Hero auf dem Felsenturme…*

[Hero on the Rocky Towers…]

Reinhard Zimmermann Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg r.zimmermann@mpipriv.de

I. Fritz Schulz, Fritz Pringsheim, Paul Koschaker, Franz Wieacker und Helmut Coing gehören zu den großen Rechtshistorikern des 20. Jahrhunderts. Sie stehen im Mittelpunkt des hier zu besprechenden Buches. Wer, wie der Verfasser dieser Besprechung, von den meisten von ihnen in seiner Arbeit nachhaltig inspiriert worden ist,1 wird das Buch mit gespannter Aufmerksamkeit zur Hand nehmen, zumal es sich um den Schlussstein eines jahrelangen, durch einen ERC Grant geförderten Forschungsprojekts handelt (»the final end point of a long and happy journey«, wie der Autor etwas tautologisch schreibt, xii), das seinerseits die Keimzelle eines Academy of Finland Centre of Excellence war.2 Im Untertitel des Buches werden zudem eine Reihe von Themen aufgerufen, die von erheblichem zeitgeschichtlichen Interesse sind, aber auch bereits die ersten Fragen aufwerfen: Koschaker, Wieacker und Coing als »Exile Scholars«? Schulz und Pringsheim als Protagonisten eines Kampfes um die Zukunft Europas? Rätselhaft auch der Haupttitel des Buches (Wie passt er zu den verschiedenen Elementen des Untertitels? Welches »Reich des Rechts« ist gemeint?), und |ebenso rätselhaft das Titelbild »Hero« des viktorianischen Historienmalers (Sir) Lawrence Alma-Tadema (über den es im Art History Archive heißt, seine Bilder seien »without deep-meaning or significance, essentially his work was decorative«): »Hero« hier übrigens nicht im Sinne des Wortes »Held«, sondern als Priesterin der Aphrodite, die am westlichen Ufer des Hellespont auf ihren den Fluten entsteigenden Liebhaber Leander wartet.

II. Gegliedert ist das Buch in sieben Abschnitte; außer einer Einführung und den Schlussfolgerungen sind dies fünf Abschnitte, in deren Mittelpunkt jeweils einer der eingangs erwähnten Rechtshistoriker steht.

In Abschnitt 2 ist dies Fritz Schulz (1879–1957). Freilich geht es nicht um das Oeuvre von Schulz insgesamt, sondern um eine Vortragsreihe aus dem Sommersemester 1933 (also fast unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme), die im darauffolgenden Jahr unter dem Titel »Prinzipien des römischen Rechts« als Buch erschien. Dabei handelte es sich um »a counter-attack against the move of the Nazi party to cut back the study of Roman law, which was considered an ›un-German‹ subject«.3 Tuori befasst sich zunächst mit ein paar anderen der politisch relevanten Prinzipien (Isolierung, Tradition, Nation, Humanität, Treue und Sicherheit), bevor er dann schwerpunktmäßig auf das Freiheitsprinzip zu sprechen kommt. Dieses sieht er in engem Zusammenhang mit, ja in Abhängigkeit von, dem Autoritätsprinzip. In merkwürdiger Weise, so Tuori, biete Schulz hier eine konservative Verteidigung der liberalen Tradition. Schulz habe sich einerseits auf den klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts gestützt und andererseits auf Jherings »Geist des römischen Rechts«. Tuori berichtet dann die Geschichte von Schulz’ Emigration nach England und von der Übersetzung seiner »Prinzipien« ins Englische (»Principles of Roman Law«, 1936), bevor er unter der Überschrift »Exiles and Scholarly Change« auf die »transformative« Wirkung der Erfahrung des Exils auf die vertriebenen Gelehrten zu sprechen kommt. Im Falle von Schulz konstatiert er einen Wandel »from purely technical or discipline-internal debates to political argumentation« (83) (an anderer Stelle ist von »both covert and open political themes« die Rede, 75). Zum Vergleich zieht Tuori die Wirkung des Exils auf das Werk anderer Gelehrter heran, darunter Hannah Arendt, Franz Neumann, Ernst Levy und Arnaldo Momigliano.

