Die Geschichte der deutschen Handelsgerichtsbarkeit war bislang ein Stiefkind der justizhistorischen Forschung. Wer sich informieren wollte, musste in der Hauptsache auf mehr als 100 Jahre alte Arbeiten zurückgreifen. An neuerer Forschung ist im Wesentlichen nur ein Abschnitt in Schuberts Geschichte des Gerichtsverfassungsgesetzes1 zu nennen.2 Hinzu kommen die, allerdings viel weniger wahrnehmbare und auch wahrgenommene, ungedruckte Dissertation von Dorothea Schön zu den rheinischen Handelsgerichten, welche auf einer Vielzahl archivalischer Quellen fußt3 und – zeitgleich mit der hier besprochenen Arbeit – die Dissertation von Sebastian Jacob,4 die sich allerdings, was das hier interessierende 19. Jahrhundert betrifft, auf die gesamtdeutschen Kodifikationsbemühungen konzentriert und das (lange maßgebliche) Recht der Einzelstaaten eher am Rande behandelt.
Für dieses Defizit gibt es gute Gründe. Der erste ist, dass eine eigenständige Handelsgerichtsbarkeit seit 1877 nicht mehr existiert und damit auch kein heute bestehender Gerichtszweig, der Veranlassung gibt, ihn historisch zurückzuverfolgen. Der zweite Grund ist, dass es nie eine einheitliche Handelsgerichtsbarkeit gab, sondern immer nur auf einzelne Territorien und Städte bezogene und zum Teil relativ kurzlebige Regelungen; eine Geschichte »der« deutschen Handelsgerichtsbarkeit zu schreiben, erscheint daher recht mühsam.
Schon allein aus diesen Gründen ist es ein großes Verdienst, dass sich Thomas Vogl in seiner von Phillip Hellwege betreuten Dissertation dem Thema zugewendet hat – wenn auch mit einem spezifischen Fokus. Vogl will den Einfluss des französischen Rechts nachweisen. Genau genommen geht es dabei nicht um das gesamte Recht der Handelsgerichtsbarkeit, sondern um jene Regeln, die Besetzung, Zuständigkeit und bestimmte Verfahrensaspekte regulierten. Die Vorgehensweise stellt sich dann vereinfacht gesehen so dar, dass zuerst das französische Recht dargestellt wird und |schließlich einzelne Handelsgerichtsordnungen oder andere Prozessbestimmungen mit den französischen Regeln verglichen werden, oder genauer: Geprüft wird, inwiefern sich in den deutschen Bestimmungen französisches Recht wiederfindet.
Diese Vorgehensweise hat Vor- und Nachteile. Die Vorteile liegen auf der Hand. Die Materialfülle wird derart eingegrenzt und geordnet, dass der Stoff gut portioniert und übersichtlich dargestellt werden kann. Die Konzentration auf bestimmte Regelungselemente erlaubt einen gut nachvollziehbaren Vergleich und relativ klare Aussagen, was Unterschiede und Gemeinsamkeiten betrifft. Allerdings gibt es auch gravierende Nachteile. Wer sich mit derart festgeschraubten Suchscheinwerfern durch die Quellen bewegt, verzichtet von vornherein auf die Untersuchung solcher Problemfelder, die für die Rechtsgeschichte der Handelsgerichtsbarkeit von vitalem Interesse sein könnten – um welche es sich dabei handelt, soll unten näher ausgeführt werden. Zudem ist der Preis der systematischen Abarbeitung der immer gleichen Fragen (im Rahmen einer sehr tiefgestaffelten Gliederung) eine gewisse Eintönigkeit der Darstellung, verstärkt durch den zuweilen durchschimmernden Gutachtenstil.
