Mark S. Berlin, Assistenzprofessor für Politikwissenschaft an der Marquette University, legt mit der hier besprochenen Arbeit eine ambitionierte Studie über die innerstaatliche Gesetzgebung zu Gräueltaten vor, zu denen Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehören.1 Seine Untersuchung verwendet verschiedene Methoden: Auf der quantitativen Ebene präsentiert Berlin einen eigens erstellten globalen Datensatz über nationale Gesetze zu Gräueltaten. Dieser enthält das Jahr, in dem jedes Land diese Art von Gesetzen verabschiedet hat, sowie Daten darüber, wann und ob dies durch die Verabschiedung eines neuen Strafgesetzbuchs geschah, was die Grundlage für weitere Studien zu diesem Thema bildet. In qualitativer Hinsicht befasst sich der Autor mit der Analyse spezifischer Fallstudien und legt dabei einen Schwerpunkt auf Guatemala, wo ein 36-jähriger Bürgerkrieg (1960–1996) mehr als 75.000 zivile Todesopfer forderte.
Berlin argumentiert, dass »der Schlüssel zum Verständnis, warum Staaten Gräueltaten kriminalisieren, darin liegt, wie sie dies tun« (3), obwohl der Autor auch auf das Wer und das Wann achtet. In Bezug auf die Akteure (wer) argumentiert er, dass dies kein besonders relevanter Faktor sein sollte. In der Tat ist es so, dass »demokratischere Staaten mit größerer Wahrscheinlichkeit als weni|ger demokratische Staaten gezielt Gesetze gegen Gräueltaten erlassen«, aber »wenn sie sich für eine Neugestaltung ihrer Strafgesetzbücher entscheiden, ist es nicht wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher, dass demokratischere Staaten Gräueltaten kriminalisieren« (21). Darüber hinaus erklärt der Autor, dass sowohl demokratische als auch totalitäre »Staaten eher dazu neigen, Gesetze über Gräueltaten in neue Gesetzbücher aufzunehmen, wenn erstens eine größere Anzahl ihrer regionalen juristischen Amtskollegen dies bereits getan hat und zweitens Strafrechtsspezialisten dort mit professionellen Netzwerken verbunden sind, die anfällig für den Einfluss der AIDP [International Association of Penal Law] sind« (21). In Zahlen ausgedrückt, informiert Berlins aufschlussreiche Datenbank darüber, dass 2018 »drei Viertel aller unabhängigen Staaten ein nationales Strafrecht gegen Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit hatten« und dass »zum Zeitpunkt ihrer Kriminalisierung etwa die Hälfte dieser Staaten Autokratien waren« (25).
In Bezug auf das Wann widerspricht Berlin der allgemeinen Auffassung, dass sich in der Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs über die Ausweitung eines globalen Verständnisses von Menschenrechten bis hin zur Schaffung internationaler Gerichtshöfe in den 1990er Jahren (Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda) nicht viel in Sachen Kriminalisierung von Gräueltaten getan hat. Entgegen dieser Auffassung weist der Autor quantitativ nach, wie viele Länder in diesem Zeitraum Grausamkeitsverbrechen in ihrer Gesetzgebung berücksichtigt haben.
In Bezug auf das »Wie«, den Hauptbeitrag des Buches, erklärt Berlin, dass es hauptsächlich zwei Möglichkeiten gebe, dies zu tun: entweder gezielt durch Gesetze über Gräueltaten, die bestehende Gesetze ändern oder als eigenständiges Gesetz verabschiedet werden (z.B. ein Gesetzentwurf, der speziell der Umsetzung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes in nationales Recht gewidmet ist) oder als Teil einer breiteren, groß angelegten Reform des nationalen Strafrechts (z.B. ein völlig neues Strafgesetzbuch, das einen ganzen Abschnitt über Gräueltaten enthält). Berlin geht davon aus, dass der zweite Weg der wahrscheinlichste ist. Dafür gibt er drei Hauptgründe an: 1. Das für die Ausarbeitung eines neuen Strafgesetzbuchs erforderliche Fachwissen macht es wahrscheinlicher, dass die Regierungen die Aufgaben an technokratische Fachleute delegieren, die keine bestimmte politische Ideologie im Sinn haben. 2. Ein neues Strafgesetzbuch kann dazu beitragen, das Image des Landes als eines solchen zu stärken, das sich Modernisierung auf die Fahnen geschrieben hat, was in einer globalisierten Nachkriegswelt auch die Menschenrechte und die Verhütung von Gräueltaten einschließt. 3. Das Ausmaß dieser Art von Reform, das die Intensität der Prüfung von einzelnen Projektteilen verringert, erleichtert die Verabschiedung ansonsten polemisch betrachteter Bestimmungen.
