Unter dem Titel »Gruppenbild mit Dame« wurde in der vorliegenden Zeitschrift schon einmal ein rechtshistorisch bemerkenswertes Gemälde besprochen: das Porträt eines in Antwerpen residierenden, für das Herzogtum Brabant zuständigen Gildengerichts, gemalt 1594 von Maarten de Vos.1 Im Blick standen dabei weniger die Porträtierten als vielmehr eine allegorische Frauenfigur, anhand von Waage und Schwert leicht und sicher als Justitia zu erkennen, und vier ihr zur Seite gestellte Repräsentanten antiker Gesetzgebungsgeschichte, nämlich Moses und Justinian, Numa Pompilius und Lykurg.2
Während die Figur der Justitia dort bereits eine Ausgestaltung erfahren hat, wie sie uns auch heutzutage vertraut ist, scheint sie in dem hier vorzustellenden, nur wenige Jahrzehnte älteren Gemälde aus der Brabant benachbarten Picardie auf den ersten Blick zu fehlen. Die genauere Betrachtung führt in die Vorgeschichte der Justitia-Figuration, in eine Zeit, in der das Gerichtsverständnis noch stärker von Religion durchdrungen war und das, was wir Staat nennen, im Gewirr vielfältiger, familien- und erbrechtlich begründeter Herrschaftsansprüche erst am Anfang seines Werdens stand. Sich nicht nur als Abbild, sondern auch als Vorbild begreifend, wirkt das Gemälde darauf hin, in einem umstrittenen politischen Raum Recht zu stiften, nicht auf dieselbe Weise wie ein ausdrücklicher Text, aber eindrücklich, durch Mahnung und Einstimmung, fordernd und fördernd zugleich. Freilich – dies wird noch kritisch zu würdigen sein – zielt die herrschende Interpretation des Gemäldes in eine andere Richtung.3
Das Gemälde präsentiert sich in einem aufwändig geschnitzten Rahmen, der stilistisch
überwiegend der Spätgotik, teils aber schon der Frührenaissance zuzuordnen ist und
ursprünglich bemalt war (Abb. 1).
Im unteren Register findet sich der Auftraggeber im Kreise seiner Familie und Freunde
abgebildet:5 Antoine Picquet, ein in Amiens für den König tätiger und dabei auch mit Rechtsfragen
|befasster Beamter, der als »conseiller« und »procureur du roi« bezeichnet wird.6 Das mittlere Register bestimmen Repräsentanten eines der Stadt übergeordneten politischen
Lebens, darunter namentlich der französische König François I. (rechts), Papst Leo
X. und Kaiser Karl V. (beide links). Aus ihrem Kreis erhebt sich – ins obere Register
überleitend und dabei einen Horizont eigener Art bildend, eine Schwelle zwischen säkularem
und sakralem Raum – eine zwischen den Schalen einer großen Waage thronende Maria mit
dem Jesuskind. Hoch oben wird die Waage von Gottvater gehalten und dabei von einer
den Heiligen Geist verkörpernden bekrönten Taube etwas aus dem Lot gebracht. Die eigentliche
Ursache für die Neigung des Waagebalkens ist jedoch, dass das Jesuskind die ihm erreichbare
Schale zu sich heran und dabei nach unten zieht.
Seinen Titel hat das Gemälde von der Devise erhalten, die vor dem Porträt seines Stifters
in Form einer Banderole aufsteigt und wie folgt lautet: »Au juste pois veritable balance«
(Abb. 3; heute würde man »poids« statt »pois« schreiben und auf das erste »e« in »veritable«
auch einen accent aigu setzen). Die Übertragung ins Deutsche ist nicht ganz leicht. Das Wort »balance« bezeichnet
ursprünglich – entsprechend seiner italienischen Wurzel – eine anhand von zwei Schalen
wiegende Waage. Davon abgeleitet kann es aber auch das Gleichgewicht zwischen diesen
beiden Schalen oder überhaupt Gleichgewicht bedeuten.
Geht man von der zweiten Bedeutung aus, ließe sich als Übersetzung »Bei rechtem Gewicht wahres Gleichgewicht« denken. Sie widerspräche freilich dem Verständnis des Malers, zeigt doch sein Gemälde eine Waage, die aus dem Gleichgewicht gebracht worden ist. Legt man die erste Bedeutung zugrunde, könnte die Übersetzung »Bei rechtem Gewicht wirkliche Waage« lauten. »Wirklich/véritable« meint dann in aufrichtiger, treuer Weise zur unparteilichen Feststellung der Wahrheit bestimmt, während »recht/juste« nicht auf eine bloß technisch genaue Bestimmung des Gewichts zielt, sondern auf eine Bestimmung, die beim Wiegen den Umständen auf billige, angemessene Weise Rechnung trägt und insofern einen gewissen Beurteilungsspielraum beansprucht.7
In einem tieferen, sich nicht auf den technischen Aspekt von Waage und Wägung beschränkenden Verständnis könnte hier zudem die Beziehung von Wahrheit (vérité) und Gerechtigkeit (justice) angesprochen sein, und dies in zugleich religiöser und politischer Hinsicht. Es handelt sich anscheinend um eine auch inhaltlich nicht |ganz einfache, vielmehr zum Einfühlen und Nachdenken auffordernde Devise. Steht sie möglicherweise in Zusammenhang mit Psalm 85, der in seinen Schlussversen 11 und 12 Gott darum bittet – so die auf Luther zurückgehende deutsche Übersetzung – »dass Güte [misericordia in der tradierten lateinischen Fassung] und Treue [veritas] einander begegnen, Gerechtigkeit [iustitia] und Friede [pax] sich küssen; dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue«? Auf die für das Gemälde maßgebliche Interpretation wird noch zurückzukommen sein.
Die Gründe für den komplexen Charakter der Devise ergeben sich aus besonderen sozialen und politischen Umständen. Insofern bedeutsam ist zunächst, dass das Gemälde aus einer regionalen Tradition heraus entstand: der in Amiens schon 1389 begründeten und fortan jährlich erneuerten Tradition einer Bildstiftung, für die eine ortsansässige, der Marienverehrung gewidmete literarische Vereinigung die Verantwortung trug, eine Bruderschaft angesehener Bürger namens »Confrérie Notre-Dame du Puy d’Amiens«. »Puy« – heutzutage nur noch ein aus der Geographie der Auvergne geläufiger Ausdruck für einen sockelförmigen Berg – bedeutet hier ein der Kathedrale der Stadt zugeordnetes Podium, von dem aus Gedichte zum Lobpreis Marias vorgetragen wurden. Mit »Puy d’Amiens« kann aber auch die örtliche Bruderschaft selbst bezeichnet sein.
