Regionale Konflikte, globales Völkerrecht*

[Regional Conflicts, Global International Law]

Miloš Vec Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Universität Wien milos.vec@univie.ac.at

Adamantios Theodor Skordos’ Buch verfolgt eine plausible These anhand eines konkreten historischen Beispiels. Die These lautet: Institutionen des modernen, globalen Völkerrechts haben regionale Ursprünge. Sie sind aus spezifischen Konfliktkonstellationen entstanden, in denen begünstigende Faktoren normerzeugende Wirkung entfaltet haben, und Südosteuropa hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Das Buch von Skordos ist eine Leipziger Habilitation, die am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) entstand. Die südosteuropäische Prägung des modernen Völkerrechts führt Skordos anhand von fünf Beispielen aus den vergangenen 200 Jahren vor Augen. Sie verteilen sich relativ gleichmäßig über die Zeit und werden in ähnlich umfangreichen Kapiteln behandelt, was eine darstellerische Ausgewogenheit verleiht. Keines der Beispiele ist für sich völlig neu oder der Forschung unbekannt, aber Skordos verknüpft sie auf interessante und methodisch transparente Weise zu einem überzeugenden Gesamtbild. Schon Marie-Janine Calic hatte 2016 den Balkan »als Laboratorium [für] neue Instrumente der Diplomatie und des Völkerrechts sowie der Krisenbewältigung« bezeichnet (Skordos, 478), und das belegt Skordos jetzt exemplarisch in seiner Habilitation.

Er verzichtet klugerweise auf Komparative und Superlative, wo er die Bedeutung des südosteuropäischen Konfliktgeschehens für das Völkerrecht behauptet. Damit spricht er anderen Geschichtsregionen weder ab, dass sie auch einen Beitrag geleistet haben, noch insinuiert er, dass deren Beitrag geringer gewesen sein könnte. Jedenfalls im Moment fehlen noch entsprechend angelegte Studien zu anderen Weltregionen, die solche Vergleiche überhaupt erst ermöglichen würden. Dass Südosteuropa eine »große Bedeutung« (18) gehabt hat, tritt umso klarer und überzeugender in allen fünf Beispielen hervor. Ausgangspunkt und zugrundeliegende These ist, dass diese Region ein besonderes Konfliktpotenzial birgt. Skordos benennt im Rückgriff und in der Zusammenfassung von anderen Studien gewaltbegünstigende Faktoren (24). Denn Staatsgründungen, Nationswerdungen und Formen des sozialen Wandels seien hier in spezifischer Weise erfolgt, nämlich durch Abspaltung von Großreichen. Daher habe sich »eine neue Logik von Massengewalt erstmals in den ›imperialen Bruchzonen‹ […] Südosteuropas durchgesetzt« (25). Im Buch wird immer wieder auf die ethnonationale Gewalt unter Beteiligung irregulärer Krieger verwiesen (34, 465, 468, 479). Revolutionäre Nationalbewegungen – ursprünglich von sehr kleinen Eliten getragen – hätten immer wieder Expansionspläne formuliert, die sich auf Gebiete richteten, die eigentlich ethnisch vielfältig besiedelt waren. Dieser »irredentistische Expansionsnationalismus« ist ein Schlüssel zum Verständnis der Aggressionspolitik (365).