Im dritten Abschnitt wird der Blick auf Fritz Pringsheim (1882–1967) gerichtet, wiederum aber vor allem auf eine Arbeit, den Aufsatz »Legal Policy and the Reforms of Hadrian« (JRS 24 (1934) 141–153); er beruht auf einem Vortrag in Cambridge vom Oktober 1933. Tuori schildert die akademische Marginalisierung von Pringsheim in Freiburg und seinen Weg ins Oxforder Exil, macht seine Leser dann mit dem Inhalt des erwähnten Aufsatzes vertraut (einer »Idealisierung« von Kaiser Hadrian (88) und seiner kosmopolitischen Reichsidee als – unausgesprochenem – »counterpoint to the emerging totalitarian state«, 103), und kontextualisiert diesen Aufsatz dann biographisch und ideengeschichtlich. Auch in Pringsheim sieht Tuori einen Römischrechtler, der sich zunächst hauptsächlich mit technisch-juristischen Fragen beschäftigt habe, der nun aber, unter der Erfahrung der Entfremdung, die historische Tradition in den Dienst gegenwärtiger Zwecke stellte. Von zentraler Bedeutung seien dabei für Pringsheim, wie für Kaiser Hadrian, die Ideen der Gleichheit und der‍‍‍ Rechtsstaatlichkeit gewesen. Wiederum vergleicht Tuori die Erfahrungen von Pringsheim mit denen anderer emigrierter Gelehrter, darunter F. A. Hayek, Leo Strauss, Ernst Kantorowicz, Ernst Fraenkel und nochmals Franz Neumann.

Abschnitt 4 behandelt die von vielen Zeitgenossen empfundene Krise des römischen Rechts in |den 1930er Jahren und die einflussreichste Antwort darauf. Diese stammte von dem Keilschriftrechtler Paul Koschaker (1879–1951), und sie habe, so Tuori, die Diskussion auf ein europäisches Narrativ orientiert. Im Zentrum dieses Abschnitts steht damit zum einen die während der Nazizeit publizierte Schrift »Die Krise des römischen Rechts und der romanistischen Rechtswissenschaft« (erschienen 1938 in den Schriften der Akademie für Deutsches Recht) und zum anderen das bald nach deren Ende publizierte Buch »Europa und das römische Recht« (1947, 4. Aufl.1966). Tuori sieht Koschakers »main claim to fame« (126) in seinem außerordentlich wachen Gespür für den jeweils richtigen Zeitpunkt für zwei Publikationen, mit denen er das Problem des Selbstverständnisses seiner Disziplin vor dem Hintergrund sich wandelnder Verhältnisse behandelte. Dabei habe sich seine Vision von der Bedeutung des römischen Rechts und dessen europäischer Tradition von 1938 bis 1947 im Grunde kaum geändert. Zur Kontextualisierung dienen, was die Krisenschrift betrifft, vor allem die Ideen von Koschakers italienischem Freund Salvatore Riccobono sowie seinem faschistischen Kollegen (und zeitweiligem Justizminister Mussolinis) Pietro de Francisci. Interessant ist die »Obsession« des faschistischen Italien mit dem antiken Rom, die in einem gewissen Gegensatz zur Animosität der Nationalsozialisten zu der bedeutendsten Emanation des antiken Rom, dem römischen Recht, stand. Als wichtigstes Vermächtnis von Koschaker bezeichnet Tuori dessen »cultural theory of European legal tradition« (167). Auch die Nationalsozialisten hätten aber mit der Eroberung weiter Teile Europas im Zweiten Weltkrieg ein neues Verhältnis zur Tradition des Heiligen Römischen Reichs und zur europäischen Dimension einer (nunmehr allerdings germanisch oder nordisch geprägten) Reichsidee gewonnen. (Tuori spricht von einem »Nazi enthusiasm for Europe« (155), dessen Wurzeln in der SS gelegen hätten.)

