Am 12. April 2019 veranstaltete die Juristische Fakultät der Universität Tübingen eine akademische Gedenkfeier für Knut Wolfgang Nörr (1935–2018), bei der die drei im Folgenden abgedruckten Vorträge gehalten wurden. Nörr war einer der führenden und international angesehensten deutschen Rechtshistoriker des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Nach Promotion und Habilitation in München wurde er, eine Art rechtshistorisches Wunderkind, schon mit 31 Jahren ordentlicher Professor in Bonn und wechselte 1971 auf den Lehrstuhl für Römisches Recht, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht in Tübingen. Zahlreiche auswärtige Rufe folgten, vor allem an die University of California, Berkeley, wo er Nachfolger von Stephan Kuttner geworden wäre, und auf eine Direktorenstelle am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main als Nachfolger von Helmut Coing. Nörr blieb jedoch in Tübingen, weil er die Arbeitsruhe, die kurzen Wege und den unkomplizierten Austausch mit Kollegen kennen und schätzen gelernt hatte. Aber er machte nun Tübingen selbst zu einem Zentrum rechtshistorischer Forschung. So ging aus den Beziehungen zu japanischen Fachkollegen ein »Deutsch-ostasiatisches Wissenschaftsforum« hervor, so gründete er zusammen mit Helmut Coing und amerikanischen Rechtshistorikern die »Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History« und gemeinsam mit Friedrich Tenbruck und Bertram Schefold einen Arbeitskreis der Fritz-Thyssen-Stiftung zur Erforschung der rechts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Methoden im 20. Jahrhundert. Dem Frankfurter Institut für europäische Rechtsgeschichte blieb er als auswärtiges wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft dauerhaft verbunden.
Es sind aber nicht nur die, wenn auch ungewöhnlichen, organisatorischen Leistungen, die Nörrs Lebenswerk charakterisieren, sondern vor allem die Fülle und der Rang seiner wissenschaftlichen Publikationen. Deren enorme thematische Spannweite ist oft hervorgehoben worden. Als einer der weltweit herausragenden Vertreter der historischen Kanonistik galt Nörr, Schüler Stephan Kuttners, schon früh aufgrund seiner Qualifikationsschriften und seiner Beiträge in Coings »Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte«. In seinem Lieblingsgebiet, dem Prozessrecht, überschritt er aber schon bald den kanonistisch-legistischen Quellenkreis. Es entstand eine Reihe von Untersuchungen auch zur neuzeitlichen Prozessrechtsgesetzgebung und -wissenschaft, bis hin zu seinem letzten Buch »Ein geschichtlicher Abriss des kontinentaleuropäischen Zivilprozesses, in ausgewählten Kapiteln« (2015). Zum Mittelalter war Nörr noch einmal in seiner magistralen Gesamtdarstellung »Romanisch-kanonisches Prozessrecht« von 2012 zurückgekehrt. – Neben diese Arbeiten trat seit der Mitte der 1980er Jahre ein zweiter Schwerpunkt, nämlich die Privat- und Wirtschaftsrechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Für den überzeugten Liberalen Knut Nörr war die Sicherung der privatrechtlichen Freiheitssphäre des Einzelnen geradezu ein existenzielles Thema, und er ging ihrer Bedrohung seit dem frühen 19. Jahrhundert mit bohrender Energie nach. In einer ebenso kurzen wie prägnanten Schrift von 1990 (»Eher Hegel als Kant«) stellte er fest, dass die Rechtsphilosophie des 19. Jahrhunderts nicht die vorstaatliche Freiheit des Privaten, sondern mehr und mehr den Freiheit gewährenden und verweigernden Staat in den Mittelpunkt rückte. Wie sich dieses Spannungsverhältnis zwischen dem staatlichen Machtanspruch einerseits und der privaten Freiheit auswirkt, ist das Thema von drei großen, zwischen 1988 und 2007 erschienenen Monographien. »Zwischen den Mühlsteinen« (1988) war die erste Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik und ist mittlerweile zu einem Klassiker geworden. »Die Leiden des Privatrechts« (1994) behandelt die Geschichte des deutschen Kartellrechts und damit die ›quälende‹ Antinomie zwischen der Vertragsfreiheit und ihrer Tendenz zur Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit, die (notwendigerweise?) vom Staat wiederhergestellt werden muss. Der grundsätzlichen Frage, wie denn überhaupt die Wirtschaftsordnung unseres Staates beschaffen ist, und inwieweit sie die Privatrechtsfreiheit aufrechterhält, wendete sich Nörr schließlich in dem zweibändigen Buch »Die Republik der Wirtschaft« (1999, 2007) zu, seinem Hauptwerk neben dem »Romanisch-kanonischen Prozessrecht«. Dargestellt wird die Geschichte des |Wirtschaftsrechts Westdeutschlands bzw. der Bundesrepublik Deutschland bis zur Wiedervereinigung 1990, Brennpunkte sind der Durchbruch zur privatrechtsfreundlichen »sozialen Marktwirtschaft« nach schweren Auseinandersetzungen mit planwirtschaftlichen Vorstellungen, aber auch die Aufgabe ordoliberaler Grundsätze durch die keynesianische »Stabilitätspolitik« der (ersten) Großen Koalition. Dass das Jahr 1990 im Kampf für und wider eine privatrechtsadäquate Wirtschaftsordnung keinen »Trennstrich« zog, war Nörr klar: »Keine Periode ist abgeschlossen, keine neu begonnen worden.«
