I. Die deutschsprachige Rechtswissenschaft beschäftigt sich seit geraumer Zeit besonders intensiv mit dem, was nach Auffassung vieler ihr »Markenkern« ist: der Rechtsdogmatik. Zu den vielen Büchern, Sammelbänden und Aufsätzen1 scheint mit der im Sommer 2019 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg angenommenen, von Ivo Appel betreuten Dissertation von Alexander Stark ein weiteres Buch dazuzukommen. Dieser Eindruck stimmt – teilweise. Seine Hauptforschungsfrage lautet nämlich, ob die Rechtsdogmatik ein Potential für Interdisziplinarität hat oder ob es der strictly legal point of view2 unmöglich macht, interdisziplinär gewonnenes Wissen in genuin rechtsdogmatischen Operationen fruchtbar zu machen (vgl. 17). Starks These ist, »dass rechtsdogmatisches Arbeiten zwar durch (perspektivenbedingte) Engführungen gekennzeichnet ist, auch auf dieser Grundlage jedoch erhebliche Interdisziplinaritätspotentiale identifiziert werden können« (V). Stark entwickelt und entfaltet diese These in drei Schritten – die zugleich auch die drei Teile der Arbeit bilden:
Der erste Teil (»Rechtsdogmatik«, 19–170) unternimmt »eine möglichst differenzierte Analyse dessen, was ›Rechtsdogmatik‹ ist und was darunter verstanden werden kann« (V). Stark entwickelt hier die These, dass (lediglich) zwei Bedingungen vorliegen müssen, damit man Aussagen über Recht als »Rechtsdogmatik« einordnen kann (29–66): Sie müssen (a) einen »Rechtssatzbezug« haben. Dafür genüge es, dass die Aussagen »eine Sinnbeziehung zu dem (potentiell) geltenden Recht eines Rechtssystems herstellen« (45). Die Aussagen müssen (b) eine Teilnehmerperspektive einnehmen (60). Teilnehmerperspektive bedeutet, dass rechtsdogmatisch argumentierende Akteure »Aussagen über das Recht so aufstellen, als ob sie Rechtsakteure wären« (64). Dafür muss man wissen, dass Stark strikt zwischen den Rechtsakteuren der Rechtspraxis (144ff.) und rechtsdogmatischen Akteuren, insbesondere der dogmatischen Rechtswissenschaft (142) trennt. Im Gegensatz zu vielen3 zählt Stark den Systembezug zwar zu einer charakteristischen, aber nicht notwendigen Voraussetzung für Rechtsdogmatik (66ff.).
Im zweiten Teil (»Interdisziplinarität«, 171–230) konzipiert Verf. im ersten Schritt den Begriff der Interdisziplinarität und grenzt ihn von »Disziplinarität«, »Multi-, Intra- und Transdisziplinarität« ab (173–201). Im zweiten Schritt skizziert er, wie eine »Interdisziplinarität zu den Bedingungen der Rechtsdogmatik« abstrakt aussehen könnte (213–227).
Im dritten Teil (»Interdisziplinarität von Rechtsdogmatik«, 231–366) demonstriert Stark, dass auch eine »nur« deskriptive Rechtsdogmatik über zahlreiche interdisziplinäre Andockstellen verfügt (233–265). Weil das an den auf außerrechtliche Wissensbestände verweisenden Begriffen in Rechtssätzen und rechtsdogmatischen Sätzen (zur Unterscheidung, s. 31ff.) liegt, ist das eine in der Sache unbestrittene, aber auch sehr bescheidene Form von Interdisziplinarität. Deshalb geht Verf. darüber hinaus und wirbt für eine normative Rechtsdogmatik (265–312): »Sie ermittelt, ob für die Ausübung rechtlich nicht angeleiteter Handlungsspielräume [der Rechtsakteure] nicht-rechtliche, normative Gründe bestehen« und treffe Aussagen darüber, »für welche Option die besseren |Gründe sprechen« (215). Die Rechtsdogmatik als rationale Disziplin (vgl. 274) solle (vgl. 289) auf das in außerrechtlichen Zusammenhängen gewonnene Wissen zurückgreifen, wenn, erstens, die vorrangig zu beachtenden rechtlichen Gründe Handlungsspielräume gewähren und wenn, zweitens, den Akteuren dieses Wissen epistemisch zugänglich ist (274f.). Konkurrieren mehrere nicht-rechtliche Gründe, habe die Auswahl der maßgeblichen normativen Gründe (zum Begriff s. 268f.) »auch unter Beachtung der rechtlichen Gründe zu erfolgen« (276f.). Im letzten Abschnitt geht Stark auf eine Reihe von möglichen Einwänden gegen die normative Rechtsdogmatik ein, darunter auf die kelsenianischen Argumente eines Methodensynkretismus und der rechtspolitischen Betätigung im Gewand der Wissenschaft (323–331).