Nach dem Ende des Krieges galt es die europäische Rechtstradition »neu zu gestalten« (»reconfiguring European legal tradition«), wie es in der Überschrift zum fünften Abschnitt heißt. Der hauptsächliche Neugestalter in den Augen von Tuori (vielleicht ließe sich aber auch von einem »Gründer und Bewahrer«4 sprechen) war Franz Wieacker (1908–1994) und zwar mit seiner »Privatrechtsgeschichte der Neuzeit« (1952, 2. und bis heute maßgebliche Aufl. 1967). Diese Meistererzählung, die den geistigen Horizont von Generationen historisch interessierter Jurastudenten geprägt hat, steht im Mittelpunkt dieses fünften Abschnitts. Zu den Fragen, die Tuori besonders interessieren, gehört, inwieweit Wieacker Koschakers Europabild popularisiert hat und inwiefern er sich von diesem abgesetzt habe (das sei insbesondere im Hinblick auf die Interpretation der Zeit von 1880–1930 der Fall gewesen). Vor allem aber fragt Tuori nach Kontinuitäten im Denken Wieackers vor und nach 1945. Dazu schildert er dessen Karriere als eines »young lion of Nazi legal academia« (173) und weist auf Wurzeln des europäischen Narrativs in der Nazizeit hin. Es geht dabei zum einen um das bei der Reform des Studienplans von 1935 neu geschaffene Fach der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, für das Wieacker das einflussreichste Lehrbuch schuf, und zum anderen wiederum um den schon im Koschaker-Abschnitt erwähnten »strong push towards Europeanism« (217) der Nationalsozialisten. Andere Themen, die zur Sprache kommen, sind die Entnazifizierung nach dem Krieg (von Wieacker und von »Mitläufern« allgemein), die Idee deutscher Dominanz in der geistigen Entwicklung Europas, die in Wieackers Buch zum Ausdruck komme, Verwissenschaftlichung und Rationalisierung als prägende Elemente der Privatrechtsgeschichte, die Vorstellung einer organischen Entwicklung, und die intellektuelle Verbindung von Wieacker mit Emilio Betti und Hans-Georg Gadamer.

Fortgeführt wurde das europäische Narrativ dann, das ist Gegenstand des sechsten Abschnitts, durch Helmut Coing (1912–2000). Leitmotive sind hier die Naturrechtsrenaissance der unmittelbaren Nachkriegszeit (zu der Coing vor allem durch sein Buch »Die obersten Grundsätze des Rechts: ein Versuch zur Neugründung des Naturrechts«, 1947, beitrug), die Ideen der Freiheit und des subjektiven Rechts, die in der europäischen Tradition angelegt gewesen seien, und die Vorstellung eines Rückgriffs auf die Tradition als zen|tralen Bestandteils einer europäischen Zukunft. Kontextualisierend wird auf den europäischen und globalen Menschenrechtsdiskurs hingewiesen sowie wiederum auf das Werk von Franz Neumann und Leo Strauss. Gewirkt habe Coing durch die Gründung des Frankfurter Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte vor allem als Administrator. Ein natürlicher Champion für eine auf Rechten gegründete europäische Tradition sei Coing angesichts seiner Herkunft und seiner Aktivitäten vor 1945 nicht gewesen. »His career«, schreibt Tuori gegen Ende der Einleitung des sechsten Abschnitts etwas enigmatisch, »may be defined as one of an opportunist but behind the façade it is evident that the Nazi years had taken their toll«.5

III. Insgesamt werden damit über die fünf Abschnitte hinweg fesselnde Themen angesprochen, einflussreiche Akteure vorgestellt, und auch vielfältige Werturteile abgegeben, über die sich streiten lässt. Doch lässt sich all das unter eine übergreifende Themenstellung fassen? Die europäische Rechtsvereinheitlichung, so die dem Buch vorangestellte Kurzzusammenfassung, werde häufig mit Bezug auf die inhärente Einheitlichkeit der europäischen Rechtstradition gerechtfertigt, die auf das antike Rom zurückreiche. Untersucht werden solle die »Erfindung dieser Tradition«, die auf eine Reihe von Gelehrten zurückgeführt werden könne, die durch den Terror und Totalitarismus des Naziregimes »getrennt« waren. Als nach England und in die USA Vertriebene hätten sie versucht, Brücken zwischen der kontinentalen und der anglo-amerikanischen Tradition zu bauen und dabei Ideen wie die Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Gleichheit in das europäische Erbe zu integrieren. Andere hätten sich der Nazi-Revolution angeschlossen, die ihre eigene Vision europäischer Einheit propagiert habe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges seien das Naturrecht und die Menschenrechte in das europäische Projekt eingefügt worden. Das sich daraus ergebende Narrativ sei in der Folge ein vereinheitlichender Faktor im Kalten Krieg gewesen: als Selbstdefinition gegen die Herausforderung des Kommunismus.

