3). Anders als die lebensbejahend schreitende junge Frau wird der alte gebeugte, sein Leben zölibatär verbringende Priester als eine von seiner Soutane und damit wesentlich institutionell bestimmte Rückenfigur gezeigt. Er geht zögerlich, seine Kleidung wirkt abgetragen, und der Eindruck, den er macht, lässt die Architektur noch etwas brüchiger erscheinen. Ein aufgeschlagenes Mess- oder Gebetsbuch hinter dem Rücken mit ineinander gelegten Händen tragend, den Blick gesenkt, hält er müde oder nachdenklich inne. Kopf und Oberkörper ragen bereits in den Himmel hinein, während Unterleib, Arme und Beine noch den verwitternden, ausgetretenen und ausgebesserten Treppenstufen verhaftet sind.
Diese Scheidung wirkt zunächst ganz natürlich, erweckt dann aber doch den Eindruck einer Ambivalenz in der Orientierung: einerseits in Richtung auf den sich im Morgendunst erfrischenden kosmischen Himmel, an dem der Mond verblasst, um den Strahlen der Sonne zu weichen, andererseits in Richtung auf die Anforderungen, welche die Katholische Kirche an einen Priester stellt. Dabei kommt diesen Anforderungen anscheinend ein Übergewicht zu, denn die mittig zum Treppenaustritt platzierte Gestalt des Priesters richtet sich nicht zum Himmel auf, sondern neigt sich zur Brüstung und zum Kirchenportal hin, und sein großes Ohr, wie auch die Fingerstellung, ähnelt der Form seiner Kopfbedeckung, so als hätte der amtliche Habitus vom Körper Besitz ergriffen.
Man hat gemeint, diese Zweitfassung des Gemäldes zur Erstfassung in einen scharfen Gegensatz setzen zu können. Auffällig sind insofern die Kommentare von Annie-Paule Quinsac, die sich um das Werk Segantinis große Verdienste erwor|ben hat. 1990 sieht sie zwischen beiden Fassungen einen »dramatischen Gegensatz«; in ihrer Sicht »überwindet« der Maler »die kirchenfeindliche Einstellung« der Erstfassung; sie hebt die »implizite Religiosität« des Bildes hervor, »die es der Genremalerei enthebt und den mystischen Pantheismus ankündigt, der von den symbolistischen Werken der letzten Lebensjahre ausgeht«; in ihrer Sicht »evoziert« der Maler nicht nur »die besinnliche Stimmung, die die frühmorgendliche Atmosphäre in dem […] Priester auslöst«, sondern auch »ein Seelenbündnis zwischen der Natur als Trösterin und dem Menschen«.40
In einem weiteren Text aus demselben Jahr schreibt sie, Segantini habe »den einzigen bildnerischen Beweis für seinen Antiklerikalismus« gelöscht und »durch eine ernsthafte Devotionsszene ersetzt«, eine Veränderung, die »seine Ambivalenz dem Katholizismus gegenüber« verrate »und mehr noch, seine Gewissensbisse in bezug auf eine vielleicht zu hartherzige Verurteilung jener religiösen Tradition, die an der Wurzel seiner eigenen italienischen Kultur lag und die er, trotz allem, für alle jene als wichtig erachtete, die nicht wie der Künstler oder der Dichter zur geistigen Elite gehörten.«41
Andere halten die institutionelle Kirchenkritik für aufgegeben. So Wäspe:42 »Die Kritik, die sich ursprünglich gegen die Institution Kirche beziehungsweise gegen die Unzulänglichkeit ihrer Vertreter wandte, wird zur individuellen Problematik, stellvertretend dargestellt im persönlichen Schicksal des Geistlichen. Die monumentale Treppe mit all ihren Verletzungen erscheint als Symbol des zurückgelegten Lebensweges, dessen Mühsal sich im morgendlichen Aufstieg des Priesters unmittelbar verbildlicht.« Und so auch Stutzer, der den Grund für den Motivwechsel darin sieht, dass für Segantini »das erzählerische Moment der ersten Fassung zu dominant und zu trivial ausgefallen ist – notabene für einen Künstler, der nach bestechenden, symbolischen Bildfindungen strebte und deshalb zunehmend danach trachtete, auf narrative Elemente möglichst zu verzichten.«43