II. Ein Anliegen des Buchs ist es, einen modernen Begriff von Rechtsdogmatik zu prägen. Damit ist Stark nicht allein. In jüngster Zeit sind dazu eine Reihe von Monographien erschienen.4 Bei mir hat der von Stark vorgeschlagene Begriff einige Fragen aufgeworfen. Rechtsdogmatik sei neben der Methode, den Produkten dieser Methode auch eine Disziplin (77); genauer: »eine wissenschaftliche Disziplin und nicht der Rechtspraxis zugehörig« (62). Die Rechtsdogmatik als Teil des wissenschaftlichen Systems (vgl. 141) betrachte das Recht zwar von einer Beobachterposition aus, habe dabei aber eine (hypothetische) Teilnehmerperspektive einzunehmen (62), während die Rechtsakteure aus der Rechtspraxis geltendes Recht setzen und in dieser Funktion keine Rechtsdogmatik betreiben und auch nicht dem Wissenschaftssystem angehörten (144). Diese Unterscheidung kann ich nicht ganz nachvollziehen: Einerseits entwickelten die Rechtsakteure »als Rechtserzeugungsinstanzen […] keine rechtsdogmatischen Systeme und gehören nicht dem Wissenschaftssystem an« (144). Andererseits seien sie »nur bei Gelegenheit, en passant rechtsdogmatische Akteure« (142). Aber bei welcher Gelegenheit? Wann genau ist eine Aussage des BGH oder des BVerwG ein Rechtssatz und wann ein rechtsdogmatischer Satz? Das bleibt unklar. Und wie kann eine Rechtsakteur*in zugleich (!) Teilnehmer*in des Rechtssystems und en passant als rechtsdogmatische Akteur*in in der Beobachterposition sein (vgl. 62)? Ich bezweifle auch, dass die Arbeit damit das in Deutschland praktizierte Verständnis, wonach Rechtsdogmatik »einen gemeinsamen Kommunikationsraum für Wissenschaft und Praxis [schafft]«,5 begrifflich adäquat erfasst. Ist es mit Blick darauf nicht »überzeugender, die Rechtsdogmatik als eine eigenständige Denkform zwischen den Polen von Theorie und Praxis zu verstehen«?6
Stark unterscheidet innerhalb der Rechtsdogmatik als (wissenschaftlicher) Disziplin zwischen einer praktischen und einer theoretischen Rechtsdogmatik (82ff.). Die praktische Rechtsdogmatik sei »auf die unmittelbare Hilfestellung zur praktischen Falllösung gerichtet« (82), während die theoretische Rechtsdogmatik »in größerer Distanz zur (hypothetischen) Anwendungssituation [steht] und den Einschränkungen der praktischen Rechtsdogmatik in geringerer Intensität [unterliegt]«. Letztere erinnert mich sehr an das Postulat einer praxisentlasteten, wissenschaftlichen Rechtsdogmatik, der es »um die juristische Analyse und Strukturierung normativer Zusammenhänge: um Panoramen von Konstruktionsmöglichkeiten und Entscheidungsoptionen« geht.7 Unterscheidungskriterium sei die Art der nicht-rechtlichen handlungsleitenden Gründe: Bei der praktischen Rechtsdogmatik seien es autoritative Gründe, während bei der theoretischen Dogmatik inhaltliche Gründe maßgeblich seien. Diese Begründung hat aber ein enormes Problem mit dem wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff: Kann man noch von einer wissenschaftlichen Operation sprechen, wenn nicht-rechtliche Autoritätsargumente (u.a. Vereinbarkeit mit der herrschenden Meinung, 83) handlungsleitend sein sollen? Hier zeigt sich, dass die einheitliche Verortung von Rechtsdogmatik als wissenschaftliche Disziplin ganz erhebliche Folgeprobleme aufwirft. Versteht man Rechtsdogmatik dagegen als eine rationale Reflexionsebene spezifischer gesellschaftlicher (konkret: rechtlicher) Praktiken,8 kann man unterhalb dieser Ebene an der hilfreichen Differenzierung zwischen praktischer |(dem Rechtssystem zugehöriger) und theoretischer (dem Wissenschaftssystem zugehöriger) Dogmatik festhalten.