Im ersten Abschnitt des Buches (»Introduction«) wird das auf knapp 40 Seiten näher ausgeführt. Dabei tritt eine Reihe von Widersprüchen zutage. Zu der ersten dieser beiden Gruppen von‍‍‍ Gelehrten (also den Vertriebenen und Ausgestoßenen – »exiles and outcasts«) werden zunächst (4) Schulz, Pringsheim und Koschaker gerechnet, zur zweiten (also den Kollaborateuren und Mitläufern – »collaborators and bystanders«) Wieacker und Coing. Kaum zwei Seiten weiter (5) wird Koschaker aber mit Wieacker und Coing als »active participant in the Nazi regime in academia« bezeichnet. Dieser Widerspruch hängt zusammen mit einem unklaren Begriff des Exils. Er wird auch in den Abschnitten des Buches über Schulz und Pringsheim deutlich. Einerseits wird mehrfach auf die »transformative« Macht des Exils verwiesen und darauf, dass die Protagonisten der Idee einer europäischen Rechtstradition sich in einer fremden Kultur zurechtfinden mussten (»it was crucial for the development of the idea of a European legal heritage that the main figures were exiles who were immersed in a foreign culture«, 5; vgl. auch etwa 72 oder das Adorno-Zitat auf 263). In der Tat schreibt Fritz Schulz selbst in seinem berührenden »Meine liebe Helga«-Brief vom 27.08.1946,6 dass er »in Deutschland niemals zu dieser Reife gediehen [wäre] wie hier im freien England«. Doch zum einen war Fritz Schulz kein Protagonist der Idee einer europäischen Rechtstradition, und Fritz Pringsheim war es ebenfalls nicht. Zum anderen stammen die im Zentrum der Aufmerksamkeit von Tuori stehenden Texte von Schulz und Pringsheim aus dem Jahre 1933; sie wurden also verfasst viele Jahre bevor beide nach England gingen (1939); Pringsheim war damals noch in Freiburg in Amt und Würden. Exil könnte insofern also nur »inneres Exil« bedeuten, eine Abkehr von den nunmehr herrschenden politischen Verhältnissen (vgl. etwa 23, 31), und allenfalls in diesem Sinne könnte also auch Koschaker zu den »exiles und |outcasts« gerechnet werden – auch wenn die Verwendung dieser Bezeichnung für ein Mitglied der Akademie für Deutsches Recht7 nicht ganz leicht fällt. (Auf einer Karte der »migration routes of some emigré scholars 1933–1960«, die dem ersten Abschnitt des Buches beigegeben ist (21), wird sogar die zeitweise Übersiedlung von Koschaker als hochverehrter Gastprofessor nach Ankara drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufgeführt.) Nicht nur sind Schulz und Pringsheim also keine Beispiele für die These, dass die Entwicklung der Europa-Idee durch die Immersion in eine fremde Kultur zu erklären sei, die führenden Vertreter dieser Idee (Koschaker, Wieacker, Coing) widerlegen sie geradezu.

Doch nicht nur die Einführung, auch die anderen Abschnitte des Buches sind von steilen Thesen und Ungenauigkeiten durchzogen, die gerade auch den interessierten und positiv disponierten Leser immer wieder irritiert zurücklassen. Das beginnt bereits damit, dass Tuori das Bild der europäischen Rechtstradition, das Koschaker, Wieacker und Coing entworfen haben, als eine »Erfindung« betrachtet (»an invented tradition«, 19): als eine politische Botschaft mehr als alles andere. Es bestehe heute Konsens darüber, dass es eine derartige einheitliche Tradition nicht gegeben habe (221).8 Wirklich? Alles nur Einbildung oder Fiktion, was Coing in seinen beiden Bänden eines Europäischen Privatrechts unter dem Begriff des »Gemeinen Rechts« darstellt?9 Dieses Werk, das sich mit den Rechtsinstitutionen statt lediglich mit dem (äußeren) Ablauf der Rechtsgeschichte befasst, ist ein besonders wichtiger Beitrag zur Vergegenwärtigung der Tradition, die Tuori kritisch analysiert, wird von ihm aber überhaupt nicht erwähnt. Übrigens schreibt Tuori an einer Stelle ausdrücklich, es gehe ihm nicht um den Nachweis, die »common past theory« sei falsch (7), bezeichnet es dann aber nur ein paar Seiten weiter als Ziel seiner Untersuchung, »to question the utility and accuracy of the common past theory« (13).