Seine fünf Fallbeispiele beginnen historisch mit der Reaktion der europäischen Staaten auf die »Orientalische Frage« im frühen 19. Jahrhundert. Dort erfolgte militärisches Eingreifen im Namen der Humanität, erstmals kurz nach dem Wiener Kongress, und die Völkerrechtswissenschaftler der Zeit verliehen diesem Vorgehen juristische Legitimität. Leider berücksichtigt Skordos nicht die wichtige, 2019 erschienene Studie von Fabian Klose, die sich mit der Geschichte humanitärer Interventionen im 19. Jahrhundert eingehend auseinandersetzte und dabei auch auf die imperialistischen Motive der Großmächte hinwies.1 Ein Einwand gegen die Darstellung aus Sicht der Wissenschaftsgeschichte des Völkerrechts wäre, dass Skordos in diesem Teil ältere, aus Sicht des Rezensenten klischeehafte Annahmen über die Verdrängung des Naturrechts durch Rechtspositivismus im Völkerrecht fortschreibt (137, 481). Sie sind gerade im Feld der humanitären Intervention fragwürdig, |weil diese Interventionen eben nicht auf Verträge und geltendes Gewohnheitsrecht gestützt wurden. Stattdessen argumentierten die Völkerrechtler des späten 19. Jahrhunderts gerade auf diesem Gebiet mit Topoi wie »Natur der Sache«, »Naturrecht«, »allgemeinen Vernunftgründen« oder Ähnlichem. Gerade darin zeigt sich, dass das Völkerrecht hier noch im Werden begriffen war und (verkleidete) Zweckmäßigkeitserwägungen Lücken schlossen.

In jedem Fall aber ist Skordos zuzustimmen, dass das 1815 auf dem Wiener Kongress von den Großmächten eigentlich zugunsten des monarchischen Prinzips verabredete Interventionsrecht im Verlauf des Jahrhunderts zunehmend eine neue humanitäre Stoßrichtung bekommt, und der griechische Aufstand von 1822 bildete den Auftakt dazu. Ein wichtiger Baustein dafür war die Wahrnehmung der dort stattfindenden Kriegsgewalt insbesondere der Osmanen als ausgesprochen grausam, geradezu »barbarisch« und regulierungsbedürftig (60). Dem schließen sich weitere Ausführungen von Skordos zu Fortbildungen des Völkerrechts (Seerecht, Neutralitätsrecht, Erweiterung der christlich-europäischen Völkerrechtsgemeinschaft) im Kontext des Pariser Friedensvertrags von 1856 an, die gleichfalls im Zeichen der Orientalischen Frage stehen. Schließlich geht es vor allem ab dem vierten und letzten russisch-türkischen Krieg des 19. Jahrhunderts noch ein weiteres Mal um Einschränkungen der Souveränität durch Rechte der internationalen Staatengemeinschaft. Mit diesen sollten Minderheitenrechte geschützt werden, indem nämlich Auflagen für die Anerkennung von neuen Staaten gemacht wurden und erneut ein Interventionsrecht begründet wurde (123).

Im zweiten, dritten und vierten Kapitel steht die Zwischenkriegszeit im Mittelpunkt; statt Völkerrechtswissenschaft analysiert Skordos im zweiten Kapitel zunächst Rechtsprechung, nämlich die Stellungnahmen des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag (PCIJ). Drei südosteuropäische Streitfälle wurden den Richtern vom Völkerbundrat zur Begutachtung vorgelegt und sie werden den internationalen Minderheitenschutz weiterentwickeln. Auch dieser Minderheitenschutz, der in allen Pariser Verträgen verankert war, hatte einen »markanten ostmittel- und südosteuropäischen Stempel« (168). Danach widmet sich Skordos im dritten Kapitel der Konvention von Lausanne. Sie wird 1923 zwischen Griechenland und der Türkei geschlossen und legitimiert im Nachhinein einen umfassenden gegenseitigen Bevölkerungsaustausch. Das Völkerrecht, das hier zwar nicht originär entsteht (es gab Vorgänger-Vereinbarungen), ist gleichwohl politisch besonders wirkmächtig. Spätere Legitimationen von Bevölkerungstransfer, Zwangsumsiedlung und Vertreibung finden in dem Vertrag von Lausanne ihr Vorbild (289). Interessanterweise sind diese späteren politisch-historischen Bezugnahmen ebenso selektiv wie inhaltlich falsch: Die gewaltvollen Aspekte dieser griechisch-türkischen Zwangsmigration werden entweder ausgeblendet oder mit einem höheren Gut gerechtfertigt, nämlich Frieden und Stabilität in der Region durch »Entmischung«. Schließlich behandelt das vierte Kapitel die Versuche der 1930er Jahre, einen internationalen Tatbestand des Terrorismus zu verankern, nationale Strafrechte zu vereinheitlichen und einen neuen Strafgerichtshof zu gründen. Anlass ist das Attentat auf den jugoslawischen König Aleksandar I. Karađorđević und den französischen Außenminister Louis Barthou in Marseille 1934. Zwar gelingt es nicht, hier eine völkerrechtliche Strafgerichtsbarkeit einzuführen, aber erneut ist das Wirken des Völkerrechts damit keineswegs vergeblich gewesen. Die erarbeiteten Konventionen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs von 1937 treten zwar nicht in Kraft. Der in ihnen verankerte Komplementaritätsgrundsatz bleibt aber Referenzpunkt künftiger Debatten des Völkerstrafrechts in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (333), und auch die Anti-Terrorismus-Konvention von 1937 wird in den 1990er Jahren wieder aufgegriffen (349). Das fünfte Kapitel analysiert ausgewählte Innovationen, die die postjugoslawischen Kriege seit den 1990er Jahren auslösen. Dazu gehört insbesondere die Einrichtung des ICTY (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia), seine Rechtsprechung sowie der Streit über die Anerkennung des Kosovo. Auch hier wird das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht maßgeblich fortgebildet – und übrigens ein Paradigmenwechsel vom Bevölkerungstransfer zugunsten eines Vertreibungsverbots vollzogen (462).