Dennoch sind die Erkenntnisgewinne erheblich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die vom Autor zugrunde gelegten Untersuchungsachsen – Besetzung, Zuständigkeit und Verfahren – weite und wichtige Teile der rechtlichen Verfassung der Handelsgerichtsbarkeit abdecken. Hinzu kommt, dass die Untersuchung chronologisch umfassend angelegt ist. Denn das erste umfassende Sachkapitel befasst sich mit der Ausgangslage, also dem Rechtszustand vor der Rezeption französischen Rechts. Was hier geboten wird, ist eine teilweise bis ins 16. Jahrhundert zurückgehende systematische Darstellung der Rechtsentwicklung in zehn deutschen Städten. Das hört sich nach wenig an – allerdings nur, wenn man nicht berücksichtigt, dass die Handelsgerichtsbarkeit kein flächendeckend vorhandener Bestandteil der deutschen Gerichtslandschaft war, sondern sich auf die bedeutenden Handelszentren konzentrierte. Was die Charakteristika dieser Handelsgerichtsbarkeit betrifft, ist zunächst das Fehlen einheitlicher Muster zu betonen, vor allem auch im Hinblick auf die Zuständigkeit (oft limitierte Zuständigkeit für bestimmte Wirtschaftsbereiche). Gemeinsam ist den Handelsgerichtsordnungen, dass das Verfahren auf Schnelligkeit ausgerichtet war. Bemerkenswert sind sich in weiten Teilen ähnelnde Besetzungsmodi: Die Handelsgerichte waren niemals autonome Gerichte der Kaufmannschaft, sondern fest in die ständisch-städtischen Machtstrukturen integriert, überall waren neben den Kaufleuten Stadträte vertreten. Als historisches Vorbild für eine nichtstaatliche Selbstregulierung der Wirtschaft, als Referenzfolie justizieller Manifestation von »lex mercatoria« eignen sie sich daher nur eingeschränkt.
Vor diesem Hintergrund treten die Unterschiede zur französischen Gesetzgebung deutlich hervor. Die französischen Handelsgerichte waren nur mit Kaufleuten besetzt. Sie waren umfassend für Handelssachen zuständig und losgelöst von der städtischen Verwaltung. Nur in Orientierung auf ein schnelles Verfahren gibt es Gemeinsamkeiten, aber das dürfte sich auch aus der Natur der Sache ergeben haben.
Die Übernahme (bzw. Berücksichtigung) französischen Rechts begann in den linksrheinischen Departments, dauerhaft mit der Einführung des Code de commerce 1809. Dies waren auch die einzigen Gebiete, in welche die französische Handelsgerichtsbarkeit (nahezu) in Reinform eingepflanzt wurde. In allen anderen Territorien kann eigentlich nicht von einer Rezeption des französischen Rechts, sondern nur von einer – zuweilen mittelbaren – Übernahme einzelner französisch-rechtlicher Regelungselemente gesprochen werden. Ein Verdienst von Vogls Arbeit ist es, in akribischer Spurensuche diesen Einflussfaktoren nachgegangen zu sein. Hierzu untersucht er neben den Rheinprovinzen die Gesetzgebung der Modellstaaten (Westfalen, Frankfurt am Main, Berg), Norddeutschlands, Bayerns und Altpreußens. Unabhängig von der Frage nach dem Einfluss des französischen Rechts liegt hiermit erstmals eine umfassende systematische Darstellung der Handelsgerichtsbarkeit vor 1877 vor und damit auch eine solide Grundlage für künftige Forschung.
Als allgemeiner Befund kann für die Zeit bis 1877 ein Trend weg von der einzelstädtischen und hin zur territorialstaatlichen Regelung konstatiert werden (auch wenn dies in Bayern bis 1869 dauerte). Nahezu überall findet sich ein grundlegender Unterschied zum französischen Recht: kein reines Kaufmannsgericht, sondern eine gemischte Besetzung mit Berufsrichtern und Kaufleuten. Hier also setzte sich das französische Vorbild in keiner Weise durch. (Am Rande: Dass das reine Kaufmannsge|richt in der rechtspolitischen Diskussion weiterhin stark präsent blieb – was auch unsere heutige Wahrnehmung prägt –, dürfte an der starken Präsenz der rheinischen Juristen gelegen haben.) Ansonsten differierte der französische Einfluss zwischen nahezu Null in Altpreußen und sehr stark z.B. in Hamburg. Als ein wichtiger Impuls des französischen Rechts ist jedoch zu werten, dass das Verfahrensrecht der Handelsgerichte zunehmend als Zivilverfahrensrecht (mit Modifikationen) angesehen wurde und somit separate Verfahrensordnungen mehr und mehr der Vergangenheit angehörten.
