Mit Die Soziologie vor der Geschichte legt Wolfgang Knöbl eine kritische Analyse des Gebrauchs von großflächigen, robusten Prozessbegriffen in den Sozialwissenschaften vor: Es geht also um Rationalisierung, Differenzierung, Modernisierung, aber auch um Bürokratisierung, Säkularisierung, Industrialisierung. Viele dieser Makrobegriffe wurden in den letzten Jahrzehnten in der globalhistorischen Forschung in Frage gestellt, weil sie teleologisch gefasst, aus einer Perspektive des Globalen Nordens entworfen und dann auf andere Weltregionen angewandt worden sind. Knöbls Kritik ist viel grundsätzlicher. Er will zeigen, dass die Soziologie als »ahistorisch verfahrende Ordnungswissenschaft« (14) zwar häufig Prozessbegriffe nutzt, nur selten aber expliziert, was mit der Rede von einem »Prozess« gemeint ist. Denn was ist und wie verhält sich ein Prozess zu Handlung, Ereignis, Struktur? Wird er als autonom verstanden, und wenn ja: Was verleiht ihm Eigendynamik? Wieviel lineares Denken, Teleologie, wieviel Kausalitätsunterstellungen stecken in der Diagnose eines Prozesses?
Knöbl gliedert seine Problemgeschichte in zwei Abschnitte. Im ersten Teil geht es um »Sozialtheorie zwischen Geschichtsphilosophie und Historismus« (Kapitel 2, 3, 4). Den Auftakt macht eine Szene aus den 1970er Jahren, als Raymond Aron und Talcott Parsons, also ein französischer Exponent des Versuchs einer historischen Reflexion soziologischer Grundbegriffe und der einflussreichste Theoretiker der Soziologie als Ordnungswissenschaft, am Frühstückstisch aufeinandertrafen – und einander ganz und gar nicht verstanden. Parsons erhob sich und ging seiner Wege. Mit ihm auch die Soziologie: Sie institutionalisierte sich als Ordnungswissenschaft, obwohl auch andere Ausrichtungen denkbar gewesen wären, etwa die einer Historischen Soziologie, für die Aron stand. Eine Reflexion über die Historizität der Grundbegriffe der Soziologie hätte zudem an die intensiven Debatten anknüpfen können, die man im 19. Jahrhundert in Geschichtswissenschaft und Philosophie um die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichtsphilosophie führte. Knöbl zeichnet einige Momente dieses Nachdenkens von Generationen nach – von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit über Wilhelm von Humboldt und Hegel zum Historismus eines Ranke oder Droysen. Noch der Versuch der Abwendung von der Geschichtsphilosophie im Historismus blieb, so zeigt Knöbl, der Spekulation verhaftet. Theologische Argumente, Geschichtsreligion, die Idee der Freiheit, später die Nation treten als strukturierende Elemente an die Stelle von offener Geschichtsmetaphysik. Das nun verbreitete Denken im Kollektivsingular »Geschichte« bedurfte schließlich noch immer eines Substrats, an dem sich Wandel vermessen lässt: »Der Geschichtsphilosophie entkommt man nicht« (76).
Das gilt auch für den Neukantianismus eines Heinrich Rickert oder Max Weber, wie Knöbl in einer dichten Auseinandersetzung deutlich macht. Wer – wie der Rezensent – das Gefühl hatte, Rickerts Argumentation nie wirklich verstanden zu haben, liest mit einer gewissen Beruhigung, dass dessen Unterscheidung zwischen Wertbeziehung und Werten »so besonders plausibel nicht ist« (87). Und wem das Changieren Webers zwischen Real- und Idealtypen schon stets Schwierigkeiten bereitete, dem leuchtet die Vermutung Knöbls ein, dass an Webers Begriff der Rationalisierung eine »gehörige Portion Geschichtsphilosophie« hafte – »in welcher Schwundstufe auch immer« (90). Für Knöbl scheiterte auch Weber am verzweifelten Versuch, das Problem des Zerfalls der historischen Vernunft nach der Epoche Hegels zu lösen. Für Troeltsch, Mannheim, Elias oder Alfred Weber gilt trotz mancher Ansätze (etwa dem Generationenbegriff) das Gleiche, auch wegen der biographischen Brüche und dem Vergessen, dem viele intellektuelle Leistungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lange anheimfielen. So endet der Rückblick auf knapp zwei Jahr|hunderte, wie er begann: mit Autoren, die sich offen zur Geschichtsphilosophie bekennen, nun allerdings in Gestalt der Frankfurter Schule mit ihrem Versuch der Konstruktion des Geschichtsverlaufs als notwendigem Produkt eines ökonomischen Mechanismus.