Die Marienverehrung prägte das spätmittelalterliche Christentum. Dies gilt auch und insbesondere für Frankreich, wo sie eng verbunden war mit dem hier seit dem 13. Jahrhundert landesweit einsetzenden und dabei europaweit ausstrahlenden Bau gotischer, ebenso leicht wie mächtig himmelwärts strebender Kathedralen. Zu deren frühen Beispielen gehören die Kathedrale von Reims, die Krönungskirche der französischen Könige, aber auch die – 1981 zum »Weltkulturerbe« der UNESCO erklärte – Kathedrale von Amiens, deren zu Beginn des 16. Jahrhunderts geschnitztes Chorgestühl in kunstvoller Ausführlichkeit Marias Leben vor Augen stellt.8
Die der Marienverehrung dienenden Bildstiftungen des Puy d’Amiens beruhten auf dem Gewinn eines poetischen Wettbewerbs, den durchzuführen dem für ein Jahr gewählten Vorsteher der Bruderschaft oblag, ihrem maître (in anderen Orten der Picardie und Normandie »prince« genannt).9 Grundlage dafür war eine von ihm Anfang Januar, dem Beginn seiner Amtszeit, auszugebende Devise ganz eigener Art und Absicht, nämlich eine Maria auf allegorische Weise ehrende kurze Verszeile, die von den Teilnehmern des Wettbewerbs als Thema oder Refrain ihrer Poesie aufzugreifen war und zugleich dem Gemälde als Inspirationsquelle diente.10 Da in jener Zeit das neue Jahr mit dem Osterfest einsetzte, wurde der nach heutiger Rechnung im Januar 1519 festgelegten Devise die Jahreszahl 1518 zugeordnet, ein Verfahren, das sich auch auf die Bezeichnung des auf der Devise beruhenden Gemäldes auswirkte, obwohl es erst gegen Ende des Jahres 1519 vollendet wurde.
Die Devise und die Ausgestaltung des Gemäldes von 1518/19 standen unter dem Eindruck des königlichen Besuchs, den Amiens im Juni 1517 empfangen hatte, vollzogen in der aufwändigen Form einer entrée solennelle, also einer Form, die dazu diente, die Legitimität des Königs (Schutz und freigiebige Milde) und die Loyalität der Stadt (Rat und Hilfe) vor Augen zu führen und sich ihrer beidseitig zu vergewissern. Begleitet wurde François I. dabei von seiner Ehefrau Claude de France, die ihm im folgenden Jahr den ersehnten Thronfolger schenken sollte, seiner Mutter Louise de Savoie und seiner Schwester Marguerite. Das Gemälde nimmt darauf insofern Bezug, als es im Hintergrund des Königs – umringt von einer zum Ausritt versammelten, dabei vornehm gekleideten und von Standarten begleiteten Gesellschaft – eine Dame mit Krone und Herrschaftsstab, also die Königin zeigt, während im Vordergrund zwei Pagen das Schwert und den Falken des Königs |tragen.11 Anlässlich dieses Besuchs fand auch die Gemäldesammlung des Puy d’Amiens königliche Aufmerksamkeit, insbesondere bei Louise, der daraufhin 1518 ein bis heute erhaltenes Buch geschenkt wurde, in dem sich die seit 1460 überlieferten Gemälde und Dichtungen widerspiegeln.
Die offene Einbeziehung von Papst und Kaiser verleiht dem Gemälde aber noch eine über diesen Besuch hinausweisende politische Dimension, die für seine angemessene Interpretation von Belang ist. Sie gilt es nunmehr zu erschließen.
François I., geboren 1494 als François d’Angoulême, hatte Anfang 1515, nachdem sein Vorgänger und Schwiegervater Louis XII. ohne männliche Erben gestorben war, aufgrund günstiger Verwandtschaftsverhältnisse den Thron Frankreichs besteigen können. Befeuert von jugendlichem Ehrgeiz und Draufgängertum war er noch im September desselben Jahres nach Italien gezogen und hatte – durch einen bei Marignano erfochtenen und seitdem berühmt gebliebenen Sieg über Schweizer Söldner – das 1512 von Louis XII. verlorene Herzogtum Mailand zurückerobert, unter Berufung auf Erbrechte und in der Hoffnung, damit seine politische Stellung im Heiligen Römischen Reich, zu dem das Herzogtum gehörte, zu verbessern und so möglicherweise die Nachfolge des bereits kränkelnden Kaisers Maximilian I. antreten zu können. Nachdem es ihm trotz Einsatz außergewöhnlich hoher Geldsummen nicht gelungen war, in Frankfurt zum Kaiser gewählt zu werden (der glücklichere Karl V. vermochte den Kurfürsten mit Hilfe eines Darlehens des Augsburgers Jakob Fugger mehr zu bieten), nahm er die kriegerische Auseinandersetzung mit dem Hause Habsburg wieder auf. Außenpolitisch sollte sie seine gesamte Regierungszeit bestimmen.
Dass das politische Denken in einer Phase des Umbruchs sich befand und neue Horizonte sich öffneten, wird auch an zwei zeitgenössischen Werken höchst unterschiedlichen Charakters deutlich: »Il Principe« von Niccolò Machiavelli, verfasst 1513 in Florenz, wenn auch erst posthum (1532) veröffentlicht, und »De optima rei publicae statu deque nova insula Utopia« von Thomas Morus, erschienen 1516 in Leiden. Während Morus hier aus seinem christlichen, dabei aber auch kirchenkritischen Humanismus heraus die politische Wirklichkeit seiner Zeit durch ein gleichheitsorientiertes gesellschaftliches Gegenbild ethisch in Frage stellt und so das Mögliche in den Blick rückt, widmet sich Machiavelli – politisch-administrativ erfahren und eigentlich Anhänger einer auf Freiheit und Gemeinwohl zielenden republikanischen Verfassung – in seiner Schrift den ungeschönten Machtaspekten einer Alleinherrschaft, den Ungleichheiten in ihrer politischen Wirklichkeit und den Techniken, die zu ihrer Aufrechterhaltung eingesetzt werden.