Mir erscheinen solche scharfen Kontrastierungen übertrieben, weil auf diese Weise der Konstanz der Bildstruktur zuwenig und dem Austausch der Bilderzählung zuviel Gewicht beigemessen wird und damit das sich gegen die Katholische Kirche wendende rechtspolitische Grundmotiv, das Segantini in beiden Bildfassungen bewegt hat, vernachlässigt wird.44
Zwar ist es zweifellos richtig, dass sich Art und Maß der Kirchenkritik in den beiden Bildfassungen deutlich unterscheiden: Was in der Erstfassung an Kritik pointiert, ja polemisch zum Ausdruck kommt, wird in der Zweitfassung in den Ausdruck einer Orientierungsambivalenz zurückgenommen und auf diese Weise sublimiert (Äußerungen Segantinis dazu sind nicht überliefert). Aber ein kirchenkritisches Moment bleibt doch erhalten. Angesichts eines morgendlichen, von einem gänzlich freien Horizont bestimmten Himmels wirkt der pflichtgemäße, aber zögerliche Treppengang des Priesters als eine Fleiß- und Fügsamkeitsmetapher, die fragwürdig geworden ist.
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1 Siehe dazu Kocher (1992), mit ausführlichen Nachweisen deutschsprachiger Literatur, und Behrmann (2020), ebenfalls mit reichhaltigen, aber auf englischsprachige Literatur ausgerichteten Hinweisen.
2 Zur Treppe als einer der ästhetischen Grundformen der Visualisierung öffentlicher Verwaltung siehe Heyen (2023). Die Treppe erscheint dort nicht als Schauplatz, sondern als Laufbahn.
3 Siehe dazu den Bildkommentar von Lissoni (2015). Zur Entwicklung der Historienmalerei von Hayez siehe Watts (2021) 76ff. (zum Faliero-Bild 122ff.).
4 Anders als Hayez zeigt Delacroix den Augenblick nach und nicht vor der Hinrichtung. In der zeitgenössischen Kritik umstritten, hat es im Gegensatz zum Bild von Hayez auch in der kunsthistorischen Literatur beachtliche Aufmerksamkeit erhalten. Aus der jüngeren deutschsprachigen Literatur siehe Geimer (2006), mit bemerkenswerten Überlegungen auch zur Treppe, die hier in auffälliger Weise in großem Umfang frei bleibt.
5 Siehe dazu den Bildkommentar von Laurence Des Cars in ders. et al. (eds.) (2010) 148 und 150, sowie – ebenfalls breit auf das Gesamtwerk Gérômes eingehend – Eberle (2017) 325. Zur näheren Einschätzung von Gérômes Historienmalerei siehe auch Germer (2000) 173ff. (178 nennt sie »allegorisierte Geschichte«) und House (2008) 275f.
6 In einem bereits 1873 gemalten Historienbild – »Die graue Eminenz«, Farbabbildung in Des Cars et al. (eds.) (2010) 149 – hat sich Gérôme schon einmal einer Schautreppe bedient, um Machtausübung zu veranschaulichen: Der Beichtvater und Berater des Kardinals Richelieu kommt lesend die Haupttreppe des Palais Royal herunter, ohne die Höflinge, die ihm ehrerbietig begegnen oder auf ihn bewundernd zurückschauen, der Beachtung für würdig zu befinden.
7 Davon vermittelt einen Eindruck das 1689 gemalte Bild »Der Magistrat der Stadt Paris in der Beratung über ein Fest zu Ehren von Louis XIV.« von Nicolas de Largillierre; siehe Heyen (2013) 105ff.
8 Noch im selben Jahr malte Ernest Meissonier ein Bild, »Les Tuileries en ruines, mai 1871«. Es verbindet die Erschütterung über die Zerstörung des alten Königsschlosses, das hier ohne seine Fenster und Treppen gezeigt wird, mit Zukunftshoffnung; siehe Heyen (2013) 41f.