Separate Handelsgerichte sollten eigentlich auch zur Justizstruktur des Deutschen Reichs gehören. So war es auch im Entwurf des Gerichtsverfassungsgesetzes vorgesehen. Dass diesem Vorhaben in der Justizkommission des Reichstags energischer Widerstand entgegengesetzt wurde, war daher in gewisser Hinsicht eine Überraschung. Bemerkenswert ist hierbei, dass Einwände grundsätzlicher Art ins Feld gebracht wurden, die in der Arbeit Vogls (die sich weitgehend auf die Darstellung des positiven Rechts und den Abgleich von Normen konzentriert hatte) bisher keine große Rolle gespielt hatten. Zwei tragende Argumente lauteten: Mit der Kodifikation des materiellen Handelsrechts (ADHGB 1869) bedürfe es keines Rückgriffs auf das normative Wissen der Kaufleute mehr. Und es liege nicht im Geist der Zeit, bestimmte Gruppen durch Einrichtung einer Art ständischer Gerichtsbarkeit zu privilegieren. In welchem Maße hier politische oder juristische Vorstellungen eine Rolle spielten, kann nicht mehr ganz nachvollzogen werden. Und in der Tat verlaufen ja auch die politischen Fronten nicht eindeutig. So konnten aus liberaler Sicht Handelsgerichte geboten sein, um der Eigenlogik der Wirtschaft hinreichend Raum zu verschaffen. Ebenso liberaler Natur waren aber auch die Vorbehalte gegen das unzweifelhaft korporative Element dieser Handelsgerichtsbarkeit. Am Ende kam es jedenfalls zu dem noch heute bestehenden Kompromiss in Form der Kammern für Handelssachen bei den Landgerichten. Französischer Einfluss findet sich dabei nur noch in Spurenelementen.
Die Arbeit Vogls zeichnet sich durch eine immense Reichhaltigkeit aus, was die Aufarbeitung des Normenmaterials betrifft. Wer sich in Zukunft mit der Geschichte der Handelsgerichtsbarkeit befasst und wissen will, wo, wann, welches Recht mit welchen Inhalten galt, für den wird das Buch das maßgebliche Referenzwerk sein. Im Hinblick auf die Frage nach den Gründen und Kontexten von Rechtsentwicklungen bleibt die Arbeit etliche Antworten schuldig, die gar nicht so weit über den Rahmen von Vogls Untersuchungsprogramm hinausgehen. Denn auch die Frage nach dem Einfluss des französischen Rechts stellt sich ja als Frage nach dem Warum. Natürlich war Frankreich – aufgrund seiner politischen Dominanz Anfang des 19. Jahrhunderts und aufgrund seines Kodifikationsvorsprungs – das omnipräsente Modell. Die weitere Entwicklung in Deutschland war aber stark beeinflusst durch rechtspolitische Grundstimmungen (auf die Vogl nur auf wenigen Seiten, nämlich in Teil 4.A., eingeht), durch das Verhältnis von Prozessrecht und materiellem (kodifiziertem und Gewohnheits-)Recht und durch das Vorhandensein – jedenfalls ansatzweiser – funktionaler Äquivalente in Form von Handelsschiedsgerichten.5 Als Fazit kann also festgehalten werden: eine Arbeit, die sich durch Selbstbeschränkung in die Lage versetzt, wichtige Fragen umfassend und seriös zu beantworten, aber noch viel Raum lässt für grundfragenorientierte und kontextbezogene Forschung.
* Thomas Vogl, Der Einfluss des französischen Rechts auf die Entwicklung der Handelsgerichtsbarkeit in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin: Duncker & Humblot 2021, 311 S., ISBN 987-3-428-18128-5
1 Werner Schubert, Die deutsche Gerichtsverfassung (1869–1877), Frankfurt am Main 1981.
2 In einem weiteren Sinne zum Themenfeld gehört noch, allerdings ohne Bezug zur territorialstaatlichen Handelsgerichtsbarkeit, Sabine Winkler, Das Bundes- und spätere Reichsoberhandelsgericht, Paderborn 2001.
3 Dorothea Schön, Die Handelsgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Rheinlands, Bonn 1999.
4 Sebastian Jacob, Handelsgerichtsbarkeit. Zur Entstehung des Fachrichtertums zwischen Laienexpertise, Verfahrensförmlichkeit und staatlichem Verfahrensmonopol und ihr Einfluss auf die moderne KfH, Baden-Baden 2021.
5 Siehe dazu Jens Gal, Die Renaissance der (Handels-)Schiedsgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert als Ausdruck regulierter Selbstregulierung?, in: Peter Collin (Hg.), Justice without the State within the State. Judicial Self-Regulation in the Past and Present, Frankfurt am Main 2016, 157–184, 166f.