Eine wichtige Rolle kommt der Unterscheidung von deskriptiver und normativer Rechtsdogmatik zu (89ff.; 265ff.): Erstere beschränke sich auf den Aspekt der Rechtserkenntnis (92ff.), während letztere »auf die Rechtserzeugungsanteile bei Rechtsanwendungsvorgängen gerichtet ist und bei [der] die dogmatischen Akteure ein normatives Erkenntnisinteresse verfolgen« (95). Stark sieht in der deskriptiven Rechtsdogmatik mit Recht das klassische Selbstverständnis von Rechtsdogmatik (92). Ich halte dieses Leitbild für einen Mythos.9 Stark dagegen glaubt, dass das zumindest als Ausgangspunkt dogmatischer Argumentation valide ist. Ich meine, dass auch dieser eingeschränkten Bedeutung zwingende Gründe entgegenstehen. Es gibt mit der Rechtsgeschichte, der Rechtsoziologie oder der Rechtsvergleichung zwar eine Reihe von Bindestrich-Wissenschaften, die strikt deskriptive Aussagen über Rechtssätze treffen können; eine Rechtsdogmatik, die sich fragt, welchen Inhalt das geltende Recht hat und die dabei die Teilnehmerperspektive der Rechtsakteure einzunehmen hat (vgl. 63), operiert insoweit per definitionem normativ.
Das Erkenntnisinteresse der von ihm präferierten normativen Rechtsdogmatik sieht Stark darin, »Antworten auf die Frage zu erarbeiten, wie die Rechtsakteure in bestimmten Konstellationen handeln sollen« (265). Konkret bedeutet das Programm, dass der rechtsdogmatische Diskurs, erstens, Rechtssätze evaluieren und, zweitens, »Antworten auf die Frage, welche von mehreren jeweils rechtlich zulässigen Interpretationsvarianten gewählt werden sollte«, finden soll (278). Drittens sollte er die Rechtsakteure auch anleiten zu entscheiden, »welche normativen Gründe für die Ausübung der rechtlich nicht angeleiteten Handlungsspielräume bestehen (können) und welches Gewicht diese Gründe für spezifische rechtliche Konstellationen haben« (278). Das interdisziplinäre Potential der normativen Rechtsdogmatik sieht Stark daher »in der Wahl zwischen zwei [rechtlich] zulässigen Interpretationsvarianten« (283) und dafür »können« [m.E. müsste auch hier »sollen« stehen, weil er diese Berücksichtigung als Rationalitätsgebot formuliert] »außerrechtliche normative Gründe vorgebracht werden und entscheidend sein« (283). Die normative Rechtsdogmatik ermögliche insbesondere die Berücksichtigung folgenorientierter interdisziplinärer Perspektiven (vgl. 292ff.). Mich hat er damit überzeugt. Aber eine Frage bleibt unbeantwortet: Was genau unterscheidet diesen von einem ganz »normalen« teleologischen Zugang? Auch eine klassische Konzeption von Rechtsdogmatik hat diese Andockstellen. Ich meine, dass es entscheidend darauf ankommt, wie man die normativen Entscheidungsparameter im interdisziplinären Durchgang erweitert und ob man diesen Vorgang transparent macht. Dass Verhaltenssteuerung und Folgenberücksichtigung maßgebliche Elemente normativer rechtsdogmatischer Operationen sind,10 wissen wir mittlerweile. Am Beispiel der Diskussion über die regulatorische Rechtsdogmatik11 sieht man aber, wie konfliktträchtig es nach wie vor ist, diese Vorgänge transparent zu machen und beim (normativen) Namen zu nennen.