Was die transformative Kraft des Exils betrifft, so diagnostiziert Tuori, wie erwähnt, bei Schulz einen Wandel von einem rechtstechnisch orientierten zu einem an politischen Themen interessierten Autor. »Classical Roman Law« (1951), die Studien über Bracton (1943–1946), auch die »History of Roman Legal Science« (1946) politische Bücher? Tuori erwähnt nur das zuletzt genannte Werk und sieht hinter der historischen Fassade »a message and an agenda« (70). Die Freiheit der Rechtswissenschaft und die Trennung von Recht und Politik nennt Tuori in diesem Zusammenhang, fügt aber selbst hinzu, dass das Themen sind, die Schulz mit der Tradition des 19. Jahrhunderts verbinden. Wenn die »History of Roman Legal Science« ein politisches Buch mit einer für die Gegenwart relevanten Botschaft sein soll, dann trifft dies auf alle Bücher zu, die sich mit der Geschichte der Rechtwissenschaft im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext ihrer Zeit befassen.10 Und wie lag es bei Pringsheim? Sein von Tuori herausgestellter »turn« von 1933/34 (88) war allenfalls ephemer; er bestand in einem oder allenfalls zwei Aufsätzen.11 Danach kam z.B. die Beschäftigung mit den Basiliken, und es kam vor allem »The Greek Law of Sale« (1950). Das sieht auch Tuori, der es einigermaßen unerwartet findet, dass Pringsheim während seiner Zeit in Oxford »conspicuously free« war von allen zeitgenössischen Implikationen (117). Was sagt uns das also über die Erfahrung des Exils auf die Produktion von Rechtshistorikern?

Tuori hält es für eine unbequeme Wahrheit, dass Gelehrte, wenn sie einmal irgendwo Wurzeln geschlagen haben, jahrzehntelang an denselben Themen zu arbeiten fortfahren, mit denen sie ihre Karriere begonnen haben (173). Das ist eine von |vielen allgemeinen Aussagen, mit denen der Leser wenig anfangen kann. Schulz hat sich am Anfang seiner Karriere mit klassischem römischen Recht und mit deutscher Rechtsdogmatik befasst; am Ende schrieb er, unter anderem, eine Wissenschaftsgeschichte des römischen Rechts und arbeitete über Bracton. Er wechselte im Übrigen bemerkenswert häufig die Universitäten (Innsbruck, Kiel, Göttingen, Bonn, Berlin, dann Vertreibung aus Deutschland). Paul Koschaker, dessen Karriere unmittelbar vor der erwähnten Aussage über die Stabilität der typischen deutschen Karrieren behandelt wird, lebte und unterrichtete in Prag, Frankfurt, Leipzig, Berlin und Tübingen. Er war ein bedeutender Keilschriftrechtler, publizierte aber vier Jahre vor seinem Tod sein berühmtes Europa-Buch. Nur Coings Karriere war durch eine stabilitas loci geprägt; doch auch er beschäftigte sich in seiner Karriere nicht nur mit der Rezeption des römischen Rechts in Frankfurt und Europa, sondern mit einer Vielzahl weiterer Themen; so schrieb er eine Monographie über die Treuhand, überarbeitete ein Lehrbuch zum Erbrecht und verfasste ein Buch mit dem Titel »Grundzüge der Rechtsphilosophie«. In seinem Lebensbericht legt er selbst einen Schwerpunkt auf sein zivilrechtliches Werk.12 Was soll also die erwähnte allgemeine Aussage und wie wird sie plausibilisiert? – Zu den besonders unglaubwürdigen Thesen des Buches gehört auch die, dass Wieacker von der im Zweiten Weltkrieg plötzlich ausbrechenden Europabegeisterung der SS beeinflusst worden sei. Auch dass der Fokus einer Reihe von Kapiteln der »Privatrechtsgeschichte der Neuzeit« auf Deutschland liegt, ist weder erstaunlich noch kritikwürdig bei einem Buch, das schon im Untertitel den Vermerk trägt »unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung«. Insbesondere folgt daraus nicht, dass Wieackers Geschichtsbild von einer Teleologie des deutschen Rechtserbes (208) geprägt gewesen sei. Zudem: Was ist überhaupt das deutsche Rechtserbe (»German legal heritage«), und worin bestünde dessen »Teleologie«?