Leo X. steht in besonderem Maße für eine Verweltlichung der Kirche. Die Kritik daran war nicht neu. Jan Hus in Prag hatte Reformen schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts gefordert, Girolamo Savonarola in Florenz gegen dessen Ende sie nicht nur gefordert, sondern auch durchzusetzen und in eine politische Form zu übertragen versucht, doch endete beider Leben durch Hinrichtung. Leo X. hingegen sah sich nicht als strengen Kirchenreformer, sondern als großzügigen Kunstförderer, übertrieb es aber mit dem Neubau des Doms St. Peter in Rom, dessen außergewöhnlich hohe Kosten er mit einem maßlosen Ablasshandel zu bewältigen suchte. Als Martin Luther, ein aufmerksamer Leser der Schriften Savonarolas, Rom besuchte, geriet er darüber in solche Empörung, dass er dazu äußerst kritische, theologisch pointierte Thesen formulierte, sie 1517 an der Schlosskirche in Wittenberg veröffentlichte und zu ihrer Diskussion aufrief. Vom großen Widerhall im Reich war 1519 in der Picardie freilich noch kaum etwas zu spüren, ganz anders als in der Zeit darauf, als die Reformation hier ebenfalls Boden fasste.
Wie Leo X., wirkt auch Karl V. im Gemälde weniger günstig dargestellt als François I. und dies nicht nur, weil ihn der Maler ganz an den Rand gerückt hat (Abb. 5). 1500 geboren, tritt er hier übertrieben kindlich in Erscheinung, ausgestattet zwar mit den Insignien seiner kaiserlichen Stellung, in die er Ende Juni 1519 auf dem Reichstag in Frankfurt gewählt worden war, aber kaum kräftig genug, ihr gerecht werden zu können.16 Im Norden war er dem französischen König schon etwas früher zum unmittelbaren Nachbarn geworden. Als Enkel von Kaiser Maximilian I. und Maria von Burgund in Gent geboren, erhielt er 1515 die Würde eines Herzogs von Burgund, die Brabant einschloss. Erasmus hat ihm 1516 seine Schrift »Institutio principis christiani« gewidmet, ein Werk, das auf das politische Denken Platons, Ciceros, Senecas und Plutarchs zurückgreift und seinerseits u.a. Seyssel und Budé beeinflusst hat.
Die politische Dimension des Gemäldes zeigt sich aber nicht nur auf dieser länderübergreifenden Ebene von König, Papst und Kaiser. Sie rückt hier auch lokal, im Zusammenhang mit Amiens, in den Blick und erhält dadurch eine eigene Färbung. Denn die Stadt lag schon seit alten Zeiten in einem Grenzraum, umstritten zunächst zwischen Galliern und Römern, dann Franken und Normannen, Franzosen und Engländern, schließlich Franzosen und Burgundern sowie habsburgischen Flamen. 1471 freilich war Amiens mitsamt der Picardie durch Louis XI. dem letzten Herzog der Burgunder, Charles le Témeraire, entrissen und seitdem von der französischen Krone erfolgreich behauptet worden. Dessen ungeachtet fühlte man sich hier weiterhin zunächst als Picarde, weniger als Franzose, denn mit der Bevölkerung jenseits der Grenze gab es von familiären Bindungen getragene sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten, zu denen auch die Pflege einer poetisch gestimmten Marienfrömmigkeit gehörte.17
Wirtschaftlich bedeutend und vergleichsweise wohlhabend aufgrund ihres grenzüberschreitenden Tuchhandels, wurde die Stadt von einem Bürgermeister (mayeur), zwölf Ratsherren (échevins) und einem Vertreter des Königs (prévôt) verwaltet. Mangels Gewaltenteilung oblagen ihnen dabei auch Rechtsprechungsaufgaben, an deren Erfüllung teilweise zudem noch der örtliche Bischof und das Domkapitel beteiligt waren.18 Die könig|liche Herrschaft hatte Mühe sich durchzusetzen und sann auf Verwaltungsreformen. Männer pflegten auf die eine oder andere Weise bewaffnet zu sein. Gewalttätige Streitereien, zumal solche aufgrund angeblicher Ehrverletzungen, waren alltäglich und verlangten nach einer Neuordnung des Strafrechts.19
In dieser komplexen Konstellation von rivalisierenden politischen Mächten und ökonomischen Interessen wurde der christlichen Religion anscheinend eine Aufgabe und Wirkkraft eigener Art zugesprochen: die der Mäßigung der Konflikte durch Stiftung eines für alle zu beachtenden und insoweit dem Frieden förderlichen normativen Rahmens. Die Wirklichkeit freilich widerstrebte solchen Hoffnungen sehr deutlich. Ungeachtet dessen stellte sich die in Malerei und Poesie gefasste Marienfrömmigkeit des Puy d’Amiens auf die Seite dieser Hoffnungen, beklagte also nicht das Misslingende, sondern setzte auf Ermunterung zum Besseren. In dem Gemälde von 1518/19 geschieht dies freilich nicht leichthin, sondern verbunden mit einer äußerst ernsthaften Erinnerung und Mahnung, wie jetzt zu zeigen sein wird.
Für den heutigen Betrachter sind diese Erinnerung und Mahnung nicht ohne weiteres augenfällig. Lässt man den Blick über das Gemälde wandern, so hält er sich leichter an die Hinweise auf Wohlstand in Stadt und Land: wohl bestellte Felder, ansehnliche Häuser, seetüchtige Schiffe, festliche Kleidung, darüber hinaus auch noch an die Hinweise auf eine freigebige Mildtätigkeit, die anscheinend aus christlichem Geist geschieht, nehmen doch die beiden allegorischen Figuren die Goldmünzen, die sie verteilen, von dem vor Maria aufgestellten großen Tisch.
Wer die Bildbetrachtung damit beschließen wollte, übersähe jedoch einen für die Bildinterpretation zentralen Aspekt, nämlich dass die über dem Tisch hängenden Waagschalen nicht leer sind und sich auch nicht in einem ruhigen Gleichgewicht befinden, wie es der uns vertrauten Justitia-Figuration entspräche. Vielmehr hockt in der linken, vom Jesuskind leicht nach unten gezogenen Waagschale eine einzelne kleine menschliche Figur, während die aufsteigende rechte Waagschale mit etwas unkenntlich Bleibendem so stark gefüllt zu sein scheint, dass sie nach hinten kippt (Abb. 6).