9 Siehe dazu Damler (2016) 210ff.
10 Farbabbildung in Caspers (Red.) (1998) 55 unter dem Titel »Hiercheuse à la fosse au Borinage«. Zur Frauenarbeit im belgischen Kohlebergbau siehe Penn Hilden (1993) 107ff.
11 Deutlicher wird die politische Stellungnahme in einem um die Jahrhundertwende entstandenen Gemälde von Jules Adler, das unter dem Titel »La grève au Creusot« – siehe Heyen (2013) 116f. – einen Arbeiterstreik in der burgundischen Schwerindustrie ins Bild setzt. Gezeigt wird ein langer, Nationalfahnen tragender Menschenzug, angeführt von einer Frau, in deren Trikolore sich das nationale Rot zum Rot der Arbeiterbewegung steigert.
12 Farbabbildung unter dem Titel »La processione del Corpus Domini a Chieti« in Strinati/Benzi (a cura di) (1999) 71, mit einem Kommentar von Anna Maria Damigella (197f.), und, besonders groß, in Benzi/Berardi et al. (2018) 68f.; siehe dazu die ausführliche Besprechung von Zimmermann (2006) 313ff. und die Wiedergabe zeitgenössischer Beurteilungen in Di Tizio (2007) 54ff.
13 Ganz anders fällt die Darstellung des Mutterglücks in einem um 1874 entstandenen Werk von Luigi Busi (1837–1884) aus: »Gioie materne«; Farbabbildung in Dotti (a cura di) (2020) 121 (120 ausführliche Würdigung durch Stella Ingino). Es zeigt ein glückliches junges Ehepaar mit Säugling inmitten eines großzügig ausgestatteten bürgerlichen Wohnzimmers – ein Sujet, dessen gefällige Gestaltung dem Maler Anerkennung und lebhafte Nachfrage einbrachte.
14 Farbabbildung unter dem Titel »Colpo di vento« (ca. 1902) in Bosi (2020) 77 (76 ausführliche Würdigung durch Beatrice Balzarini).
15 Der von Segantini selbst gewählte Titel des Bildes, »A messa prima«, wird in der deutschsprachigen Literatur ganz überwiegend einfach mit »Frühmesse« übersetzt. Es geht hier jedoch nicht um die Frühmesse als solche, die ja auch gar nicht gezeigt wird, sondern um die im italienischen »a« ausgedrückte Stunde der Frühmesse, welche die Stunde des anbrechenden Tages ist. Besser ist daher, wenngleich nicht ganz eindeutig, die Übersetzung »Zur Frühmesse«, die Segantini (2018) 88 verwendet und die ich hier übernehme.
16 So Grubicy in einem Brief aus späteren Jahren, im italienischen Original zitiert bei Kaufmann (2006) 166 (Anm. 1089).
17 Schon für Servaes (1902) 33ff. (überschrieben »Die Poesie von Raum und Licht«) beginnt damit im Werk Segantinis ein neues Kapitel. Habe es bisher an einer »eindringlichen analytischen Naturauffassung« gemangelt, sei es nun um die »korrekte Wiedergabe des Beobachteten« gegangen.
18 Einen Eindruck davon vermittelt die große farbige Detailabbildung in Quinsac (1982) 420. Von einer »überrealen Evidenz des Materiellen« spricht Wäspe (1999) 112.
19 Eine Photographie von Treppe und Kirche in Veduggio findet sich in Segantini (2018) 87, aber auch schon in Bonifazi et al. (2000) 55 und Quinsac (1982) 419.
20 Die in der Literatur anzutreffende Datierung ist nicht ganz einheitlich (Segantini selbst hat die Bilder nicht datiert). Laut Quinsac (1982) 419 entstand die 1885 in Turin öffentlich ausgestellte Erstfassung 1884–1885, die Zweitfassung 1885–1886. Ich folge ihr mit einer kleinen Änderung: Bei der Datierung der Zweitfassung sollte zum Ausdruck kommen, dass es sich um eine teilweise Übermalung der Erstfassung handelt. Folglich wird hier deren Entstehungszeitraum einbezogen, was im Ergebnis 1884–1886 bedeutet und mit Stutzer/Wäspe (Hg.) (1999) Tafel 46 übereinstimmt.