Die drei Gedenkreden vom 12. April 2019 widmeten sich den beiden zentralen Forschungsgebieten Nörrs, also der Geschichte des Prozessrechts und des Wirtschaftsrechts. Auf einen gesonderten Vortrag über Nörr als Kanonisten (dazu Richard Helmholz in ZRG, Kan. Abt. 105, 2019, 417ff.) hatten die Veranstalter wegen der engen Verknüpfung von Kanonistik und Prozessrecht in Nörrs Werk verzichtet. Wolfgang Ernst sprach über »Knut Wolfgang Nörr in der Historiographie des Prozessrechts«. Ernst betonte, dass Nörr in den 1960er Jahren »fast überall weithin brachliegende Felder« der Prozessrechtsgeschichte betreten habe. Wenn sich auch die Forschung seitdem in ungeahnter Weise intensiviert hat, so bleibt doch Nörrs Pionierleistung (nach älteren verstreuten Ansätzen im 19. Jahrhundert) für dieses Fach zu würdigen, seine Mitbegründung der vergleichenden Prozessrechtsgeschichte und seine systematische Summe des romanisch-kanonischen Prozessrechts von 2012. Weitere Überlegungen gelten u.a. dem von Nörr entdeckten prozessualen »Reihenfolgeprinzip«, das Ernst im Lichte ästhetischer Grundvorstellungen des fast professionellen Musikers Nörr sieht, und der Frage, inwieweit die Gesamtdarstellung von 2012 eine historische Realität abbildet. Dieses Problem stellt sich im Grunde bei jeder synchronistischen Zusammenfassung von Lehrmeinungen in »großen Lehrbüchern« der Rechtsgeschichte. Ernst meint, dass die »Montagen« von Gesamtbildern – wenn nur die zugrunde liegenden Details stimmen – keine »Sündenfälle des Anachronismus« sind, sondern legitime, wenn auch, mit Nörr, immer nur »approximativ« die Dinge erfassende Hilfsmittel für die weitere Forschung: »Das ›Große Lehrbuch‹ ist nötiger denn je.« – Mit den wirtschaftstheoretischen und -politischen Überzeugungen Nörrs beschäftigte sich Bertram Schefold in seinem Vortrag »Knut Wolfgang Nörr und die Geschichte des Wirtschaftsrechts in ökonomischer Perspektive«. Einleitend berichtet er über seine erste Begegnung mit Nörr, die Entstehung des Thyssen-Arbeitskreises zur Geschichte der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts und die Schwierigkeiten des interdisziplinären Arbeitens (»Solange man sich für die je andere Wissenschaft interessiert und fragt, wird man in der Regel freundlich empfangen, aber wehe, wenn man wagt, in derselben selbst Stellung zu nehmen.«). Er untersucht dann die Abhandlungen, die Nörr in den drei Sammelbänden des Arbeitskreises vorgelegt hat, und beobachtet in allen eine konsequent durchgehaltene ordoliberale Einstellung. Dennoch wirft er die Frage auf, ob Nörr, für den ja die Geschichte des Wirtschaftsrechts im Jahr 1990 keineswegs beendet war, seinen Standpunkt angesichts der Bankenkrise von 2007/2008 nicht vielleicht modifiziert hätte. Schefold selbst tritt in diesem Zusammenhang dafür ein, »den Keynesianismus ordnungspolitisch zu integrieren«. – Was hier nur kurz gestreift wurde, nämlich wie man sich eine Fortsetzung von Nörrs Geschichte des Wirtschaftsrechts über 1990 hinaus vorstellen könnte, machte Jan Thiessen zum Gegenstand seiner Ansprache (»Die Republik der Wirtschaft 3.0«). Der lange Weg von 1990 bis 2019 geht für Thiessen von der »Republik der D-Mark« zu einer »Republik des Euro«. Er reicht, um nur das Wichtigste zu nennen, von den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung bis zur einstweilen letzten Großen Koalition in Deutschland, zu den europäischen Entwicklungen infolge der Banken- und Eurokrise und zu einer Fülle von Weiterbildungen des Wirtschaftsrechts (u.a. Kartell-, Insolvenz-, Kapitalmarkt- und Arbeitsrecht). Thiessen ist davon überzeugt, dass Nörr uns »eine ebenso differenzierte wie versöhnliche und vor allem eine unbestechliche ›Republik der Wirtschaft 3.0‹ schreiben« würde.
Die Absicht der Tübinger Gedenkveranstaltung war es, Nörrs Werk, das in seiner Breite kaum einem Rechtshistoriker voll zugänglich ist, aus mehreren Blickwinkeln zu erschließen. Ob das gelungen ist, muss der Leser der drei Beiträge beurteilen. Er wird jedenfalls spüren, dass – über die einzelnen Fachgebiete hinaus – das spannungsreiche Verhältnis von Ordnung und Freiheit ein Lebensthema Nörrs war, und er wird feststellen, dass es weiterhin unvermindert aktuell ist.