Auch im Detail ist manches schief oder geradezu falsch. Ernst Rabel ist nicht nach Großbritannien emigriert und Franz Haymann war alles andere als »influential […] in Britain« (beide Feststellungen auf 4). Mario Bretone würde sich vermutlich wundern, sich in eine Reihe von Autoren gestellt zu sehen (19), die das hohe Lied der gemeinsamen europäischen Rechtstradition singen.13 Wolfgang Kunkel kommt in dem Buch an genau einer Stelle vor. Es heißt dort, er sei in die SS eingetreten, habe aber immer treu zu seinem Lehrer Ernst Levy gehalten (79). Für die SS-Mitgliedschaft von Kunkel bringt Tuori, wie für viele seiner Aussagen, keinen Beleg. Auch wenn sie belegt sein sollte,14 bietet sie, um es zurückhaltend auszudrücken, eine etwas unterkomplexe Charakterisierung Kunkels.15 Max Kaser stand den Nationalsozialisten nicht näher als Wieacker (vgl. aber 185). Tuori betont sehr stark die Verbindung von Freiheit und Autorität bei Fritz Schulz (»freedom was paired with the concept of authority«, 86), spricht dann aber wieder davon, er habe, wie Arnaldo Momigliano, Freiheit und Frieden nebeneinandergestellt (61). Wenig weiterführend, angesichts ihres Selbstverständnisses als Fachgelehrte des römischen Rechts, ist der Vergleich von Schulz und Pringsheim mit emigrierten Vertretern der Sozialphilosophie, der politischen Philosophie, der Politikwis|senschaften und der politischen Publizistik. Geradezu herabgewürdigt werden die fünf Protagonisten des Buches, wenn sie eingangs als »legal scholars with some background in Roman law and legal history« vorgestellt werden (1f.). Ebenso unangemessen ist die Formulierung, »Levy would constantly pester Kunkel about different jobs he should apply for« (79).

Leider enthält das Buch auch eine Vielzahl von Flüchtigkeiten formaler wie inhaltlicher Art. Tuori spricht von einem »overly critical approach to interpolationism« (147), wenn er den »overly critical approach of interpolationism« meint; Pringsheim habe im Ersten Weltkrieg fünf Jahre an der Front gekämpft (89); manche Fußnoten stehen an der falschen Stelle (z.B. 199, Fn. 75); Riccobonos faschistische Idealisierung des römischen Rechts wird im Abstract zu Abschnitt 3 angekündigt, aber erst in Abschnitt 4 behandelt; und manches mehr.

IV. Das Buch schließt in einem 7. Abschnitt mit Schlussfolgerungen (»Conclusions«). Hier wird dies und das noch einmal angesprochen, ohne dass so recht ein roter Faden erkennbar wäre. Auch neue Themen werden angetippt: Frankreich unter der Vichy-Regierung zum Beispiel (270f.) oder dass den aus Deutschland vertriebenen Romanisten eine veritable Renaissance des römischen Rechts in Großbritannien zu verdanken sei (263). Zu letzterem Punkt liest man bei Peter Birks, was die Lehre betrifft, anderes: »The […] story […] is a miserable one«.16 Natürlich ist auch von »Konstruktivismus« die Rede (272). Im Übrigen hätten, so der vorletzte Gedanke des Buches, die in ihm behandelten Gelehrten eine Debatte beflügelt, der eine »policy of othering« und eine weiße, konservative und nationalistische Perspektive zugrunde lagen. Umso überraschender dann ganz am Ende der Aufruf zur Rückbesinnung auf die von Fritz Schulz propagierten Prinzipien des römischen Rechts, oder doch einige von ihnen. »Just an idea«, wie Tuori keck hinzufügt (272). Eine Rückbesinnung also auf eine Vision, die zuvor als zutiefst konservativ charakterisiert worden war und als Schwanengesang auf eine Tradition, die auf dem römischen Recht beruht und die europäische Rechtswissenschaft vereint hat (85). Nun also doch: Inspiration aus der Vergangenheit für die Zukunft?

