Voraussitzungen*

[Presittings]

Fabian Steinhauer Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main steinhauer@lhlt.mpg.de

1. Der im Frühjahr 2023 verstorbene Jurist Pierre Legendre schrieb Anfang der 80er einen Text, den er L’Empire de la Vérité nannte. Was dort zur Wahrheit gehörte, konnte die Herrschaft oder die Befehlsgewalt, es konnte eine historische Phase oder auch der Stil französischer Möbel sein: das Empire, eine nicht nur in Frankreich vielschichtige, dabei (nur) teilweise empirische Angelegenheit. Legendre interessierte sich für die Dogmatik so einer Angelegenheit, also für dasjenige, was auch Recht ist und was bis heute auch einen Teil des Stolzes der deutschen Rechtswissenschaft ausmacht.

Insofern mag kurz überrascht und etwas Verstehensgeduld verlangt haben, worauf er zu sprechen kam. Legendre schrieb nämlich über Räume, Recht und Gesetz und sprach insoweit vom dogmatischen Raum. Er erinnerte daran, dass Dogmatik auch eine Technik sei, etwas (er-)scheinen zu lassen, sei es wahr, gut oder schön. Damit nicht genug. Er schrieb, dass man in der Kirche Saint Sulpice in Paris und im Jaroslovskij Bahnof in Moskau eine Menschheit finden würde, die wartet. Die Kirche und der Bahnhof, aber auch das Gericht oder das Parlament: Legendre schrieb über Institutionen, verstand sie erstens und schlauerweise aber nicht darüber, dass sie gegeben seien. Institution, so legte das Legendre nahe, sei dasjenige, was (er-)warten ließe. Institutionen lassen einerseits eine Zeit durchhalten, also eher schlicht warten, oder sie lassen Zukunft einholen, also erwarten. Zweitens verstand er die Institutionen über ihre Möbel und sagte, dass die Bänke und Sessel wichtiger seien als diejenigen, die auf ihnen sitzen. Dann übertrieb er etwas, erklärte nämlich, dass die Stühle darum wichtiger seien, weil in Strukturen zähle, was unsterblich sei. Aber immerhin lenkte er damit in Anknüpfung an Kantorowicz’ Studien zum doppelten Körper des Königs die Aufmerksamkeit auf einen sonst eher übersehenen Teil dessen, was Böckenförde eine Voraussetzung nannte und im Alltag ein Sitz ist. Voraussetzung, die Stühle und Stühle, die Voraussetzungen sind: So ein voraussitzendes Bündel verknüpft das hohe Reich der Ideale mit den konkreten niederen Bedingungen des Alltags, bringt Abstraktion und Einfühlung, Sinn und Sinnlichkeit in Kontakt. Legendre erinnert wie z.B. die begriffshistorischen Studien von Maximilian Herberger daran, dass Dogmatik nicht das Andere einer Erfahrungswissenschaft ist. Für ältere Gesellschaften erkennt man vielleicht schneller an, dass sie gerade darum, aufgrund sinnlich erfahrbarer Dogmatik, ihr Erscheinen so pflegten, wie ihren Schein. Die Forschung und Neugierde über Inszenierungen von Staat und Gesellschaft haben aber auch mit den Absetzungsbewegungen einer Moderne, die sich zeitweise für schmucklos und Ornament für ein Verbrechen hielt, nie aufgehört. Inszenierungen erschöpfen sich mit ihren Bündelungen nie darin, bloße Inszenierung zu sein. Der Mensch ist ein aufsitzendes Wesen, es macht seine Wirklichkeit aus, dass er phantasiebegabt ist und auch mit Illusionen eine Zukunft hat.

2. Etwas muss Anfang der 80er in der Luft gelegen haben, und das müssen ausgerechnet Sitzgelegenheiten und Schreibzeug gewesen sein. Das war die Zeit, in der ein ins Protestantische gewendeter Begriff der Kommunikation aus der Mode und viele Begriffe des Mediums in Mode gerieten. Auf Jürgen Habermas’ Frage nach einer Analyse der geistigen Situation reagierte Martin Warnke mit einem legendären Text zur geistigen Situation der Couchecke. Cornelia Vismann begann zu dieser Zeit in Freiburg ihr Studium, und gleich auch ihre Forschung zu den Medien und Kulturtechniken des Rechts. 2010, vier Wochen vor ihrem Tod, hielt die halbwahre Staatsrechtslehrerin Vismann dann im Bonner Käte Hamburger Kolleg »Recht als Kultur« einen Vortrag über Tische, der aus heutiger Sicht eines auch noch mal klar macht: Staatrechtslehre ist eine Institution, die auf sich warten lässt. Jetzt aber hat der wahre Staatsrechtslehrer Christoph Schönberger, |eben dort am Bonner Kolleg, einige der Fäden aufgegriffen und endlich ein Buch über das regierende Sitzen geschrieben.