Der zweite Teil des Buchs wendet sich der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu. Noch immer geht es, so die Überschrift, um »Befreiung von Historismus und Geschichtsphilosophie – so oder so«. Drei Kapitel und ein Schluss geben einen Überblick über die Entstehung von Prozessbegriffen in der US-amerikanischen Diskussion der 1950er, im Europa der 1970er und der 1980er Jahre. Die vor allem in den USA entwickelten Modernisierungstheorien erscheinen Knöbl als simplifizierte geschichtsphilosophische Konstruktionen, die eigentlich im 19. Jahrhundert jedenfalls in der deutschsprachigen und französischsprachigen Debatte bereits hinlänglich kritisiert worden waren. Die »Moderne« sei als Epoche begriffen worden, die es gegen den Marxismus und historischen Materialismus mit Hilfe der Modernisierungstheorie zu konturieren galt. Die damit verbundene funktionalistische Perspektivierung ließ Fragen nach der Strukturierung historischer Empirie oder der Zugänglichkeit der Vergangenheit nicht mehr aufkommen. »Es schien unstrittig zu sein, dass alle für zentral gehaltenen historischen Makroprozesse auf diese Moderne zulaufen würden« (160). Die schon bald einsetzende Kritik an den normativen Implikationen der Modernisierungstheorie bereitete allerdings schon in den späten 1950er Jahren den Boden für die Differenzierungstheorie als neues makrosoziologisches Instrumentarium. Auch diese unterzieht Knöbl einer gründlichen Analyse, insbesondere hinsichtlich ihrer Koppelung mit der Evolutionstheorie (168ff.) und ihrer grundlegenden Funktion als Prozessontologie (229ff.) bei Luhmann.
Besonders interessant für die Rechtsgeschichte, in der sich aus vielerlei Gründen die Vorstellung eines scharfen Epochenbruchs um 1800 verfestigt hat, sind Knöbls Überlegungen zum Differenzierungskonzept und dessen Stützung durch Kosellecks Sattelzeitthese (163ff.). Kosellecks Analyse der veränderten Zeiterfahrungen und die daraus gezogenen weitreichenden Folgerungen beruhten bekanntlich auf anderen Methoden, als sie seine Bielefelder Kollegen in der Soziologie oder der Sozialgeschichte praktizierten. Allerdings ging es Koselleck wie den modernisierungstheoretischen Ansätzen darum, einen scharfen Bruch zwischen Moderne und Vormoderne zu konturieren, weswegen man seine Methode auch als »Werkzeug einer Modernisierungstheorie« (Christof Dipper) bezeichnet hat. Doch Sprachwandel zeigt veränderte Repräsentationen, und über die repräsentierten »Prozesse« kann er wenig aussagen. Im Verbund mit der sozialgeschichtlichen Modernisierungstheorie und dem Nachwirken von Webers Rationalisierungsthese verfestigte die Historische Semantik dennoch das Bild eines Epochenbruchs von geradezu welthistorischem Ausmaß. Auch daran knüpften Luhmann und Habermas mit ihren Entwicklungslogiken an, und auch die Rechtsgeschichte hat die Moderne zu einem Wendepunkt erklärt, mit dem im Hochmittelalter angesetzte Prozesse (Staatsbildung, Verwissenschaftlichung, Rezeption etc.) abgeschlossen gewesen sein sollen.
