Schon das Titelbild – zwei ausgegrabene Skelette in situ und eine Illumination des die Seele eines Gehängten aus seinen offenliegenden Eingeweiden entnehmenden Teufels – reizt des Lesers Blick und Neugier, sich den Ergebnissen einer internationalen Tagung in Bordeaux aus dem Februar 2017 zuzuwenden. Neben dem Vorwort und der Einführung des Herausgebers werden 21 Beiträge geboten, die meisten auf Französisch, wenige in englischer Sprache.
Morbide geht es im ersten Teil des Bandes (Les espaces et les équipements de la justice) zu, der zunächst Ausgrabungen von Exekutionsstätten in Europa vorstellt: Andrew Reynolds, »Culture judiciaire et complexité sociale: le modèle général de l’Angleterre Anglo-Saxonne« (27–40), Pavlína Mašková und Daniel Wojtucki zu Beispielen aus Niederschlesien und der Oberlausitz (41–53), Sidonie Bochaton zur Pfarrei Meillerie am Genfer See (55–66) sowie Marita Genesis zu einem Beispiel aus Thüringen, »Archeological Documentation of a Place of Execution: ›The Court‹. A Middle-Age Gallow Hill by Alkersleben (Germany)« (101–119). Mit diesen thematisch verwandt sind drei Beiträge, welche das Vorkommen monumentaler Galgen (fourches patibulaires) in verschiedenen Regionen Frankreichs erforschen: Anne Crola, »Les fourches patibulaires en Dordogne. État des lieux et premières pistes de réflexions archéologiques sur la justice médiévale et moderne« (121–138), Philippe Blanchard, Matthieu Gaultier, Fabrice Mauclair und Mathieu Vivas, »Les fourches patibulaires médiévales et modernes en Touraine. De la constitution d’un groupe de travail interdisciplinaire aux premières investigations de terrain« (139–155), sowie Mathieu Vivas mit Charles Clairici und Marlène Faure, »Les fourches patibulaires de Draguignan (Var) (XIVe–XVIIIe s.). Premiers résultats d’une investigation interdisciplinaire« (157–176).
Auch, wie man wohl sagen würde, Orte des Schreckens werden behandelt. Am Beispiel des Roten Hauses in Arras – Mathieu Béghin und Alain Jacques (85–100) – oder des Uhrturmes| des Parlement in Toulouse – Jean Catalo, Fabien Callède und Henri Molet (67–83) – werden archäologische Befunde vorgestellt, die ihre einstige Verwendung als Schmerz verheißende Gerichtsorte bezeugen.
Der zweite Teil (La justice et ses »objets«) widmet sich im Grunde vergleichbaren Themen, wie dem Gefängnis von Moulins (Dep. Allier) im späten 19. Jahrhundert (Alban Horry, 179–194) oder dem Umgang mit Leichnamen von Kriminellen in der Neuzeit (Jennifer Kerner, »Reliures de livres avec la peau du condamné. Hommage et humiliation autour des corps criminels«, 195–211). In Bezug zu den Präsentationen archäologischer Grabungen an Exekutionsplätzen stehen zwei weitere Beiträge: Einer widmet sich den bei Hinrichtungsstätten in Niederschlesien gefundenen Artefakten, wie Ketten und Galgenfundamente (Pawel Duma, »Artefact Assemblages Collected on Execution Sites in Lower Silsia. Differences and Similarities«, 213–221). Der andere befasst sich mit Richtschwertern im Lichte der musealen Repräsentation in Riga (Anastasija Ropa und Edgars Rops, »The Sword, the Hand, the Account. Rereading Justice in the Museum Context«, 223–236).
Die acht Beiträge des dritten Teils (L’archéologie face à la fabrique judiciaire des corps) sind schwerer über einen Kamm zu scheren. Im Essay von Eline M. J. Schotsmans, Patrice Georges, Anne Coulombeix und W. J. Mike Groen geht es um forensische Archäologie (343–364), während die methodischen Besonderheiten bei der Bergung von Leichen antiker bis heutiger Herkunft von Isabelle Abadie, »Deux dépôts osseux humains atypiques dans un silo du IXe s. à Villiers-le-Bel (Val d’Oise). Du châtiment judiciaire à l’infamie?« (257–278), sowie von Patrice Georges-Zimmermann und Philippe Marsac, »›La fouille et le prisonnier‹. Prison Saint-Michel de Toulouse. Archéologie d’une évasion et recherche de restes humains liés au devoir de mémoire« (365–377), dargelegt werden.
