Weimarer Grenzüberschreitungen*

[Weimar Across Borders]

Christoph Schönberger Universität zu Köln Christoph.Schoenberger@uni-koeln.de

Der hundertste Geburtstag der Weimarer Reichsverfassung hat eine Fülle wissenschaftlicher Bilanzliteratur hervorgebracht. In diesen Zusammenhang gehört auch der vorliegende Sammelband, dessen Beiträge auf eine von den Herausgebern veranstaltete Tagung in Weimar im April 2019 zurückgehen. Für die deutschen Beiträger wird dabei zumeist das Konzept verfolgt, die Hauptbeiträge jüngeren Autorinnen und Autoren zu übertragen, die dann von älteren Wissenschaftlern kommentiert werden.

Mit »Weimar international« widmet sich der Band einer thematischen Nische, die in der Jubiläumsliteratur ansonsten nur vereinzelt eine Rolle gespielt hat.1 Ausweislich der Einleitung der Herausgeber verstehen diese die »internationale« Dimension der Weimarer Reichsverfassung in erster Linie als Analyse von Rezeptionsprozessen in zwei Richtungen: der Rezeption ausländischer Vorbilder in der Weimarer Reichsverfassung einerseits, der Rezeption der Weimarer Reichsverfassung im Ausland andererseits (3f.). Diesen Rezeptionsprozessen sind denn auch die meisten Beiträge des Bandes gewidmet.

Mit dieser Fokussierung auf Rezeptionsprozesse ist allerdings eine gewisse Beschränkung des Themenfelds verbunden. Vieles, was zur »internationalen« Dimension der Weimarer Reichsverfassung gehört, gerät auf diese Weise nur am Rande oder gar nicht in den Blick. Augenfällig ist das zunächst für den völkerrechtlichen Kontext der Weimarer Verfassungsschöpfung. Die Herausgeber heben zwar die Bedeutung des Versailler Vertrags für die Arbeit der Nationalversammlung hervor (6), diese wird im Band aber nicht näher behandelt. Ebenso wenig geht es dem Band in der großen Mehrheit seiner Beiträge darum, das Weimarer Verfassungswerk durch die vergleichende Analyse der zeitgenössischen Verfassungen und Verfassungsentwicklungen anderer europäischer Staaten besser zu verstehen.2 Denn die Analyse von Rezeptionsprozessen ist selbstverständlich nicht gleichbedeutend mit einer umfassenden vergleichenden Einordnung der deutschen Verfassungsgebung des Jahres 1919.

Glücklicherweise wird die Konzentration auf Rezeptionsvorgänge jedoch am Anfang des Bandes gleich zweimal durchbrochen. Dies geschieht zunächst durch den hervorragenden Überblicksbeitrag von Jana Osterkamp, der das Weimarer Verfassungswerk als Teil einer europäischen »Verfassungswelle« nach dem Ersten Weltkrieg versteht und durch den Kommentar von Rainer Wahl anregend ergänzt wird. Aus der Konkursmasse der zusammengebrochenen multinationalen Imperien Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Russ|land entstanden damals neue, unsichere Nationalstaaten mit heterogener Bevölkerung, die sich fortschrittliche demokratische Verfassungen gaben (etwa Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien, Finnland und die baltischen Staaten), deren Verfassungsentwicklung in der Zwischenkriegszeit aber nicht selten durch ein Schwanken zwischen den neu demokratisierten Parlamenten und einer Präsidialherrschaft mit autoritärer Entwicklungsmöglichkeit gekennzeichnet war. So sehr die Weimarer Republik insoweit eine Sonderstellung einnimmt, weil hier kein Staat neu gegründet wurde und die Nationalitätenkonflikte durch die Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland an Bedeutung verloren, so aufschlussreich ist es doch, ihren Weg gerade auch als Teil dieses mitteleuropäischen Krisenpanoramas in den Blick zu nehmen.