Im Kapitel 6 zeichnet Knöbl nun Diskussionen aus den 1970er Jahren nach, die auch aus dem Unbehagen an solchen Makrobegriffen gespeist wurden. Bereits Jaspers und Löwith hatten in ihren Geschichtsphilosophien Zweifel gesät, ob man von »der« Geschichte »der« Welt sinnvoll sprechen könne. Da die Wirklichkeit sich anders entwickelte als gedacht, hielt eine neue Bescheidenheit Einzug: »Nicht der Prozess der Weltgeschichte interessierte die Historiker, sondern höchst unterschiedliche Prozesse und Prozessformen in der Geschichte« (197–198). Man suchte Sinnzusammenhänge für begrenztere Räume und Zeiten, und man dachte darüber nach, was einen Prozess eigentlich ausmacht. Anhand der Analyse einiger Beiträge der Werner-Reimers-Studiengruppe »Theorie der Geschichte«, 1978 in einem Band zu Historischen Prozessen publiziert, legt Knöbl so manche Aporien der Rede von Prozessen frei: wie sich diese zu »Ereignissen« und »Strukturen« verhalten und woher das autogenerative Moment kommen soll. Diese Diskussionen führt er mit den sozialwissenschaftlichen Debatten zusammen, in denen man Handlungstheorien und Systemvorstellungen kombinierte und nach der Rolle von Intentionen und unintendierten Folgen fragte. Eigendynamik wurde nun als Ergebnis von Rückkoppelungsschleifen verstanden, in denen Motive der Handelnden produziert und reproduziert werden. Mayntz und Nedelmann formulierten es wenig später so: »Eigendynamische Prozesse werden durch Aktions-Reaktions-Sequenzen von sozialen Akteuren erzeugt, die ein umrissenes Handlungssystem bilden« (212). So klar dies theoretisch |schien, so schwierig würde freilich die Umsetzung in der Geschichtswissenschaft bleiben. Denn lassen sich solche Stimulierungskausalitäten überhaupt mit den zur Verfügung stehenden Quellen nachweisen? Wie steht es um die Verkettung von Beobachtungen über längere Zeiträume – also dem, was üblicherweise als »Prozess« bezeichnet wird? Knöbl kontrastiert anschließend die deutsche Debatte mit der französischen, insbesondere durch Michel Dobry, und mit der US-amerikanischen, in der Andrew Abbott Maßstäbe gesetzt hat. Während Dobry auf eine Reihe von Fallstricken bei der Analyse von Prozessen hinweist, macht Abbott nicht zuletzt auf die narrative Dimension sozialer Prozesse aufmerksam.
In dieser Narrativität liegt für Knöbl die Problematik und letztlich auch der Schlüssel zum reflektierten Umgang mit Prozessbegriffen, wie er im letzten Kapitel ausführt. Er zeigt, wie von verschiedenen Seiten auf die erzählerische Dimension der sozialwissenschaftlichen Konstruktionsleistung hingewiesen worden ist – und wie sich diese Kritik auch auf Theorien des Wandels auswirkt, etwa auf den Historischen Institutionalismus oder Charles Tillys mechanismischen Ansatz. Anhand einer konzisen Zusammenstellung von sieben wichtigen Aspekten der erzähltheoretischen Debatte (256–270) werden dann exemplarisch drei Prozessbegriffe untersucht: Industrialisierung, Demokratisierung, Individualisierung.
Knöbl schließt seine eindrucksvolle Darstellung mit einem Plädoyer für einen reflektierten Umgang mit Prozessbegriffen und für eine stärkere Berücksichtigung der Ergebnisse historischer Forschung in der Soziologie – und soziologischer Begriffsbildung in der Geschichtswissenschaft. Nicht wenige Vertreter beider Disziplinen nehmen für sich in Anspruch, durch wissenschaftliche Forschung Orientierungswissen zu vermitteln, was die Versuchung erhöht, griffige, aber reduktionistische und letztlich scheinwissenschaftliche Diagnosen über den Lauf der Welt auf den Markt zu werfen. Man kann das Buch insofern auch als Grundlegung einer Historischen Soziologie lesen, die beide Disziplinen stärker verknüpfen würde. In der Geschichtswissenschaft dürfte sehr viel von dem, was Knöbl mit weitem Blick interdisziplinär und international zusammenträgt und klar analysiert, auf große Offenheit stoßen; inwieweit er mit der Forderung nach einer Historisierung der Sozialtheorie seine eigene Disziplin, die Soziologie, erreicht, wird man sehen. Die Rechtsgeschichte, die noch immer als Vorgeschichte der Moderne geschrieben wird und auf einer Reihe von Großbegriffen beruht, deren Fragwürdigkeit inzwischen außer Frage steht, könnte zu einer solchen Historischen Soziologie sicher beitragen – und vor allem von ihr profitieren.
* Wolfgang Knöbl, Die Soziologie vor der Geschichte. Zur Kritik der Sozialtheorie, Berlin: Suhrkamp 2022, 316 S., ISBN 978-3-518-29975-3