Der bildhafte Gedanke der Seelenwägung ist einer Religiosität verpflichtet, die von Gabe und Gegengabe und insofern von Vergeltung – sanfter ausgedrückt: von Ausgleich – geprägt ist. Es überrascht daher nicht, dass sie bereits in vorchristlichen Religionen Ausdruck gefunden hat.20 Eigentlich bricht das Christentum mit solchen Traditionen, versteht es doch die Liebe Gottes zu den Menschen als ein Gnadengeschenk, auf das diese mit Nächstenliebe zu antworten eingeladen werden (Matthäus-Evangelium, Kap. 10, Vers 86: »Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.«). Gleichwohl haben sich daraus im Laufe des Mittelalters erschreckend harte, bedrückende Weltgerichts-Vorstellungen entwickeln können. |Die zentrale Figur in der christlichen Darstellung der Seelenwägung ist der Erzengel Michael, der sonst eher durch ein Schwert als durch eine Waage gekennzeichnet wird.21
Aus der Malerei lassen sich dafür viele Beispiele anführen, darunter in der norditalienischen Stadt Bergamo eine Weltgerichtsdarstellung aus dem frühen 13. Jahrhundert, die zudem auch rechtshistorisch bemerkenswert ist, da sie einen Gerichtssaal, nämlich die »Aula della Curia« des Bischofspalastes schmückt.22 Das wohl berühmteste Beispiel entstand um 1450 aus der Hand von Rogier van der Weyden. Es gehört zu einem Altar, den der burgundische Kanzler Nicholas Rolin für das von ihm gestiftete Armenhospital in Beaune in Auftrag gegeben hat. Im geschlossenen Zustand zeigt er den Stifter,23 im geöffneten eine Darstellung des Jüngsten Gerichts, in deren Mitte – unterhalb des Weltenrichters Christus, aber dort von beeindruckender Statur – der Erzengel Michael mit seiner Waage steht. Das Motiv der Seelenwägung ist hier insofern etwas abgewandelt, als in der einen Waagschale die Tugenden (»virtutes«) versammelt sind, in der anderen die Sünden (»peccata«).24
Was davon dem Schöpfer des Gemäldes von 1518/19 bekannt war, ist nicht überliefert. Er hatte aber in Amiens ein ebenfalls höchst eindrucksvolles Beispiel aus der Bildhauerei vor Augen, und zwar an der Westfassade der Kathedrale, im Tympanon des Hauptportals.25 Dort findet sich inmitten einer ebenfalls berühmt gewordenen Darstellung des Weltgerichts, unterhalb von Christi Thron, eine Seelenwägung durch den Erzengel Michael abgebildet.26 Er trägt eine Waage, in deren sinkender Schale als Verkörperung des in die Wägung eingreifenden Christus ein sanftes Lamm (Agnus Dei) liegt, während in der trotz Gewichtsbeschwerung steigenden Schale eine Teufelsfratze herausschaut.
Dass die uns heutzutage vertraute Justitia-Figuration auf die Ausgestaltung des Erzengels Michael mit Schwert und Waage zurückgeht, ist an sich bekannt.27 Man sollte daher meinen, dass die bisherige Interpretation des Gemäldes von 1518/19 wesentlich durch seinen Bezug zum Erzengel bestimmt worden ist. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, die herrschende Interpretation weist an dieser Stelle in eine ganz andere Richtung. Maßgeblich dafür ist ein Aufsatz von Anne-Marie Lecoq aus dem Jahre 1977, dem sich die seitdem dazu erschienene kunsthistorische Literatur angeschlossen hat.28 Die folgende Auseinandersetzung kann sich daher auf die einschlägigen Passagen dieses Aufsatzes konzentrieren. |
Lecoq fragt sich zwar durchaus, ob in dem Gemälde eine Seelenwägung dargestellt wird, spricht sich aber – auf die Gründe wird noch zurückzukommen sein – entschieden gegen eine solche Sichtweise aus. Von der Devise heißt es, sie bleibe rätselhaft und werfe kaum Licht auf das gezeigte Geschehen.29 So wundert es nicht, dass auch für die Deutung des Gemäldes Waage und Wägung nicht den Ausgangspunkt bilden und keine bestimmende Kraft zugesprochen erhalten. Stattdessen begibt sich Lecoq auf die Suche nach einer anderen interpretatorischen Perspektive30 und gewinnt sie aus jener Szene, die der Waage und Wägung vorgelagert ist und hier noch näherer Betrachtung bedarf: der Austeilung der Goldmünzen, die auf dem vor Maria aufgestellten Tisch liegen.
Deren Deutung als »allégorie de l’Eucharistie« überrascht, zumal sie von Lecoq ungewöhnlich rigide vorgetragen wird. Der Tisch erscheint als Altar und die Goldmünze als Hostie. Das Weihwasserbecken samt Wedel, Kerzen, Kreuze u.a. werden zu Hinweisen auf eine Messfeier erklärt und die üppig ausgeformten Frauengestalten, welche die Goldmünzen austeilen, zu Messgehilfinnen (»acolytes«31). Sogar der im Hintergrund des Gemäldes sichtbare Anbau von Getreide und Wein wird in diesen Zusammenhang eingeordnet und folglich zu einem Hinweis auf Brot und Wein des Abendmahls.
Diese Deutung überzeugt mich nicht.32 In der Eucharistie repräsentiert eine Hostie den Leib Christi. Weihung und Spende
sind an einen Priester gebunden, zeremoniell festgelegt und von ernster Achtung getragen.
Eine Hostie in der bis dahin völlig unüblichen Form einer Goldmünze – gemeinhin Ausdruck
einer höchst weltlichen Wertschätzung – ins Bild zu setzen, hätte daher den Anschein
einer anstößigen Verweltlichung ihres Charakters geweckt. Die Anstößigkeit wäre noch
dadurch gesteigert, dass im Gemälde auch der Umgang mit den Münzen auf höchst weltliche
Weise erfolgt: Sie werden von einem Tisch genommen, auf dem drei Fürstenkronen ruhen
(darunter ganz rechts eine, deren Verzierung mit einer Lilie auf das französische
Königtum weist); manche Münzen fallen vom Tisch; ein Bettler sammelt eine davon auf,
um sie in seine Bettelschale zu den bereits empfangenen zu legen (Abb. 7).