Ebenso aufschlussreich ist der vergleichende Blick auf die französische Dritte Republik, mit dem Mattias Wendel die Beiträge zu »Weimar im internationalen Kontext« eröffnet. Wendel behandelt allerdings nicht eigentlich die Rezeption französischer Verfassungsvorbilder durch Hugo Preuß und die Nationalversammlung. Er begnügt sich insoweit lediglich mit dem Hinweis, neben anderen ausländischen Traditionen fänden sich in der Weimarer Institutionenarchitektur »gleich mehrere Bausteine, die dem französischen Verfassungsrecht der damaligen Zeit entstammen« (64). Hier wäre es sinnvoll gewesen, etwas genauer auf diese – zeitgenössisch weitgehend uneingestandene – Rezeption einzugehen und dabei etwa näher herauszuarbeiten, dass Frankreich damals in Europa das einzige große republikanische Vorbild bildete, worauf Michael Stolleis in seinem Kommentar hinweist (78). Wendel bietet aber eine vergleichende Analyse der Grundstrukturen der französischen Dritten Republik im Kontrast zu denjenigen der Republik von Weimar. Er arbeitet dabei heraus, dass beide Systeme aus unterschiedlichen Gründen große Probleme mit der Regierungsstabilität hatten, und sich jeweils anders entwickelten, als im ursprünglichen Verfassungsgefüge angelegt: in Frankreich hin zur Schwächung des Staatspräsidenten und einer Vorherrschaft des Parlaments, in Deutschland umgekehrt hin zu einer Präsidialdiktatur in den letzten Jahren Weimars. Zutreffend arbeitet Wendel dabei heraus, dass die französische Verfassung in der Gründungsphase Weimars zumeist als abschreckendes Gegenbild fungierte, weil Hugo Preuß und die Nationalversammlung einen »Parlamentsabsolutismus« fürchteten. Eine bedeutsame Rolle spielte insoweit der elsässische Staatsrechtler Robert Redslob, der in einem 1918 erschienenen Buch über »Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und unechten Form« die Kritik der französischen Staatsrechtslehre der Dritten Republik am französischen »Parlamentsabsolutismus« in deutscher Sprache zusammenfasste und damit die deutsche Tendenz bestärkte, im Reichspräsidenten als »Ersatzkaiser« ein Gegengewicht gegen das Parlament zu suchen. Zu Recht weisen Wendel und Stolleis dabei darauf hin, dass das französische Gegenbild 1918/19 deshalb in dieser Weise wirksam werden konnte, weil es erlaubte, ältere deutsche Traditionslinien des Ideals einer überparteilich gedachten Exekutive und des Misstrauens gegen die Parlamente unter demokratischen Bedingungen zu erneuern (72, 78f., 81ff.).

In der Folge enthält der Band Einzelbeiträge zum Weimarer Bundesstaat (Almut Neumann mit Kommentar von Stefan Oeter), zu Gleichheitsrechten und sozialen Grundrechten (Anna Katharina Mangold mit Kommentar von Gerhard Lingelbach) und schließlich zum Weimarer Religionsverfassungsrecht (Ansgar Hense mit Kommentar von Wolfgang Huber). Die Beiträge zum Weimarer Bundesstaat arbeiten zutreffend die starken Kontinuitätslinien zum Bundesstaat des Kaiserreichs heraus, die trotz der grundlegenden Umstellung von einem monarchischen auf einen demokratischen Föderalismus erhalten blieben (Exekutivföderalismus, Reichsrat in der Nachfolge des Bundesrats, Problem eines hegemonialen Föderalismus durch die Größe Preußens). Einwirkungen ausländischer Vorbilder und insbesondere der traditionellen demokratischen Bundesstaaten USA und Schweiz gab es hingegen kaum. Neumann führt als einziges Beispiel die Homogenitätsklausel in Art. 17 WRV an, für die es Vorbilder im schweizerischen und US-amerikanischen Verfassungsrecht gab (89f.). Angesichts der Fortführung grundlegender Strukturen des deutschen Bundesstaates aus dem Kaiserreich und des gleichzeitigen massiven Unitarisierungsschubs nicht zuletzt in der Finanzverfassung lässt sich allerdings kaum Neumanns Aussage rechtfertigen, die Weimarer Neuregelungen hätten sich »in wichtigen Bereichen an internationalen Vorbildern, allen voran dem US-amerikanischen und dem schweizerischen Bundesstaat« orientiert (93). Die weitgehend ausgebliebene Rezeption verweist vielmehr umgekehrt darauf, dass dem Weimarer Bundesstaat eine |spezifisch föderative Legitimität gerade fehlte und Weimar insofern nicht nur, wie Stefan Oeter treffend-überspitzt formuliert, eine »Demokratie ohne Demokraten«, sondern erst recht ein Bundesstaat ohne Föderalisten war (118). In ihrem Beitrag über Gleichheitsrechte und soziale Grundrechte hebt Anna Katharina Mangold mit Recht hervor, dass die Einführung des Frauenwahlrechts in Weimar auf eine transnationale Frauenbewegung zurückging und die Einführung sozialer Grundrechte auch eine Reaktion auf die Herausforderung durch die bolschewistische Revolution in Rußland darstellte (119ff.). Der Kommentar von Gerhard Lingelbach geht dabei genauer auf die Debattenbeiträge von Frauen in der Nationalversammlung ein (137ff.). Ansgar Hense bietet einen souveränen Überblick über das Religionsverfassungsrecht der Weimarer Verfassung (147ff.). Er geht dabei auch auf rechtsvergleichende Aspekte ein und betont, dass in der Nationalversammlung immer wieder fragmentarisch Wissen über ausländische Regelungsmodelle Erwähnung fand und besonders die französische Trennungsgesetzgebung von 1905 nicht selten als Kontrastmodell fungierte.