21 Segantini (2018) 87 nennt als Titel »Üble Nachrede«, wohl in Übersetzung des ebenfalls anzutreffenden italienischen Titels »I commenti maligni« (siehe Quinsac [1982] 419).
22 So Quinsac (1990b) 102, aber auch Wäspe (1999) 112. Schon Servaes (1902) 35 sieht eine »Gruppe hechelnder Mönche«.
23 Kleine Farbabbildung unter dem Titel »Presentazione della Vergine al Tempio« in Lauber (2012) 165 (166f. große Farbabbildung eines Ausschnitts).
24 Farbabbildung unter dem Titel »Sposalizio della Vergine« in Lauber (2012) 275. Pfisterer (2019) 34 übersetzt mit »Verlobung Mariens (Sposalizio)« und nennt den Ring einen »Verlöbnisring«. »Verlobung« scheint mir ein irreführender Ausdruck zu sein, da er im Deutschen für eine zwar ernsthaft ausgesprochene, aber rechtlich unverbindlich bleibende Heiratsabsicht steht. Der Unverbindlichkeit widerspricht jedoch Raffaels Darstellung. Angemessener ist daher der Ausdruck »Vermählung«, der dem in englischsprachigen Bildkommentaren benutzten Ausdruck »marriage« entspricht.
25 Siehe ausführlich Giorgi (2020) 36ff., mit sehr guten farbigen Detailabbildungen.
26 Siehe ebd. 47 und 48. Bemerkenswert ist außerdem, dass im Hintergrund rechts ein Bettler Almosen empfängt; siehe ebd. 51.
27 Die lokale Zuordnung schwankt. San Gregorio al Celio heißt es im Bildkommentar von Farese Sperken (1994) 695–697. Dagegen soll es sich laut Arrigoni/Maderna (a cura di) (2010) 490 um den convento di Aracoeli handeln.
28 Später, nunmehr in Paris lebend, wird der Maler diese Thematik nicht mehr aufgreifen und vor allem durch Bildnisse bekannt und geschätzt werden, die Mädchen und Frauen fernab aller Sozialkritik lesend oder schauend zeigen, still und in ruhigen Farben gefasst. Siehe Bosi (2022) mit den Farbabbildungen Nr. 11ff. und Dotti (a cura di) (2020) 83, 143ff., 181.
29 Auch Michettis Bild könnte Segantini beim Entwurf seines Treppenbilds gekannt haben, und zwar durch den Ende 1881 unter dem Titel »La festa dei bambini« erfolgten Abdruck einer graphischen Variante in der Zeitschrift »L’Illustrazione Italiana«; Abbildung in Zimmermann (2006) 314, der ihren Titel auch für das große Ölbild verwendet. Wenn Servaes (1902) 35 sein Urteil, die Erstfassung sei ein »Missgriff«, u.a. damit begründet, die Szene erinnere »zu sehr an ein bekanntes Bild von Michetti«, so wird er wohl dieses Treppenbild vom Fronleichnamsfest gemeint haben.
30 Die italienische Staatsangehörigkeit hat Segantini nie erwerben können; zu den Gründen siehe Quinsac (1990c) 225, 226, 228, 234.
31 Zu Segantinis Verhältnis zur Religion und seinen religionsbezogenen Bildern siehe Quinsac (1990a) und Frehner (1999) 17ff.
32 Anders als Frehner (1999) 17 meint, ließ er aber nicht alle ungetauft. Getauft wurden zwei, freilich aus besonderen Gründen; siehe Segantini (2018) 79, 81.
33 Farbabbildung bei Quinsac (1990a) 57.
34 Wie in »Le cattive madri/Die bösen Mütter« und »Il castigo delle lussuriose/Die Strafe der Wollüstigen«, auf deren besonderen literarischen Hintergrund Quinsac (1990a) 52ff. und Frehner (1999) 31ff. näher eingehen. Für eine ausführliche Analyse mit kritischer Aufarbeitung bisheriger Interpretationen siehe Zimmermann (2006) 105–146, besonders 110ff., wobei 139ff. auch die soziale Problematik unehelicher Mutterschaft beleuchten.