Ein solcher Anschein der Verweltlichung hätte zudem gerade in Amiens provokant wirken müssen, weil er dort – worauf Lecoq überhaupt nicht eingeht – in einen augenfälligen Widerspruch geraten wäre zum Ernst der Weltgerichtsdarstellung am Hauptportal der Kathedrale, für deren Ausschmückung das Gemälde letztlich bestimmt war. Denn am Hauptportal traf ja jeden Besucher vor dem Eintreten der durchdringende Blick des seine Wundmale zeigenden Christus, also eines |Christus, der »im Sakrament des Altars leibhaftig anwesend ist«.33
Einer Gleichsetzung oder Anverwandlung von Goldmünze und Hostie steht schließlich auch entgegen, dass die Austeilung zwei weiblichen Figurationen anvertraut ist, deren extravagante Kleidung – anders als es Lecoqs Einordnung als »acolytes« nahelegt – keinerlei liturgischen Bezug erkennen lässt34 und stattdessen auf einen allegorischen Gehalt deutet.35
Die nähere Bestimmung dieses allegorischen Gehalts setzt allerdings ein zutreffendes Verständnis von Waage und Wägung voraus und damit die richtige Beantwortung der Frage, ob hier eine Seelenwägung anzunehmen ist. Lecoqs Verneinung beruht auf zwei nicht überzeugenden Behauptungen.36
Der ersten zufolge soll die Annahme einer Seelenwägung nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie einer bestimmten Form genügt, nämlich einerseits die zu wiegende Seele zeigt und andererseits einen Kampf zwischen Engel und Teufel um den gewünschten Ausschlag der Waage. Diese Behauptung ist nicht nur unzutreffend, sondern auch erstaunlich. Denn schon die Seelenwägung im Tympanon der Kathedrale von Amiens zeigt ja, dass das Seelenkind durch ein Agnus Dei ersetzt sein kann, und in der berühmten Weltgerichtsdarstellung van der Weydens in Beaune sind die Waagschalen, wie ebenfalls schon erwähnt, noch einmal ganz anders gefüllt. Es besteht also insoweit eine erhebliche Variationsbreite.
Der zweiten Behauptung zufolge sind die Waagschalen leer. In der linken finde sich nur der Widerschein der daneben gestellten Frauengestalt und die rechte Schale sei wohl gerade vom Wind erfasst. Auch diese Behauptung lässt erstaunen, ja sie erweckt den Eindruck der Voreingenommenheit. Zwar kann man zugeben, dass die malerische Gestaltung der Seelenwägung ungewöhnlich ist. Aber kann dies ein ausreichender Einwand sein, wenn doch Lecoq selbst allenthalben die Außergewöhnlichkeit dieses manieristischen Werks betont, seine malerische Virtuosität, ja sogar seinem Schöpfer eine »turbulente personnalité«37 zuerkennt?
Ist im Ergebnis also nachdrücklich daran festzuhalten, dass das Gemälde eine Form der Seelenwägung präsentiert, so kann man doch von Lecoq etwas Wichtiges für das Verständnis der Devisen des Puy d’Amiens lernen und daraus auch einen angemessenen Standpunkt für die Deutung des Gemäldes gewinnen. Sie hat nämlich überzeugend nachgewiesen, dass die vorausgegangenen Devisen gemeinhin nach einem bestimmten Muster – von ihr »loi du genre« genannt – gebaut sind.38 Demnach beziehen sie sich auf Maria in ihrem Verhältnis zu Jesus Christus und weisen ihr dabei hinsichtlich des mit ihm verbundenen Heilsgeschehens eine dienende, helfende Rolle zu.
Auf die Devise des Gemäldes von 1518/19 übertragen heißt dies, dass sie Maria als Waage und Jesus als Gewicht anspricht. Diese Sicht erlaubt es, die eingangs noch vorsichtig entwickelte deutsche Übersetzung »Bei rechtem Gewicht wirkliche Waage« in eine leicht verbesserte, weil geschärfte Fassung zu überführen, nämlich: »Rechtem Gewicht wirkliche Waage«.39 Für uneingeweihte Ohren klingt sie zwar etwas seltsam und rätselhaft, doch gehört solche metaphorische Dichte ja zum Wesen der Devisen des Puy d’Amiens. Will man sie dennoch zur leichteren Verständlichkeit etwas auflockern, könnte man wohl auch sagen »Wirkliche Waage dem rechten Gewicht« oder – in Einvernehmen mit Lecoq, die das anfängliche, auf Jesus bezogene »à/au« als »pour« verstehen möchte40 – »Für rechtes Gewicht wirkliche Waage«.
Wichtiger freilich ist die Feststellung, dass sich dieses Verständnis der Devise – anders als Lecoq in Vernachlässigung der loi du genre meint – auch im Gemälde widerspiegelt. Wie in den früheren Werken des Puy d’Amiens, erhält Maria einen zentralen und damit prominenten Platz. Doch diesmal wird er, inspiriert von der Devise, auf einzigartige Weise gestaltet: Maria thront zwischen den Schalen einer großen Waage, so dass die devisengemäße Gleichsetzung von Maria und Waage anschaulich wird. Als Waage wird Maria eine zwar bedeutsame, aber doch nur dienende Rolle zugewiesen. Wie auch Gottvater, der die Waage hält, greift sie in die Seelenwägung nicht selbst ein. Der Eingriff erfolgt zum einen und nur leicht durch die Taube des Heiligen Geistes, zum anderen und vor allem aber – in einem emphatischen Sinne wirklich heilsam – durch das Jesuskind auf Marias Schoß. Christus also ist es, der den entscheidenden Impuls für die Seelenwägung setzt und so für das »rechte Gewicht« sorgt.
Diese Klarstellung ermöglicht es nun, die Austeilung der Goldmünzen auf eine zwanglose Weise allegorisch zu deuten. Ausgangspunkt dafür ist, dass im Gemälde dem Geben der Goldmünzen eine Bereitschaft zum Empfangen entspricht, und zwar, wie angesichts sich streckender und öffnender Hände unstrittig ist, auf Seiten sowohl der Armen als auch der Mächtigen, hier vor allem Kaiser, Papst und König.41 Die Gleichstellung ungeachtet großer Unterschiede in der gesellschaftlichen und politischen Stellung weist auf grundsätzlich gleiche Bedürftigkeit im Verhältnis zu Gott. Es bedarf insoweit keiner Unterscheidung in der allegorischen Charakterisierung der weiblichen Figurationen, denen die Austeilung übertragen ist:42 Beide repräsentieren in ihrem Handeln die durch Jesus Christus vermittelte |Barmherzigkeit Gottes. Sie als einen großen Schatz anzusehen, ist verständlich und lässt sich gut anhand von Goldmünzen veranschaulichen.43 Verstehen lässt sich jetzt auch die auf den ersten Blick befremdliche Szene, dass bei der Austeilung der Goldmünzen die Hand des Hofnarren Triboulet zugunsten der Hand seines Königs beiseite geschoben wird (Abb. 4): Sie bringt zum Ausdruck, dass nicht zuletzt – vielleicht sogar in besonderem Maße? – ein Herrscher der Barmherzigkeit Gottes bedarf. Diese beschwichtigt gewissermaßen die göttliche Gerechtigkeit, deren durchgreifender Anspruch in der Seelenwägung zum Ausdruck kommt.