III. Als »rechtstheoretisches Buch«, dessen Gegenstand »die ›Andockstellen‹ im Rahmen der Rechtsdogmatik für die Einbeziehung von Erkenntnissen anderer Disziplinen« sind (6), plädiert es für eine interdisziplinär angereicherte Rechtsdogmatik. Für ihr Gelingen kommt es ganz entscheidend auf das »Wie« an. Stark ist skeptisch, ob eine allgemeine Rezeptionstheorie für die interdisziplinäre Wissenserschließung möglich ist (vgl. 15ff.). Deshalb stünden »die Art und Weise der Einbeziehung und Verarbeitung nachbardisziplinärer Wissensbestände […] nicht im Zentrum des Erkenntnisinteresses« (15). Ich teile seine Auffassung, dass es nicht darum gehen könne, »welche konkreten Wissensbestände welcher Disziplinen in welchen Kontexten einpassungstauglich sind« (7). Das kann eine Arbeit nicht leisten. Aber: Auch Stark muss Wege skizzieren, wie man unter Berücksichtigung der disziplinären Eigenrationalität der Rechtsdogmatik Interdisziplinarität ermög|licht (211ff.). Daher beschreibt die Arbeit einen zweistufigen »Transformationsvorgang«: Zunächst wird »eine Theorie aus dem jeweiligen interdisziplinären Verwendungskontext« dekontextualisiert, um sie im Anschluss »auf der Grundlage der eigendisziplinären Perspektive« der Rechtsdogmatik »zu rekontextualisieren« (216f.). Dafür benötigt die interdisziplinäre Rechtsdogmatik zumindest eine »Wissenstransformationsregel« (215) und eine Methode zur »Selektion von Wissen und Disziplinen« (220). Beides sind ambitionierte Anforderungen für rechtsdogmatisch arbeitende Rechtswissenschaftler*innen. Auf die praktischen Gefahren, die dabei lauern, weist etwa W. Ernst als Vertreter eines strictly legal point of view mit guten Gründen hin. Ich zweifle deshalb, ob es genügt, zu zeigen, dass aus rechtstheoretischer Sicht die Rechtsdogmatik in der Lage ist, rechtsexternes Wissen zu verarbeiten, wenn man das entscheidende »Wie« aus dem Zentrum des Erkenntnisinteresses ausschließt. Ich meine, dass eine Arbeit über die Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik diesen berechtigten Einwand der Traditionalisten nicht nur kursorisch aufgreifen müsste. Das sieht auch Stark so, weil er dem Problem immerhin einen Abschnitt widmet (211–227). Dieser zählt aber nicht zu den wichtigsten Teilen der Arbeit. Ich meine, dass Stark hier tiefer hätte bohren müssen.