Die ertragreiche Anwendung dieser Methoden illustrieren die Befunddokumentationen an Skeletten von Hinrichtungsstätten in Bulgarien (Petar Parvanov, 279–294) und Polen (Camille Vanhove, Pawel Duma, Daniel Wojtucki und Honorata Rutka, 295–314). Die Schändung der Körper Hingerichteter behandeln Emma Battell Lowman und Sarah Tarlow, »Le ›gibbeting‹ anglais. La punition du cadavre du criminels dans la Grande-Bretagne des XVIIIe–XIXe s.« (315–329), sowie Hélène Réveillas und Céline Michel-Gazeau, »Le procès d’un cadavre? Une inhumation isolée sur l’ancienne place du Temple à Bègles« (331–342).
Sehr angenehm aus dem Rahmen fällt in diesem dritten Teil – man möchte fast sagen: im ganzen Band – der Beitrag von Anne Lafran. »La pendaison de Judas ou le châtiment sans fin (XIIe–XIVe siècles)« (239–255) ist das einzige Essay, das sich sowohl interdisziplinär als auch diachron mit dem Archetyp der tödlichen Strafe, dem Erhängen, auseinandersetzt. Die Autorin zieht dazu zahlreiche Abbildungen des Mittelalters heran, die den Tod durch Erhängen an zeitbezogenen Galgen illustrieren (auch der oben erwähnte, vom Teufel seiner Seele beraubte Gehängte stammt aus diesem Repertoire), sowie weitere Bild- und Textbeispiele dafür, wie die Himmelfahrt der Seele durch schwere Sünde in ihr Gegenteil verkehrt werden kann. Die Judaserzählung wird so aus dem Kontext der Passionsgeschichte gelöst und den Gläubigen das ganze Kirchenjahr über vor Augen gestellt, so dass die Frage nach dem schmählichen Selbstmord des Judas oder seiner gerechten Hinrichtung sub specie aeternitatis an Bedeutung gegenüber der verdienten endlosen Strafe verliert.
Die im Band versammelten Beiträge der Rechtsarchäologie sind jeder für sich von Interesse für die Rechtsgeschichte und förderlich für weitere Schritte der forschenden (Wieder-)Lektüre der mittelalterlichen und modernen Justiz in Europa. Verbreitung, Bauweise und Funktion der Monumentalgalgen in verschiedenen Landschaften Frankreichs werden in Verbindung mit Schriftquellen gebracht und so ihre tatsächliche Nutzung rekonstruiert. Die Auswertung der Grabungen an ›Friedhöfen‹ bei solcherart Hinrichtungsstätten eröffnet Einblicke in die Praxis des Umgangs mit den Leichen der Hingerichteten, wie etwa die Beisetzung der Schädel Geköpfter mit dem Rumpf in einem (Massen-)Grab. Darüber hinaus wird die Methode der Bergung dieser menschlichen Überreste erläutert und ein Zusammenhang zur modernen Rechtsmedizin hergestellt. Nicht nur die räumliche Nähe von Exekutions- und Beisetzungsplätzen wird so thematisiert, sondern auch die rechtsarchäologische Bauuntersuchung einst bedeutender Gerichtsstätten innerhalb größerer Städte (hier Arras und Toulouse).
Allen, die der verführerischen Macht einer kritiklosen Anwendung des textual turn erliegen, sei es aus methodisch-innovativer Überzeugung, sei es aus dem Wunsch heraus, das Mittelalter als| Projektionsfläche für eine heile Welt nutzen zu wollen, ist die Lektüre besonders zu empfehlen. Das Vorwort des Herausgebers Mathieu Vivas, »Introduction. Les sciences archéologiques permettent-elles d’étudier la justice médiévale et moderne?« (11–23), flicht die einzelnen Vorträge der Tagung zu einem Strang. Zudem ist jedem Beitrag eine weiterführende Bibliographie angehängt und die zahlreichen Abbildungen sind instruktiv für das Verständnis der Beiträge und ihre Zusammenhänge.
* Mathieu Vivas (Hg.), (Re)lecture archéologique de la justice en Europe médiévale et moderne (ScriptaMediævalia 35), Bordeaux: Ausonius Éditions 2019, 377 S., ISBN 978-2-35613-243-7