Barmherzigkeit wird hier aber nicht nur thematisiert als die Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Menschen, sondern darüber hinaus als die nach christlichem Verständnis damit eng verbundene Barmherzigkeit der Menschen untereinander, nicht zuletzt gegenüber den Armen. Auch diese mitmenschliche Barmherzigkeit betrifft – insoweit eine politische Dimension gewinnend – die Herrscher selbst, wie das Gemälde wohl auch dadurch zum Ausdruck bringt, dass die Goldmünzen von dem Tisch genommen werden, auf dem ihre Kronen liegen, insbesondere die des französischen Königs.
Wenngleich Maria im Vergleich zu Christus nur eine dienende Aufgabe erfüllt, so bleibt diese doch für die Menschen wichtig, da Maria die in ihrem Sohn ruhende göttliche Barmherzigkeit zu vermitteln hilft. Insoweit ist es auch verständlich, dass sie es ist, die im Gemälde von 1518/19 entsprechend der Tradition des Puy d’Amiens den zentralen Platz einnimmt.
Dennoch ist sie, für sich genommen, noch nicht die »Dame«, auf die der Titel dieses Aufsatzes zielt. Denn Marias Platz im Gemälde ist zugleich ein Platz zwischen zwei Waagschalen und damit ein Platz, der in der uns heutzutage vertrauten Justitia-Figuration von einer allegorischen Frauengestalt mit Schwert und Waage eingenommen wird. Wenngleich nur eine Waage und kein Schwert zu sehen ist, darf das Schwert doch mitgedacht werden, und zwar aufgrund der mit der gezeigten Seelenwägung typischerweise verbundenen Assoziation des Erzengels Michael, den das Schwert kennzeichnet. Insofern überlagern sich hier auf subtile Weise Maria, Erzengel Michael und Justitia, oder anders und pointierter ausgedrückt: kann man hier von einer bemerkenswerten Vorformung der uns vertrauten Justitia-Figuration sprechen.
Religion für politische Zwecke und Politik für religiöse Zwecke zu nutzen, hat eine lange und vielfältige Tradition. Ihre Überzeugungen und Interessen beeinflussen sich wechselseitig. Religion vermag politischen Strukturen und Handlungen Legitimation und Kohärenz zu geben, Politik den Wirkungskreis und die Durchsetzungskraft von Religion zu stärken oder zu schwächen. Auch das Gemälde des Puy d’Amiens von 1518/19 zeugt davon.
Angeregt von der Devise »Au juste poids véritable balance« veranschaulicht es das politische Problem des Ausgleichs zwischen weltlichen Mächten als religiöses Problem des Ausgleichs von Gerechtigkeit (iustitia) und Barmherzigkeit (misericordia). Das religiöse Gerichts- und Gnadenbild überformt so das Herrschaftsbild. Die Großen der Welt sollen ihre Macht nicht leichtsinnig auf der Seite des Rechts wähnen und sie daher auch nicht rücksichtslos durchzusetzen versuchen. Denn auch ihre Seelen werden einst im Jüngsten Gericht gewogen werden. Zur Selbstüberhebung besteht mithin kein Anlass.
Amiens hatte gleichwohl Grund, besorgt zu sein. Die Stadt befand sich in einem ökonomisch-politischen Spannungsfeld zwischen dem Landesherrn der Picardie, also dem König Frankreichs, und dem Landesherrn des benachbarten Brabant, auf den ersten Blick zwar nur ein Herzog, aber inzwischen einer aus dem Hause Habsburg, der als |Karl V. gerade zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs aufgestiegen war. Sie hatte also ein besonders lebhaftes Friedensinteresse.
Davon zeugt auch ihre Festkultur, die sich jährlich auf rituelle Weise bestätigte – in Schrift und Bild, Schauspiel und Musik – und dabei erneuerte. Sie diente der Gewinnung eines kommunalen Ethos, das den inneren Zusammenhalt förderte und nach außen als Zeichen berechtigter Selbstbehauptung verstanden werden konnte.
In seiner Mischung von Huldigung und Mahnung diente auch das Gemälde von 1518/19 dieser Selbstbehauptung, nicht im Rahmen einer klar formulierten, zu scharfen Konsequenzen bereiten Argumentation, sondern mit Hilfe einer weicheren, symbolischen Kommunikation, die Deutungsspielräume eröffnete. Das Machtgefälle zwischen König und Stadt sollte durch ästhetische Gestaltung moderiert werden. Dabei half die emblematische Seite des Gemäldes, die Verbindung zwischen dem knappen Text der Devise und dem sie zwar nicht ausformulierenden, wohl aber veranschaulichenden und dabei affektiv aufladenden Bild.
Dass im Mittelpunkt eine Waage steht, ist mithin auf doppelte Weise treffend: zum einen als Erinnerung an das Jüngste Gericht, dem sich im Rahmen eines Abwägungsprozesses eigener Art alle Christen werden stellen müssen, mächtige wie machtlose; zum anderen als Erinnerung daran, dass es für das Wohlergehen der Stadt Amiens einer Abwägung ihrer Interessen mit den Interessen von König, Kaiser, Papst und Bischöfen bedurfte, der die gemeinsame Marienfrömmigkeit den förderlichen Boden bereiten sollte.
Damit wird zugleich anschaulich, wie und warum die Gestalt des Erzengels Michael, des Seelenwägers, mit der uns vertrauten allegorischen Figuration der Justitia in Verbindung steht: Sie ruft in Erinnerung, dass dem normativen Anspruch von Recht und Gerechtigkeit in letzter Hinsicht ein religiöses Gründungselement eigen ist.
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1 Heyen (2009). Wesentliche Ergebnisse dieses Aufsatzes sind übernommen in ders. (2013) 65ff. (mit Farbabbildung). Das wissenschaftliche Interesse an der Visualisierung des Rechts hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen, gerade auch in historischer Hinsicht. Einen Überblick zu den vielfältigen Perspektiven und Methoden der Forschung gibt Behrmann (2020), leider unter Beschränkung auf anglophone Literatur.