In der Sache gibt es eine Reihe von Mitstreiter*innen, die das zentrale Argument für eine sich abschottende Rechtsdogmatik entkräften: »Es ist für gelingende Interdisziplinarität weder möglich noch auch nur nötig, den außerjuristischen Fachwissenschaften, die als Theorieexporteure in der Rechtswissenschaft fungieren, vollständig nach deren jeweils eigenem methodischen Selbstverständnis gerecht zu werden.«12 Damit die Rechtsdogmatik aber an dieses Wissen anknüpfen kann, bedarf es eines rechtlichen Bezugsrahmens. Den liefert die Rechtstheorie, weil sie Selektionsfilter – systemtheoretisch gesprochen: Möglichkeiten der strukturellen Kopplung – entwickeln kann, wie man das Wissen dieser Disziplinen im Recht und nach Maßgabe der Eigenrationalität des Rechts rekonstruieren und fruchtbar machen kann.13 Notwendig ist also »eine multidisziplinär anreichernde Rechtstheorie im methodischen und wissenschaftstheoretischen Niemandsland zwischen Rechtsdogmatik und dogmatiknahem Grundlagenverständnis einerseits und völlig fachfremden, außerjuristischen Methoden und Fachkulturen andererseits«.14 Das trifft sich mit dem Ziel von Stark, »die Distanz zwischen den theoretischen Grundlagen- und den gebrauchsorientierten rechtsdogmatischen Subdisziplinen zu verringern« (366). Wie aber sollen Rechtstheorie und/oder Rechtsdogmatik die aus »bunter Theorie und Bastelei« (M. Auer) gewonnene Fluidität fruchtbar machen, ohne sich dabei als eigene Disziplin zu verlieren? Stark besteht mit Recht darauf, dass »die Einbeziehung nachbarwissenschaftlicher Wissensbestände […] nach den Bedingungen des Rechts zu erfolgen habe« (13). Für dieses Problem hat G. Teubner15 eine mich überzeugende Lösung vorgeschlagen: Wir müssen, erstens, im Recht tatsächlich das von allen (!) Sozialtheorien gelieferte Wissen berücksichtigen (»Transversalität«). Das ist ein hoher Anspruch. Stark will daher nur die Wissensbestände berücksichtigen, »die den Akteuren epistemisch zugänglich sind« (275). Das trifft dann zu, wenn man von einer ausreichenden personalen und methodischen Diversität ausgeht. Dann kann sich die normative Rechtsdogmatik für die Wissenserschließung auf Arbeitsteilung stützen: Nicht jede muss alles machen; es genügt, wenn die theoretische Rechtsdogmatik als kollektives Unternehmen die entsprechenden Erkenntnisse bereitstellt. Zweitens ist dafür ein Übersetzungsvorgang notwendig, der die von den Nachbardisziplinen gelieferten Wissensbestände innerhalb des autonomen Rechts und seiner Wissenschaft mit systeminternen Begriffen umweltsensibel so rekonstruiert, dass sie für die Rechtsdogmatik anschlussfähig sind (»Responsivität«). Darin sehe ich den entscheidenden Schritt für eine normativ operierende Rechtswissenschaft.16
IV. Das Buch tritt mit dem Anspruch an, dass seine »Überlegungen zu dem Interdisziplinaritäts|potential der Rechtsdogmatik für alle drei Rechtsgebiete Anwendung« finden (9). Das ist bei einem rechtstheoretischen Zugang auch zu erwarten. In der Sache kann das Buch dieses Versprechen auch halten. Ich habe es daher nicht nur aus rechtstheoretischer, sondern auch aus zivilrechtsdogmatischer Perspektive mit Gewinn gelesen. Aber gerade weil es den expliziten Anspruch erhebt, Aussagen für alle drei Fachsäulen zu treffen, hat mich an dem Buch ein deutlicher bias in der Auswahl der rezipierten Literatur etwas irritiert. Die zentralen (deutschen) Gesprächspartner*innen des Autors sind alle im Öffentlichen Recht zu Hause. Das Buch zitiert zwar eine Reihe zivilrechtlicher Kolleg*innen; wenn man genau hinschaut, spielen deren Texte aber keine tragende Rolle in der Argumentation. Es gibt eine ganze Reihe von Aussagen, die mit vielen Nachweisen belegt werden – und dort sucht man Texte von Autor*innen, die den anderen Fachsäulen zugeschrieben werden, häufig vergeblich. Um das sichtbar zu machen, habe ich mich in meiner Besprechung entschieden, ausschließlich solche Beiträge zu zitieren, die ich – mit Ausnahme des Aufsatzes von W. Ernst und der sporadisch zitierten Arbeit von P. Sahm – in der Arbeit nicht wiedergefunden habe. Für die 2019/2020 erschienenen Beiträge erkläre ich mir das damit, dass die Dissertation vor dem Sommersemester 2019 abgeschlossen war und Anfang 2020 zum Druck vorbereitet wurde. Aber dass die Texte von Auer, Hellgardt, Jansen (u.a. im AöR!), Teubner oder Wagner nicht ausgewertet wurden, hat mich doch etwas überrascht. Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade ein Buch, welches für das Interdisziplinaritätspotential der Rechtsdogmatik wirbt, sich hinsichtlich der Möglichkeiten einer tatsächlich gelebten »Intradisziplinarität« (vgl. 201) etwas abschottet.
