Das Völkerrecht stützt sich nicht nur auf explizite Normen, sondern auch auf die Beobachtung vergangener Praktiken, aus denen Regeln mit verbindlichem Charakter abgeleitet werden können. Daraus ergeben sich auch für die Praxis Schnittstellen zu anderen Disziplinen: Geschichte des internationalen öffentlichen Rechts, Rechtsgeschichte, historisch informierte Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft sind Fächer, in denen dieselben Texte (vorwiegend) als historische Quel|len gelesen werden. Das führt dazu, dass das Feld durch eine gewisse Unübersichtlichkeit gekennzeichnet sein kann, denn verschiedene Disziplinen verfolgen unterschiedliche Erkenntnisinteressen, gehen gemäß eigener Traditionen vor und sind in Debatten eingebunden, die über den Bezug zum Völkerrecht hinausgehen, aber auf dessen Grundlagen zurückwirken können. Ihre Ergebnisse für die Praxis nutzbar zu machen, erfordert daher eine Kenntnis dieser spezifischen Perspektiven. Ziel dieses Buches ist es, eine solche Orientierung zu bieten.
Dies geschieht in insgesamt elf analog aufgebauten Kapiteln. Das erste widmet sich dem »turn to the history of international law« im Allgemeinen. Es verweist auf die zunehmende Institutionalisierung einer historischen Perspektive innerhalb der Disziplin des Völkerrechts. Diese Beobachtung verbindet es mit einem Überblick der Debatten über die Genealogie des Völkerrechts, die darum kreisen, inwieweit diese vor Klassiker wie Grotius zurückreicht und etwa auch die Schule von Salamanca einbezieht (wie es etwa im jüngsten Werk Marti Koskenniemis, To the Uttermost Parts of the Earth: Legal Imagination and International Power 1300–1870, Cambridge 2021, geschieht), und welche Konsequenzen ein solcher Blick auf Herrschaftsordnungen vor dem westfälischen System impliziert.
Die folgenden zehn Kapitel behandeln unterschiedliche Ausprägungen der Historiographie zum Völkerrecht: Kontextualisierung (man könnte auch sagen: Historisierung), kritische und postmoderne Ansätze, »Third World Approaches to International Law« (»TWAIL«), globale Zugänge, feministische Zugänge bzw. Frauen und Völkerrecht, normative Zugänge, sozialwissenschaftlich inspirierte Zugänge, institutionalistische Zugänge und biographische Zugänge. Das letzte Kapitel ist Multiperspektivität und Periodisierungsfragen gewidmet. Am Anfang der Kapitel steht jeweils eine einführende Bemerkung zur Charakterisierung, es folgt eine Vorstellung der Tendenz(en) der Forschung, eine Bewertung des Beitrags der jeweiligen Strömung zur »Wissensproduktion« sowie ein Hinweis auf Debatten und Kritik. Am Schluss steht eine abschließende Würdigung.
Das TWAIL-Kapitel illustriert, wie das funktioniert. Es beschreibt zunächst das Anliegen, nach den Kontinuitäten des kolonialen Völkerrechts in der postkolonialen Welt zu fragen und deren Bedeutung durch eine ›Dezentrierung‹ der bislang dominanten Traditionen zu verringern. In einem nächsten Schritt werden zwei Generationen von TWAIL vorgestellt: Die erste schrieb parallel zur Dekolonisation, die zweite seit den 1990er Jahren. Mit Blick auf die »Wissensproduktion« hätten beide eine kritische Lektüre der Klassiker vorangetrieben, allerdings vornehmlich mittels binärer Gegensätze wie dem zwischen Zentrum und Peripherie operiert. Die Kritik konzentriert sich insbesondere auf drei Punkte: die mögliche politische Annäherung vor allem der zweiten Generation an illiberale Regime, da der Ansatz dazu dienen könne, das geltende Völkerrecht zu delegitimieren; die Spannung zwischen dem Bezug auf den globalen Süden und der Anbindung zahlreicher Autorinnen und Autoren an führende nordamerikanische Universitäten; schließlich die inhaltliche Neigung, bei der Bewertung historischer Texte deren Entstehungszusammenhang nicht besonders stark in Betracht zu ziehen. Zusammenfassend wird der Bewegung das Potential attestiert, zu einer aufgeklärteren Zukunft des Völkerrechts beizutragen; zugleich wird deutlich, dass die Sympathien des Autors stärker den im nächsten Kapitel vorgestellten, sich durch ähnliche Gegenstände, aber einen neutraleren Zugang auszeichnenden, globalen Perspektiven gelten.