Der letzte Teil des Bandes bietet Beiträge über die Rezeption des Weimarer Verfassungsrechts im Ausland. Carlos Miguel Herrera berichtet über die Bedeutung Weimars im französischen Rechtsdenken der Zwischenkriegszeit und zeigt dabei ein Maß der Auseinandersetzung, wie es sich zeitgenössisch wohl in keinem anderen Land fand (177ff.). Die französische Diskussion war dabei hin- und hergerissen zwischen dem tiefen Misstrauen gegenüber der jungen deutschen Demokratie, das in der außenpolitischen Rivalität wurzelte, und der Faszination für den verfassungstechnischen Modernisierungsschub, den die Weimarer Reichsverfassung im Vergleich mit dem traditionellen Verfassungsrecht der Dritten Republik bedeutete (Direktwahl des Staatsoberhaupts, Formen der direkten Demokratie, Frauenwahlrecht, Verhältniswahlrecht, soziale Grundrechte). Es sei angemerkt, dass diese Intensität der Auseinandersetzung an eine lange Tradition in der Staatsrechtslehre der Dritten Republik anknüpfen konnte, die sich nach der Kriegsniederlage 1870 in der Auseinandersetzung mit dem Staatsrecht des deutschen Kaiserreichs entwickelt hatte. Bedauerlicherweise weist Herrera nur nebenbei darauf hin, dass dieser deutsch-französische Diskursraum noch bis hinein in die Vorgeschichte der Vierten und Fünften Republik reicht (198), und geht diesen Nachwirkungen der Weimarer Verfassung in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht näher nach.

Der Beitrag von Jens Meierhenrich zur Bedeutung der Weimarer Verfassung in der angloamerikanischen Welt beschäftigt sich nicht eigentlich mit der Rezeption der Weimarer Verfassung, sondern mit dem historischen Bild der Weimarer Republik in der angloamerikanischen Welt (199ff.). Er zeigt insoweit – in verspäteter Parallele zur Entwicklung in der Geschichts- und Rechtswissenschaft der Bundesrepublik – eine Entwicklung auf, in der das frühe Bild einer missglückten Verfassung zunehmend abgelöst wurde durch das Bild einer in vielerlei Hinsicht innovativen Verfassung in ungünstiger Zeit.