Ein Problem von Berlins Argumentation besteht jedoch in der Annahme, dass Technokraten ohne Rücksicht auf ihre ideologischen oder politischen Vorstellungen ausgewählt werden bzw. dass sie solche Vorstellungen gar nicht besitzen. In diesem Zusammenhang stellt er fest: »Während Aktivisten in erster Linie durch moralische Überzeugungen motiviert sind, sind technokratische Experten durch ihr Engagement für ihre berufliche Praxis und den Fortschritt des technischen Wissens motiviert« (40). Man könnte jedoch dagegenhalten, dass diese »Unparteilichkeit« selten vorkommt. Technokraten haben Ideen, Positionen, Laufbahnen, politische Neigungen und manchmal gar Verpflichtungen gegenüber Auftraggebern. Wenn wir uns auf die Ursprünge des Völkermords als Verbrechen selbst konzentrieren, können wir feststellen, dass Raphael Lemkin der wichtigste »Technokrat« war, der sich für die Gesetzgebung und die Aufnahme dieser Verbrechen bei den Nürnberger Prozessen einsetzte.2 Als Überlebender des Naziregimes war er keineswegs ideologie|frei, sondern engagierte sich stark für den Prozess, mit dem Angeklagte zur Rechenschaft gezogen werden können; dieser wiederum führte zur UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 sowie zur anschließenden Aufnahme dieses Vertrags in die nationale Gesetzgebung.
Eine weitere heikle Dimension lässt sich in Berlins drittem Argument erkennen, da es davon ausgeht, dass die politischen Entscheidungsträger das »Paket« eines neuen Strafgesetzbuchs akzeptieren werden, ohne jeden einzelnen Bestandteil darin sorgfältig zu studieren. Diese Annahme ist aber unwahrscheinlich; vielmehr dürften insbesondere diejenigen Teile des Strafgesetzbuchs, die sich mit Straftaten befassen, für welche die Entscheidungsträger selbst verfolgt werden können, auf deren Interesse stoßen. Ein weiteres Argument, das Berlin in diesem Zusammenhang nicht in Erwägung zieht, ist die Tatsache, dass viele Regierungen – auch diejenigen, die in Gräueltaten verwickelt sind – an der Verabschiedung von Gesetzen gegen Gräueltaten interessiert sein könnten, um der Welt zu zeigen, dass sie sich der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten verpflichtet fühlen. Die Notwendigkeit, neben der Rolle der Technokraten nach weiteren Erklärungsvariablen zu suchen, wird auch dadurch deutlich, dass Berlin negative Fälle aufzeigt, in denen Technokraten zwar eine Gesetzgebung zu Gräueltaten einbrachten, diese aber von der politischen Macht wieder abgeschafft wurde, was Zweifel an der Fähigkeit von Technokraten aufkommen lässt, rechtliche Änderungen dieser Art durchzusetzen.