2 Wolters van der Wey (2015) nennt 198f. nur Moses, Justinian, Numa Pompilius, schweigt jedoch zur vierten Person, deren Kennzeichnung durch ein allegorisches, in seiner Deutung lange Zeit umstrittenes Bild erfolgt; siehe dazu ausführlich Heyen (2009) 66ff. Bedauerlicherweise wiederholt die Verfasserin neuerdings ohne Begründung das Ergebnis von Mutmaßungen älterer Literatur (Plutarch); siehe Wolters van der Wey (2018) 170.
3 Siehe dazu jüngst die ausführlichen Bildkommentare von Séguin (2021c) und Scailliérez (2017c), jeweils mit umfassenden Literaturhinweisen und mehreren Farbabbildungen.
4 Zu den weiteren ihm zugeschriebenen Werken siehe Scailliérez (dir.) (2017a) 60ff., zu seiner Gesamtwürdigung dies. (2017b) 35f. und dies. (2017e).
5 Eine besonders große Farbabbildung dieses personenreichen Registers bietet Scailliérez (dir.) (2017a) 30f.
6 Séguin (2021c) 87 präzisiert »procureur et conseiller au bailliage d’Amiens«. Laut Anm. 8 stieg Picquet wenige Jahre später zum bailli auf, einem für die gesamte königliche Verwaltung eines größeren Bezirks zuständigen und üblicherweise auch mit militärischen Befugnissen ausgestatteten Beamten, dem auf dem Gebiet der Rechtsprechung erstinstanzlich mehrere prévôts zuarbeiteten.
7 In seiner Übersetzung der Devise stellt der englischsprachige Museumsführer Gewicht und Waage einfach nebeneinander und verwendet dabei für »juste« und »véritable« dasselbe Wort: »True weight, true scales«; siehe Huchard et al. (eds.) (1995) 68. Die Reihenfolge legt es gleichwohl nahe, das Gewicht als die das Wägungsergebnis und damit die Richtigkeit der Waage bestimmende Größe anzusehen. Dass falsches Wiegen nicht nur am Gewicht, sondern auch an der Waage selbst, ihrem Mechanismus liegen kann, veranschaulicht das Eingreifen der Taube.
8 Siehe Lemé-Hébuterne (2007), insbes. 97ff.
9 Einen Überblick zu den kulturellen Interessen und Strukturen solcher vornehmlich nordfranzösischen Bruderschaften gibt Reid (2019).
10 Siehe Gros (1992) 56ff. (»Le Puy et l’art pictural«), 70ff. (»Le chant royal du Puy d’Amiens«), sowie ders. (1996) 134ff., 189f. und – das Verhältnis von Gemälde und Poesie anhand eines Beispiels von 1471 beleuchtend – 201ff., 236ff. Poesie mit Bezug auf das Gemälde von 1518/19 scheint sich nicht erhalten zu haben.
11 Zu weiteren, im Folgenden aber nicht erwähnten Einzelheiten des Gemäldes siehe die ausführliche Bildbeschreibung von Séguin (2021c).
12 So entstand um 1520 ein Gemälde, das ihn sogar als Johannes den Täufer zeigt, mit einem Lamm auf den Schultern. Zu den Verständnisschwierigkeiten, die ein solches Werk bereitet hat, siehe Walbe (1974) 37ff., und zum heutigen Stand der Interpretation und Zuschreibung Scailliérez (2017d). Zu weiteren allegorischen Darstellungen von François I. siehe Sauvion (2006), zu seiner Verherrlichung darüber hinaus auch Gaehtgens/Hochner (dir.) (2006) und Burke (2015).
13 Siehe Knecht (2002), besonders 90ff.; der Einfluss dieser Schriften auf das tatsächliche Regierungshandeln von François I. wird als sehr gering eingeschätzt.
14 So die Identifizierung von Séguin (2021c) 86.
15 Ausführlich zu diesem Konkordat Knecht (1994) 90ff. Grundlegend zur Verbindung von Politik und Religion im französischen Königtum Schramm (1960).
16 Siehe zum Vergleich das 1516 entstandene Porträt des damals sogar noch drei Jahre jüngeren und doch überzeugender wirkenden Karl, wie es die Abbildung in Séguin (dir.) (2021a) 90 zeigt.
17 Siehe mit Bezug auf Gent, Antwerpen und Brüssel Devaux (2003) 382ff., u.a. mit dem Hinweis, 1519 sei auch dort die Wahl des Habsburgers Karl zum Kaiser bejubelt worden.
18 Siehe Paresys (1998) 139ff.
19 Dabei wurde der im Falle einer nur fahrlässigen Tötung mögliche Straferlass mittels lettre de rémission zu einem Instrument, die Bevölkerung für die königliche Herrschaft zu gewinnen; siehe Paresys (1998) 133ff. Das Verhältnis von Stadt und König bedurfte noch vielfältiger Justierungen, nicht zuletzt auf dem Gebiet der Rechtssetzung; siehe zu dieser Entwicklung Gauvard (2003).
20 Grundlegend Kretzenbacher (1958), insbes. 65ff. für die Zeit des christlichen Mittelalters. Siehe auch Pleister (1988) 33ff. (»Seelenwägung und gerechtes Gericht«).
21 Zu unterscheiden von seiner Rolle bei der Seelenwägung anlässlich des Jüngsten Gerichts ist seine ebenfalls stark rechtlich konturierte Rolle bei der ab dem 12. Jahrhundert verstärkt einsetzenden Imagination der Zeit zwischen dem Tod, durch den sich Körper und Seele trennen, und dem Jüngstem Gericht, zu dessen Vollzug sie sich wieder vereinigen; siehe dazu ausführlich Baschet (1995). Besonders anschaulich wird die Zeit nach dem Tod durch ein im 14. Jahrhundert entstandenes und bis ins 16. hinein weit verbreitetes literarisches Werk: die durch Buchmalerei veranschaulichte »Pilgerfahrt der Seele« (»Pèlerinage de l’âme«) des Zisterziensermönchs Guillaume de Diguleville; siehe Duval/Pomel (dir.) (2008). Darin tritt der Erzengel Michael als ein Wächter des Paradieses auf, der die Zugangsberechtigung des Pilgers mit Hilfe seiner »balance de justice« prüft. »Raison«, »Vérité« und »Justice« wirken als Richter und Zeugen, während der Teufel die Anklage vertritt und »Miséricorde« die Verteidigung übernimmt. Letztlich bewirkt aber Christus selbst einen dem Pilger günstigen Ausschlag der Waage. Siehe auch Kretzenbacher (1958) 156ff., wo verbunden mit einer zusammenfassenden Übersetzung ins Deutsche aus dem sprachlichen Original jene Stellen zitiert werden, die sich auf die vom Erzengel gehaltene Waage der Gerechtigkeit beziehen (158 und 160f.).