35 Reiche Quellen- und Literaturhinweise bei Ranieri (1982) 338–341. Einen griffigen Überblick zur Verbesserung der Rechtsstellung der Frau mit Gesetzesauszügen bietet Bellomo (1970) 104ff.; in welchem Umfang politisch wirkende Frauen selbst zu dieser Verbesserung beigetragen haben, veranschaulicht Sarogni (1995).
36 Grundlegend zur Entwicklung des italienischen Familienrechts Ungari (2002), insbesondere 151ff. (Kap.V: »Il Codice Pisanelli«), 181ff. Zum damals herrschenden Familienbild und Familienleben siehe Vecchio (1994). Ferrari/Zanotti (1993) bieten eine differenzierte Beschreibung der tatsächlichen ökonomischen und sozialen Basis des Familienrechts. Über die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche in verwaltungshistorischer Perspektive unterrichtet Ferrari (2002).
37 Zur Motivation und Ausformung des in Italien vor allem im liberalen Bürgertum verbreiteten Laizismus und Antiklerikalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe den Überblick von Verucci (1993); ausführlicher und grundlegend Verucci (1996) 179ff. (Abschnitt III, »La sinistra laica: il movimento del libero pensiero«). Siehe auch Borutta (2011) 326ff. (»Kulturkampf als Säkularisierung in Italien«). Durch das Konkordat von 1929 zwischen Italien und dem Vatikan wurde die scharfe Trennung zwischen kirchlichem und staatlichem Eherecht wieder aufgehoben und eine auch zivilrechtlich wirksame kanonische Ehe eingeführt (»Konkordatsehe«), die freilich zivilrechtliche Wirkung erst nach obligatorischer Eintragung ins Standesamtsregister erfuhr.
38 Wegweisend Mitterauer (1983), eine Studie mit dem Schwerpunkt auf Österreich im 18./19. Jahrhundert, die aber in ihrer rechtliche Faktoren berücksichtigenden Verbindung von Demographie, Sozialanthropologie und Sozialgeschichte auch Italien einbezieht. Zu einem vergleichbaren Blick auf Preußen siehe Harms-Ziegler (1997).
39 Zur Entwicklung in Mailand siehe Pellegrini (1973) und Hunecke (1987). Über vergleichbare Verhältnisse in Wien und Basel informieren Pawlowsky (2001) bzw. Orth (2022), eine Studie, die auch Literatur zum weiteren Alpenraum erschließt und für die 1860/70er Jahre anhand von Ehegerichtsprotokollen eindrücklich vor Augen führt, wie eine Großstadt aus dem sie umgebenden ländlichen Raum (hier Baden) in großem Umfang weibliche Arbeitskräfte anzieht, ihnen aber eine Verehelichung bei unzureichendem Vermögen rechtlich verwehrt, ohne dadurch verhindern zu können, dass eine auf ein gegenseitiges Versprechen hin faktisch gelebte Ehe auch ohne Trauschein einen tragfähigen Familiengrund liefert.
40 Quinsac (1990b).
41 Quinsac (1990a) 47f.; Quinsac (2002) 23 hingegen betont die tiefe Einsamkeit (»profonda solitudine«) des Priesters, deren Ausdruck darauf hinzuweisen scheine, dass die Antwort auf die wesentlichen Fragen des Lebens nicht von den amtlichen Religionen kommen könne (»come a significare che la risposta ai quesiti essenziali della vita non può venire dalle religioni ufficiali«).
42 Wäspe (1999) 112.
43 Stutzer (2016) 86.
44 Zu einfach insoweit Hofstetter (1985) 270, der aus seiner Deutung der Kirchentreppe als »Himmelstreppe« meint folgern zu können, dass Segantini den Himmel und nicht die Kirche als »das eigentliche Ziel« des Priesters angegeben habe. Der Ausdruck »Himmelstreppe« findet sich auch bei Bonifazi et al. (2000) 55; ebd. 72 spricht hinsichtlich Segantinis »Gottesvorstellung« von einer »Synthese aus katholischer Tradition und pantheistischem Gedankengut«.