Dieses Defizit ist – und diese Klarstellung ist mir wichtig – nicht dem Autor anzulasten. Ich sehe in dieser selektiven Rezeption strukturelle Ursachen, die im deutschen Rechtswissenschaftssystem liegen. Die Dogmatikkompetenz ist für Berufungskommissionen an deutschen Fakultäten weiterhin ein zentrales Merkmal wissenschaftlicher Qualifikation.17 Stark geht mit einem dezidiert rechtstheoretischen Buch bereits ein Risiko ein; für nicht wenige Fakultäten ist er damit schon zu »theorielastig« und nicht anwendungsbezogen genug. Dieses Risiko muss man als Nachwuchswissenschaftler*in minimieren! Dafür ist es naheliegend, sich mit den Texten der Personen auseinanderzusetzen, die in der eigenen Disziplin verortet sind und die auch den nicht rechtstheoretisch arbeitenden Vertreter*innen des eigenen Fachs in den Berufungskommissionen bekannt sind. Hier führt die, spätestens nach dem ersten Examen einsetzende, wissenschaftliche Sozialisation in einer der drei rechtsdogmatischen Säulen zu problematischen Pfadabhängigkeiten. Diese schlagen sich auch in der Rezeption rechtswissenschaftlicher Literatur nieder – jedenfalls dann, wenn der Untersuchungsgegenstand mit Rechtsdogmatik zu tun hat. Ich bedauere diesen Zustand: Wenn es uns – und ich meine damit die etablierten Wissenschaftler*innen, die über Karrieren (mit-)entscheiden – nicht nachhaltig gelingt, in unseren Texten diese Pfadabhängigkeiten aufzubrechen und zu zeigen, wie man erfolgreich intra-, inter- oder vielleicht (entgegen der Skepsis von Stark auf 196ff.) auch transdisziplinär innerhalb der (dogmatisch sowie nicht-dogmatisch arbeitenden) Rechtswissenschaft operieren kann, dürfen wir nicht erwarten und schon gar nicht verlangen, dass es die prekär beschäftigten Nachwuchswissenschaftler*innen anders machen. Wir sollten es uns manchmal etwas weniger gemütlich machen und neben der IntERdisziplinarität auch die IntRAdisziplinarität innerhalb der Rechtsdogmatiken stärken.
V. Alexander Stark hat ein Buch geschrieben, das im Kern eine gelungene Verteidigung der Rechtsdogmatik gegenüber ihren Kritiker*innen, zugleich aber auch eine Inschutznahme vor den Traditionalisten und Kelsenianern unter ihren Befürworter*innen ist. Das Buch hat zwei Ziele: Es will, erstens, eine Konzeption von »Rechtsdogmatik als gründeresponsive Deliberation«, vorlegen, um »das Verständnis von und für Rechtsdogmatik zu verbessern« (366). Damit reiht es sich ein in eine Kette von jüngeren Beiträgen, die auf jeweils unterschiedlichen Wegen zeigen, dass ein Nachdenken über Rechtsdogmatik produktive Irritationen aufwirft und dass es sich auch als moderne Rechtswissenschaftler*in lohnt, (vorzugsweise) »theoretische Rechtsdogmatik« zu betreiben. Zweitens will es zeigen, dass die – je nach Standpunkt – bemängelte oder positiv konnotierte fehlende Anschlussfähigkeit der Rechtsdogmatik für interdisziplinäre |Erkenntnisse (vgl. Nachweise auf 2, Fn. 3) aus rechtstheoretischer Perspektive (vgl. 6f.) nicht zutrifft. Dass er diese These auch für die »deskriptive Rechtsdogmatik« entfaltet, lese ich als Reverenz gegenüber einer immer noch einflussreichen Meinung; ich persönlich halte sein Plädoyer