Die Kapitel ermöglichen einen raschen Überblick und verweisen Lesende auf die einschlägigen Monografien und Handbücher. Dabei gelingt es dem Verfasser, den Forschungsstand im Kernfach der Geschichte des Völkerrechts ebenso wie in den benachbarten Disziplinen in die Darstellung zu integrieren. Das unter schwierigen Bedingungen verfasste Buch – die Niederschrift wurde im Frühjahr 2020 in Wuhan abgeschlossen, und das Werk ist »the white angels of Wuhan and elsewhere« gewidmet – erfüllt seinen Zweck somit hervorragend.
Natürlich gibt es auch Rückfragen, etwa zu Auswahl und Anordnung der behandelten Themen. Die Auswahl ist nicht frei von Überschneidungen: So ließen sich Biografien von weiblichen Akteuren im Bereich des Völkerrechts sowohl im Kapitel Biografien als auch im Kapitel zu Frauen im Völkerrecht behandeln; ebenso bestehen Ähnlichkeiten zwischen »TWAIL«-, globalen und multiperspektivischen Ansätzen. Das ist schwer zu vermeiden, da sich die Darstellung an Debattenkontexten orientiert, die – zumindest teilweise – Selbstbeschreibungen von ›epistemic communities‹ spiegeln. In der Tat geht es vor allem darum, diese in dem Buch auffindbar zu machen.|
Das hat freilich zur Folge, dass die Charakterisierung des Beitrags der Strömungen zur Forschung, der ohnehin auf einer eher abstrakten Ebene referiert werden muss, die Entwicklung des empirischen Forschungsstands und der im Laufe der Zeit vorrangig diskutierten Probleme weniger klar hervortreten lässt. Insofern ist nicht ganz evident, warum die Kapitel – vom ersten und letzten abgesehen – in dieser Reihenfolge angeordnet sind. Man hätte sich den (gewiss schwierigen) Versuch vorstellen können, eine chronologische Anordnung zu wagen, die versucht hätte, nachzuverfolgen, warum sich methodische und perspektivische Zugänge ablösten. Dabei hätten sich sicher unterschiedliche Möglichkeiten ergeben, je nachdem, welche der behandelten Disziplinen man in den Mittelpunkt gestellt hätte – etwa wären aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive Historisierung und Biographie weiter vorne (und eng aufeinander bezogen) platziert worden. Ein solcher Zugang hätte den Vorteil haben können, sichtbar zu machen, welche neuen Strömungen auf welche Schwächen der älteren reagierten und welche Folgefragen sich daraus ergaben.
Gewichtiger ist der Einwand, dass der Zuschnitt der Kapitel mal methodische, mal thematische und mal genre-bezogene Differenzierungen ins Zentrum stellt: Biographien können nicht nur Männer oder Frauen behandeln, sondern auch methodisch eher kontextualisierend-heuristischen, postmodernen oder sozialhistorischen Zugängen verpflichtet sein. Zwar wird bei der Lektüre der Kapitel deutlich gemacht, dass die Zugriffe in diesem Sinne auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind, aber zumal für eine breitere Lesendenschaft wäre eine einführende oder abschließende Notiz hierzu hilfreich gewesen. Anders gewendet: Dass jede Betrachtung von Schnittstellen auch eine Entscheidung darüber voraussetzt, wo Schnitte gesetzt werden sollen, hätte noch expliziter gemacht werden können. Allerdings können die Zäsuren in einer komplexen Forschungslandschaft nie unumstritten sein, und der Vorschlag zu einer Gliederung des Felds, den de la Rasilla vorlegt, ist auch dann anregend, wenn man ihn nicht in jedem Detail übernehmen würde.
* Ignacio de la Rasilla, International Law and History. Modern Interfaces (Cambridge Studies in International and Comparative Law 152), Cambridge: Cambridge University Press 2021, xii + 443 S., ISBN 978-3-1-108-47340-8