Der Beitrag von Piotr Czarny über die Rezeption Weimars in Polen (221ff.) stellt am polnischen Beispiel einen Aspekt der Rezeption der Weimarer Reichsverfassung im Ausland heraus, der in Deutschland heute nur ungern gesehen und behandelt wird: nämlich das Vorbild der Stellung des Reichspräsidenten für Länder, die in der Zwischenkriegszeit zu einer Stärkung der Exekutive gegenüber dem Parlament oder sogar autoritären Verfassungen übergehen wollten, wie es etwa auch in Österreich Ende der 1920er Jahre der Fall war. Für Polen zeigt Czarny dabei, dass dort zunächst das Vorbild der französischen Dritten Republik prägend war, man aber im Verlauf der 1920er Jahre zunehmend auf eine Stärkung der Rolle des Staatspräsidenten setzte und sich dabei von der Weimarer Verfassung inspirieren ließ. Der Beitrag weist so‍‍‍ auf ein unbequemes Desiderat der‍‍‍ Forschung zur Rezeption Weimars hin: die Vorbildfunktion Weimars für Verfassungsreformen mit dem Ziel, die Exekutive gegenüber dem Parlament zu stärken. In diesen Zusammenhang würde auch die nähere Untersuchung der Bedeutung Weimars für die Verfassung der französischen Fünften Republik gehören.

Etwas quer zu den sonstigen Beiträgen des Bandes liegt der faszinierende Beitrag von Eli M. Salzberger über die Bedeutung der Weimarer Rechtskultur in Israel (232ff.). Offenkundig geht es insoweit nicht um eine Rezeption Weimars durch den Verfassungsgeber, fehlt es doch in Israel bis heute an einem zusammenfassenden Verfassungstext. Man arbeitet vielmehr mit einer Vielzahl von sogenannten basic laws, die seit 1958 schrittweise verabschiedet wurden. Salzberger geht es vielmehr um die Analyse des Einflusses, den in Deutschland geborene und in der Weimarer Zeit |ausgebildete Juristen auf die israelische Rechtsentwicklung der ersten Jahrzehnte ausübten, insbesondere als Richter des israelischen Supreme Court. Salzberger konstatiert dabei eine aufgeklärt-rechtsstaatliche und gemäßigt positivistische Grundhaltung dieser Juristen, die sie in die Rechtsprechung hineintrugen. Prägend war dabei nach seiner Rekonstruktion allerdings weniger die Weimarer Verfassung als die deutsche juristische Sozialisation der entsprechenden Personen in der Weimarer Republik, die wache Auseinandersetzung mit den Gründen für den Untergang Weimars und die Offenheit dafür, die in Auseinandersetzung mit Weimar entstandene Konzeption der »streitbaren Demokratie« für die israelische Situation zu aktivieren.

Insgesamt bereichert der vorliegende Band die gelegentlich etwas sehr deutsch-introvertierte Diskussion über die Weimarer Reichsverfassung durch vielfältige Beiträge zu deren internationalem Kontext. Auf vielstimmige Weise erweitert sich so das Bild der Weimarer Verfassung, was weitere Forschungen zu deren internationaler Dimension anregen kann. Gerade die Verortung im internationalen Umfeld lässt die Weimarer Verfassung als eine wesentliche Etappe auf dem Weg zur Etablierung demokratischer Verfassungsstaaten hervortreten. Diese vergleichende Einordnung macht in besonderer Weise deutlich, dass der demokratische Verfassungsstaat nie zum selbstverständlichen Besitz werden kann, sondern in jedem Gemeinwesen und in jeder Epoche immer neu gewonnen werden muss.

Notes

* Thomas Kleinlein, Christoph Ohler (Hg.), Weimar international. Kontext und Rezeption der Verfassung von 1919, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, VIII + 269 S., ISBN 978-3-16-158877-8

1 Siehe aber: Ewald Wiederin, Die Weimarer Reichsverfassung im internationalen Kontext, in: Horst Dreier, Christian Waldhoff (Hg.), Das Wagnis der Demokratie: Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München 2018, 45–64; Christoph Schönberger, Zwischen Versailler Vertrag und europäischer Verfassungswelle: Die Weimarer Verfassung im internationalen Kontext, in: Horst Dreier, Christian Waldhoff (Hg.), Weimars Verfassung. Eine Bilanz nach 100 Jahren, Göttingen 2020, 75–86, sowie die Beiträge zu »Translating Weimar« in: Rg 27 (2019) 175–230.

2 Dazu aber bereits Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008.