Das Buch von Kaius Tuori leidet im Grunde darunter, dass es zu ambitioniert ist. Es behandelt zu viele mehr oder weniger miteinander zusammenhängende Themen, die jedes für sich eine monographische Behandlung verdienten; und es tut dies anhand von fünf Gelehrten, die nicht mehr eint, als dass sie deutschsprachige Rechtshistoriker romanistischer Provenienz waren und, wie übrigens alle ihre Zeitgenossen, auf die eine oder andere Weise von der »Nazirevolution« (1, 13) betroffen waren. Die Exilerfahrung im eigentlichen Sinne des Wortes und die »common past theory«, die zwei zentralen Leitmotive des Buches, bilden jedenfalls kein einendes Band. So schaut man zum Schluss noch einmal auf das Titelblatt. »Empire of Law«? Rom und vielleicht auch das zweite Rom? Hero auf dem Felsenturme/vor dem ewgen Wogensturme/dort in Sestos, einsam grauend/nach Abydos’ Küste schauend …? Dekorativ, aber sinnfrei, wie das Gemälde von Lawrence Alma-Tadema? Oder ein Symbol für Humanität, Gleichheit oder Freiheit? »The basic premise of constructivism is that the text and thus the past have no innate meanings« (272). So liegt wohl auch hier die Bedeutung im Auge des Betrachters …

Notes

* Kaius Tuori, Empire of Law. Nazi Germany, Exile Scholars and the Battle for the Future of Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2020, XVI + 313 S., ISBN 978-1-108-48363-6

1 Zu Fritz Schulz (Classical Roman Law und Prinzipien des römischen Rechts) vgl. Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations: Roman Foundations of the Civilian Tradition, Oxford 1996, xv; zu Franz Wieacker (Privatrechtsgeschichte der Neuzeit) vgl. Reinhard Zimmermann, Foreword, in: Franz Wieacker, A History of Private Law in Europe, Oxford 1995, v–xiii, xii; zu Paul Koschaker (Europa und das römische Recht) vgl. Reinhard Zimmermann, Europa und das römische Recht, in: AcP 202 (2002) 243–316 (244–249).

2 Als »Kulmination« desselben Forschungsprojekts bezeichnen die Herausgeber Kaius Tuori und Heta Björklund den Sammelband Roman Law and the Idea of Europe, 2019; dazu Reinhard Zimmermann, Rez., in: ZEuP 30 (2022) 227–229. Dem Projekt verdanken wir auch Monographien über Koschaker (von Paolo Beggio), Wieacker (von Ville Erkillä; dazu Reinhard Zimmermann, Ville Erkillä, The Conceptual Change of Conscience: Franz Wieacker and German Legal Historiography 1933–1968, in: ZRG (RA) 137 (2020) 543–548) und Schulz (von Jacob Giltaji).

3 Wolfgang Ernst, Fritz Schulz (1879–1957), in: Jack Beatson, Reinhard Zimmermann (Hg.), Jurists Uprooted: German-speaking Émigré Lawyers in Twentieth-century Britain, Oxford 2004, 105–203 (124). Ernst zitiert auch F.A. Mann mit der Aussage, »in truth and substance« sei diese Vorlesungsreihe »nothing but a veiled attack on Nazi despotism and lawlessness« gewesen.

4 Franz Wieacker, Gründer und Bewahrer: Rechtslehrer der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte, Göttingen 1958.

5 Seine Haltung während der Nazizeit reflektiert Coing selbst in seinem »Lebensbericht«: Helmut Coing, Für Wissenschaft und Künste: Lebensbericht eines europäischen Rechtsgelehrten, hg. von Michael F. Feldkamp, Berlin 2014. Den Begriff der inneren Emigration hält er für unzutreffend und spricht stattdessen etwas gewunden von »innerer Fernhaltung«, vgl. Reinhard Zimmermann, Rez., in: RabelsZ 79 (2015) 219–229 (225f.).