Schließlich enthält das Buch aus der Perspektive des Globalen Südens einige problematische Passagen, die entweder aus mangelndem Wissen über Lateinamerika herrühren oder sogar als paternalisierende bzw. koloniale Sichtweise gelesen werden können. So beginnt das Buch mit drei Beispielen von Ländern, die die Verabschiedung von Gesetzen gegen Gräueltaten im eigenen Land bewertet haben: Guatemala, Uruguay und Norwegen. Berlin fährt dann fort: »Intuitiv dürfte von den drei Staaten der wahrscheinlichste Kandidat für die Verabschiedung einer innerstaatlichen Gesetzgebung gegen Gräueltaten Norwegen sein, das sich einer langen Tradition der Förderung der Menschenrechte im In- und Ausland rühmen kann« (2). Diese Aussage vernachlässigt die Tatsache, dass Lateinamerika zum Zeitpunkt dieser Entscheidungen – in den 2000er Jahren – bereits weltweit als Vorreiter in Sachen Menschenrechte anerkannt war.3 Darüber hinaus argumentiert Berlin, dass die Einbeziehung der Kriminalisierung von Gräueltaten ein Prozess von »oben nach unten« ist, der eher von Technokraten durchgeführt wird. In Lateinamerika ging der große Impuls zur Kriminalisierung von Gräueltaten jedoch von Menschenrechtsaktivisten, also von unten nach oben aus.4 Schließlich könnte es auch interessant sein zu fragen, ob die Kriminalisierung von Gräueltaten auch in den Verfassungsreformen stattfinden könnte, wie es in Argentinien der Fall war.
Freilich stellt keiner dieser Kritikpunkte die Relevanz von Berlins Arbeit in Frage. Die Bemerkungen regen lediglich die Einbeziehung inländischer und internationaler Aktivisten als wichtigen Faktor an und hinterfragen die vermeintliche Neutralität von Technokraten sowie die angebliche Nachlässigkeit der Regierungen, wenn diese umfassendere Strafrechtsreformen verabschieden, ohne auf die Einbeziehung von Gräueltaten zu achten.
In einer Zeit, in der sich internationale Verbrechen ausbreiten (Afghanistan, Myanmar, Ukraine) und in der die breitere Übernahme internationaler Verträge, die sich mit Grausamkeitsverbrechen befassen (insbesondere das Römische Statut), in nationales Recht immer noch eine ausstehende Aufgabe ist, ist dieses Buch ein willkommener und zum Nachdenken anregender Beitrag. |Auf der Grundlage eines soliden methodischen Konzepts eröffnet Berlin neue Dimensionen für ein zentrales Problem unserer Zeit. Wissenschaftler/innen und Studierende aus verschiedenen Forschungsbereichen (Völkerrecht, internationales Strafrecht, Politikwissenschaft, internationale Beziehungen, Rechtsgeschichte und Kriminologie), aber auch das allgemeine Publikum und politische Entscheidungsträger werden von den bahnbrechenden Erkenntnissen seiner Arbeit profitieren.
* Mark S. Berlin, Criminalizing Atrocity: The Global Spread of Criminal Laws against International Crimes, Oxford: Oxford University Press 2020, 250 S., ISBN 978-0-19-885044-1
1 David Scheffer, Genocide and Atrocity Crimes, in: Genocide Studies and Prevention 1,3 (2006) 229–250. Übersetzungen aus dem Englischen hier und im Folgenden von V.V.W.
2 Philippe Sands, East West Street: On the Origins of Genocide and Crimes Against Humanity, New York 2016; Valeria Vegh Weis, The Role of the Jewish Victims in the Post-Holocaust Transitional Justice Process in Germany, Institut für Kriminologische Forschung, Universität Hamburg, 2020 [Vortrag].
3 Alison Brysk, The Political Impact of Argentina’s Human Rights Movement: Social Movements, Transition and Democratization, Ph.D. thesis, Stanford 1990, verfügbar unter: https://www.proquest.com/openview/a33ee0789dbe4a13c3dce6ac0c19c996/1?pq-origsite=gscholar&cbl=18750&diss=y; Kathryn Sikkink, From Pariah State to Global Protagonist: Argentina and the Struggle for International Human Rights, in: Latin American Politics and Society 50,1 (2008) 1–29; Kathryn Sikkink, The Justice Cascade. How Human Rights Prosecutions Are Changing World Politics, New York 2011; Kathryn Sikkink, Carrie Booth Walling, The Impact of Human Rights Trials in Latin America, in: Journal of Peace Research 44,4 (2007) 427–445.
4 Valeria Vegh Weis, The Relevance of Victims’ Organizations in the Transitional Justice Process: The Case of the Grandmothers of Plaza de Mayo in Argentina, in: Intercultural Human Rights Law Review 60 (2017) 1–70.