22 Siehe dazu Wartenberg (2015) 12ff.
23 Ihm verdankt sich noch ein weiteres kunstgeschichtlich bedeutsames Werk, nämlich »Die Madonna des Kanzlers Nicholas Rolin« von Jan van Eyck, gemalt 1435–37; siehe dazu ausführlich Heyen (2013) 43ff.
24 Siehe dazu Kemperdick (1999) 65ff., mit großer farbiger Detailabbildung (70). Ein ebenfalls frühes und berühmtes Beispiel aus der deutschen Bildhauerei findet sich im Bamberger Dom, und zwar an dem von Tilman Riemenschneider gefertigten Hochgrab für Kaiser Heinrich II. und seine Gemahlin Kunigunde.
25 Sehr gute Farbabbildungen vom Zustand nach der Restaurierung, welche die ursprüngliche Farbigkeit wieder hervortreten ließ, in Kasarska (2012) 175 (Seelenwägung im Tympanon), 184f. (Hauptportal der Westfassade insgesamt).
26 Eine Darstellung, die bereits von Kretzenbacher (1958) 150ff. (Abb. 42 und 43), hervorgehoben worden ist. Zu einer ausführlichen Beschreibung und Würdigung des Hauptportals, insbes. des Tympanons siehe Schlink (1991) 58ff. (Seelenwägung Abb. 13), 134ff., und Murray (2021) 128ff. (Seelenwägung Abb. 2.35).
27 Siehe die Abbildungen in Kissel (1997) 26, 33f., 43, 55, 75.
28 Siehe Lecoq (1977), insbes. 67ff., auch – ihren Standpunkt wiederholend – dies. (1987) 326ff. und 333, sowie Scailliérez (2017c) und Séguin (2021c), jeweils mit weiteren Nachweisen.
29 Lecoq (1977) 67: »Il faut le reconnaître, le refrain palinodial, formulé comme un proverbe, demeure sibyllin et n’éclaire guère le sens de la scène.«
30 Lecoq (1977) 69: »Tout porte donc à croire que le peintre a réutilisé les grandes lignes d’un schéma connu en les adaptant à l’illustration d’un autre sujet.«
31 So die Wortwahl von Lecoq (1987) 326.
32 Knecht (1994) 281 hingegen hat sie offenbar so überzeugt, dass er im Rahmen einer knappen Erläuterung der Abbildung des französischen Königs lapidar feststellt: »Francis I. and his suite receive communion. […] The king holds out a hand to receive a gold coin symbolizing the Eucharist.« Begründet wird diese Sicht nicht. Lecoq (1977) wird auch nicht zitiert, doch findet Lecoq (1987) Aufnahme ins Literaturverzeichnis.
33 So Schlink (1991) 106.
34 Solche weiblichen Figurationen sind keine Eigentümlichkeit des Gemäldes von 1518/19, der Maler verwendet sie ebenfalls in seinem Gemälde von 1519/20, und zwar wiederum ohne liturgischen Bezug; siehe die Farbabbildung in Scailliérez (2017b) 59.
35 Auch Séguin (2021c) 84 spricht von »allégories féminines«, verzichtet dabei aber auf eine nähere Bestimmung. Implizit erfolgt sie durch Übernahme von Lecoqs Deutung als Messgehilfinnen. Diesbezüglich vorsichtiger formulierte noch Lecoq (1977) 69: »Rien ne nous autorise à donner un nom aux deux jeunes femmes chargées de la distribution. Leur riche parure de fantaisie montre quelles appartiennent au monde de l’allégorie, mais aucun attribut spécial ne permet de les caractériser. Il faut donc simplement y voir deux émanations de Marie, donnant forme à son rôle d’auxiliaire et d’intermédiaire de la Rédemption.«
36 Im Original – Lecoq (1977) 68 – lautet die entscheidende Textpassage: »La représentation du Jugement Dernier, même réduite […] au moment de la pesée des âmes, exige pour être intelligible deux conditions: que l’âme soit figurée sur un des plateaux, et qu’il y ait quelque part combat de l’ange et du démon pour faire pencher la balance d’un côté ou de l’autre. Ces deux motifs sont constants depuis des origines du thème en Occident, ils traversent tout le moyen âge et on le retrouve en plein XVIe siècle. Rien de tel n’apparaît ici: les bassins sont vides, celui de droite se balance au gré du vent, celui de gauche ne contient que le réflet de la dame au riche vêtement qui se trouve à [69] proximité, et l’on a l’impression que le bambino est occupé plutôt à jouer avec un des cordons qu’à intervenir dans le destin d’une âme.«
37 Lecoq (1977) 72.
38 Lecoq (1977) 68f.
39 Insofern ist die englische Übersetzung des Museumsführers – Huchard et al. (eds.) (1995) 68: »True weight, true scales« – unbefriedigend. Sie wird der Kernstruktur der Devise nicht ganz gerecht.
40 Lecoq (1977) 68.
41 Diese Sicht würde erklären können, warum unter den üblichen Herrschaftszeichen, mit denen der Maler die königliche Stellung von François I. verdeutlicht, eines fehlt: die main de justice, eine goldene Hand als Zeichen seiner Jurisdiktionsgewalt. Da diese im Jüngsten Gericht nicht zählt, hätte es nämlich irritieren können, sie in dem vorliegenden Zusammenhang gleichwohl zu zeigen. Laut Knecht (1994) 545 wurde François I. zusammen mit seiner main de justice bestattet, so wichtig war sie ihm.
42 So noch Foucart (1965) 145 und Anm. 6, mit seiner Frage, ob sie Tugenden darstellen, nämlich »Miséricorde« und »Justice«.
43 Wenn Lecoq (1977) die Goldmünzen als »trésor« bezeichnet, so ist dies also für sich genommen noch nicht zu beanstanden. Irrig wird es erst, wenn sie sich aufgrund ihrer Verneinung einer Seelenwägung zu Umdeutungen gezwungen sieht, nämlich zum einen das Wort »juste« aus der Devise statt auf das Gewicht auf die Verteilung dieses Schatzes zu beziehen und zu behaupten, als »homme de justice« habe Picquet dafür Sorge getragen, dass der Maler den Akzent seines Gemäldes auf die »juste distribution du trésor« lege, und zum anderen »juste poids« als »juste prix« zu lesen, den Christus zu bezahlen habe »pour racheter l’humanité captive de la faute« (alle Zitate 69).