6 Abgedruckt als Anhang der Schulz-Biographie von Ernst (Fn. 3) 198–200 (198).

7 Tommaso Beggio, Paul Koschaker (1879–1951): Rediscovering the Roman Foundations of European Legal Tradition, Heidelberg 2018, 79–83.

8 Immerhin fügt er hinzu, gegeben habe es, wie sich sogar mit einiger Sicherheit sagen lasse, »legal traditions that may or may not be reduced to a central principle«: das ist wiederum eine der ausgesprochen sibyllinischen Feststellungen des Buches.

9 Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Band‍‍‍ I: Älteres Gemeines Recht, München 1985; Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Band‍‍‍ II: 19. Jahrhundert, München 1989.

10 »The emergence of the science of law, […] and its development in the Roman society and culture of its time, is the subject of the History of Roman Legal Science«: Ernst (Fn. 3) 175.

11 Der eine, von Tuori behandelte Aufsatz ist der oben zitierte aus dem Journal for Roman Studies. Der andere greift dasselbe Thema auf und erschien 1933 in Deutschland. Dazu bemerkt Tuori, dass »the conclusions drawn and the explicitness with which they are presented are markedly different, the German text being much more technical and understated« (94f., Fn. 16).

12 Dazu Zimmermann (Fn. 5) 220f.

13 Die von ihm 1996 in dem Gipfeltreffen auf dem Monte Verità angestimmte Melodie klingt jedenfalls ganz anders. Er kritisiert gerade ein Studium des römischen Rechts, das nicht so sehr »la comprensione storica di un passato anche remoto« verfolge, sondern »la custodia o la ripresa di una tradizione, il riconoscimento della sua continuità millenaria, reale o fittizia che sia«: Mario Bretone, La »coscienza ironica« della romanistica, in: Pio Caroni, Gerhard Dilcher (Hg.), Norm und Tradition: Welche Geschichtlichkeit für die Rechtsgeschichte?, Köln 1998, 35–57 (57).

14 In den Nachrufen von Helmut Coing (ZRG [RA] 98 [1981] iii–xvi) und Dieter Nörr (Gedächtnisschrift für Wolfgang Kunkel, Frankfurt am Main 1984, 9–24) ist sie nicht erwähnt, auch nicht in dem Beitrag von Dieter Nörr mit dem Titel »Aus dem Nachlass von Wolfgang Kunkel«, in der Gedächtnisschrift, 293–316. Demgegenüber erwähnt Dorothee Mussgnug in ihrer Einleitung zu Ernst Levy und Wolfgang Kunkel: Briefwechsel 1922–1968, Heidelberg 2005, 9f., dass Kunkel 1933 »förderndes Mitglied der SS« geworden sei. Auch für diese Angabe fehlt ein Nachweis; möglicherweise entstammt sie Kunkels Heidelberger Personalakte.

15 Kunkel stand der nationalsozialistischen Ideologie vollkommen fern und hat, in seinen eigenen Worten (zitiert nach dem Nachruf von Coing [Fn.14] v), »der Parteidoktrin niemals irgendwelche Zugeständnisse gemacht«. Das bestätigen alle, die ihn gekannt haben; vgl. nur etwa Nörr (Fn.14) 312–315 und zuletzt Uwe Wesel, Wozu Latein, wenn man gesund ist?, München 2022, 59 (»völlig weiße Weste«).

16 Peter Birks, Roman Law in Twentieth-century Britain, in: Jack Beatson, Reinhard Zimmermann (Hg.), Jurists Uprooted: German-speaking Émigré Lawyers in Twentieth-century Britain, Oxford 2004, 249–268 (260). Anders der Beitrag zur Forschung: »That the uprooted Romanists enlarged and invigorated the community of scholars working in this country is indisputable. Had they not come, this field of research would have been unimaginably impoverished.« Aber: »They bear some responsibility for undermining the very subject that fascinated them. They did not look up from their books« (beide Zitate auf 250).