Skordos kann sich bei seiner Darstellung auf Einzelstudien aus verschiedenen Feldern und Disziplinen stützen, die er zusammenführt. Die kulturhistorische Studie ist lesbar und argumentiert ausgewogen, bezüglich der Völkerrechtsgeschichte lautet ein Leitnarrativ »Verrechtlichung« (482). Primärquellen wie Sekundärliteratur werden viel|fach herangezogen, wobei aus Sicht des Rezensenten in der konkreten Wortlaut-Analyse die Stimme des Verfassers durchaus deutlicher herausgehoben hätte werden können. So aber findet man auf zahlreichen Seiten lange Passagen zitiert, die nicht wirklich interpretiert werden. Auch die zeitgenössische Völkerrechtswissenschaft wird umfassend herangezogen und auch dabei gilt das Argument des Verfassers: Gerade Völkerrechtler aus der Region haben insbesondere in den Fallstudien 2 bis 4 eminent zur Normentstehung beigetragen, und die Liste der Namen ist lang und umfasst sowohl bekanntere als auch unbekanntere Gelehrte. An einer Stelle des Buches lautet die Aufzählung Dimitrij Ivanovič Kačenovski, Vladimir Bezobrazov, André N. Mandelstam und Fëdor Fëdorović Martens, Vaspasian Pella, Ludwik Ehrlich, Raphael Lemkin und Nikolaos Politis (57). Angemessenerweise zieht Skordos Primärquellen jenseits der sonst in der Völkerrechtsgeschichte dominierenden westeuropäischen Sprachen heran. Hier sind es beispielsweise auch Serben, Rumänen oder Griechen, die in den Fußnoten auftauchen. Ob sie wirklich und ausschließlich Mitglieder einer »transnationalen Gelehrtengesellschaft« (57) waren, scheint jedenfalls einseitig. Hat doch die Studie von Anthea Roberts gerade die nationalen Prägungen der Völkerrechtswissenschaft herausgearbeitet.2 – Übrigens fehlen von der Monarchie bis zur Republik viele wichtige zeitgenössische österreichische Völkerrechtler.

Notes

* Adamantios Theodor Skordos, Südosteuropa und das moderne Völkerrecht: Eine transregionale und globale Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Moderne europäische Geschichte 19), Göttingen: Wallstein 2021, 528 S.,ISBN 978-3-8353-3003-3

1 Fabian Klose, »In the Cause of Humanity«. Eine Geschichte der humanitären Intervention im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2019.

2 Anthea Roberts, Is International Law International?, Oxford 2017.