für eine normative Rechtsdogmatik für wichtiger und zukunftsträchtiger. Damit entwirft er ein rechtstheoretisches Gerüst, das auch die Traditionalisten unter den Rechtsdogmatiker*innen überzeugen könnte, ihre normativen Prämissen nicht mehr in der teleologischen Argumentation zu verstecken und Rechtswissenschaft wieder vermehrt als Rechtssetzungswissenschaft zu betreiben. Dass er dabei die alles entscheidende Frage nach dem »Wie« etwas stiefmütterlich behandelt, finde ich schade – aber das ist letztlich eine Konsequenz der selbst gesetzten Forschungsfrage, die ich als Leser zu akzeptieren habe. Das Buch verdeutlicht, dass Rechtsdogmatik als solche nicht abgeschottet betrieben werden muss. Wenn wir von den rechtlich und dogmatisch eröffneten »Interdisziplinaritätspotentialen« keinen Gebrach machen, ist das eine bewusste Entscheidung – und als solche im wissenschaftlichen Diskurs rechtfertigungsbedürftig. Das ist vielleicht die wichtigste Leistung dieser Arbeit. Den zukünftigen Forschungsbedarf sehe ich darin, Methoden und Zugänge zu entwickeln, die die damit verbundenen Übersetzungsvorgänge anleiten können. Auch wenn dazu – wie oben (III.) gezeigt – schon einiges skizziert wurde: Es bleibt noch viel zu tun!
* Alexander Stark, Interdisziplinarität der Rechtsdogmatik (Grundlagen der Rechtswissenschaft 37), Tübingen: Mohr Siebeck 2020, 423 S., ISBN 978-3-16-158962-1
1 Nachweise bei Nils Jansen, Rechtsdogmatik, Rechtswissenschaft und juristische Praxis, in: AöR 143 (2018) 623–658.
2 Zum Begriff s. affirmativ Wolfgang Ernst, Gelehrtes Recht – Die Jurisprudenz aus der Sicht des Zivilrechtslehrers, in: Christoph Engel, Wolfgang Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, Tübingen 2007, 3–49, und kritisch Thilo Kuntz, Auf der Suche nach einem Proprium der Rechtswissenschaft, in: AcP 219 (2019) 254–299, 259ff.
3 Zuletzt etwa Philipp Sahm, Elemente der Dogmatik, Weilerswist 2019, 59ff.
4 Christian Bumke, Rechtsdogmatik, Tübingen 2017; Jannis Lennartz, Dogmatik als Methode, Tübingen 2017; Sahm (Fn. 3).
5 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, 2012, 31.
6 Sahm (Fn. 3) 71.
7 Nils Jansen, Rechtswissenschaft und Rechtssystem, Baden-Baden 2018, 58, 63.
8 Vgl. Sahm (Fn. 3) 70ff. im Anschluss an Gunther Teubner, Rechtswissenschaft und -praxis im Kontext der Sozialtheorie, in: Stefan Grund-mann, Jan Thiessen (Hg.), Recht und Sozialtheorie im Rechtsvergleich, Tübingen 2015, 145–168, 164.
9 Michael Grünberger, Responsive Rechtsdogmatik – Eine Skizze, in: AcP 219 (2019) 924–942.
10 Dazu Gerhard Wagner, Zivilrechtswissenschaft heute. Zwischen Orakeldeutung und Maschinenraum, in: Horst Dreier (Hg.), Rechtswissenschaft als Beruf, Tübingen 2019, 67–182.
11 Alexander Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, Tübingen 2016.
12 Marietta Auer, Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie, Baden-Baden 2018, 36.
13 Ausführlich Michael Grünberger, Rechtstheorie statt Methodenlehre?!, in: Susanne Hähnchen (Hg.), Eine Methodenlehre oder viele Methoden?, Tübingen 2020, 79–110, 98ff.
14 Auer (Fn. 12) 37.
15 Teubner (Fn. 8) 145.
16 Grünberger (Fn. 9) 928ff.
17 Kuntz (Fn. 2) 279ff.