Das Ziel dieses Buches ist es nicht, den wissenschaftlichen Diskurs, für den Autorinnen wie Vismann stehen, weiterzutreiben. Das neuste Buch des Kölner Juristen ist aber ein spannender Bericht aus einem Teil der Wissenschaft. Es handelt sich um ein Lesebuch für ein Publikum, das man anschaulich das C.H.Beck-Publikum nennt. Das ist eine Art bürgerliches Milieu, das mit Recht sein Geld verdient, dabei gerne was mit Kunst, Kultur und Bildung liest, so gepflegt aussieht wie die Schaufenster der Münchner Innenstadt und sich meist so angeregt unterhält wie die Gäste im Bratwurstglöckl am Dom. Langer Rede kurzer Sinn: Dieses Buch ist für ein gutes Publikum geschrieben, es soll gut lesbar sein, ohne zu irritieren oder zu verwirren. Dieses Publikum ist behaglich verbreitert. Es ist dem belesenen und gelehrten Autor gelungen, für dieses Publikum zu schreiben. Es wird wohl viel zu Weihnachten verschenkt werden, dafür bietet es sich an.

3. Schönberger beginnt passend gemütlich, nämlich erst spät. Das römische Recht kommt mit seinen republikanischen Dingen nicht vor. Der zentrale Beitrag, den Rom zu einer Geschichte regierenden Sitzens geleistet hat, das dürfte der kurulische Stuhl gewesen sein, also der Stuhl, auf dem die höhere Beamtenschaft sitzen durfte und von dem Cicero sagt, er sei Teil des römischen Bildrechts, des ius imaginum. Dieser Stuhl inszeniert die römische Regierung, er ist damit auch ihr Recht, er ist ein Ding, das Rom mit verfasst. Manche nennen ihn einen Wagen- und Richtstuhl, es ist vor allem ein Klappstuhl ohne Arm- und Rückenlehnen. Er ist beweglich und auch in dem Sinne ein Wagenstuhl, weil auf ihm zu sitzen Teil jener gewagten und entsicherten Handlung ist, die man regieren nennt. Der kurulische Stuhl wird im historischen Teil von Schönbergers Buch vorsichtshalber übersprungen. Schönberger setzt mit dem spätantiken, byzantinischen Protokoll ein, in der die Herrschaft unbeweglich thront, weil der Thron kein richtiges Möbel mehr, sondern Teil der Architektur, also der Immobilien, ist. Schönberger setzt ein, wo das Sitzen schon richtig festsitzt. Da hat der Sitz sogar Dinge, an denen sich die Regierenden festhalten und anlehnen können, was für die so republikanisch wie kriegerisch gesinnte Regierung im klassischen Rom noch ein Objekt für Memmen gewesen wäre.

Schönbergers Buch setzt also nach einer ›immobilienrechtlichen Wende‹ ein, nach der ein Sitz nichts Bodenloses mehr habe sollte. Der Grund, warum Schönberger so spät beginnt, ist einleuchtend: Der Autor ist an den parlamentarischen Systemen interessiert, deren Horizont auch die Schwelle ist, mit der das 19. Jahrhundert begann und damit nahezu alles von dem, was heute noch Gegenwart beanspruchen kann, einrichtete. Schönberger ist kein Archäologe, er ist Gegenwarts- und Präsenzforscher.

Man liest das Buch mit großem Gewinn, vor allem, weil Schönberger sich durch diese Beschränkung auf einen detaillierten Vergleich parlamentarischer Sitze sowie eine enge Verzahnung zwischen der Beschreibung von Verfassungstypen und Architekturen einlassen kann. Bei diesen Beschreibungen geht es nicht um den Aufweis von Kausalität, es geht um Effekte und um Bedeutung, die freilich nicht frei von Kausalität ist. Eng drängende Räume, das dachte auch Churchill, lassen auch parlamentarische Diskussionen dringlicher erscheinen. Räumliche Konfrontationen und Hierarchien sind wie Resonanzkörper für Politik und Recht. Wer kennt nicht die Momente im Gericht, in dem ein Richter vorschlägt, mal kurz die Fenster zu öffnen, um Mandanten oder Anwälte wieder in offene Gesprächsbereitschaft zu bringen? Schönberger schildert eine Reihe solcher Effekte anschaulich, allesamt anhand von Parlamenten. In einem ersten Teil des Buches beschreibt er eine Entwicklung vom Thron zur Bank, setzt also mit Ereignissen ein, die er als Ende eines alten Europas begreift, und stellt die Entwicklung durch den geographischen Vergleich vierer Parlamente an: London, Paris, Washington und Berlin. Im zweiten Teil konzentriert er sich auf Westdeutschland, also die Bundesrepublik Deutschland. Er wechselt aus dem Register der Geographie in das Register eines Chronographen.

4. Man findet viel Anregung, viele Bilder, witzige, ironische und doch ernste Beobachtungen. Schönberger zeichnet teilweise in detaillierter Schärfe nach, wie Architekturen und ihre Objekte Verfassungen reproduzieren, wie sie also z.B. Kräfte unterscheiden und kanalisieren und wie dies damit korrespondiert oder kooperiert, wie in Texten diese Kräfte unterschieden und kanalisiert werden. Das Buch ist an Details so reich, dass eine Wiederholung unangemessen und eine Auswahl verfälschend wäre. Dieses Buch wird zur Lektüre mit Nachdruck empfohlen. Das andere Ende des |Textes, also der Bogen, der die vielen Details zusammenhalten soll, ist einfach und klar: Das ist erstens die Spannbreite, unter der sich Schönberger parlamentarische Demokratien im Westen vorstellen will und die er geographisch über die vier genannten Hauptstädte abhandelt, als seien es die vier Himmelsrichtungen, in denen Regierungssitze stehen können. Zweitens ist es eine kleine Geschichte der BRD. Einfacher und klarer geht es nicht.

Wir wären aber nicht in der Wissenschaft, wenn es nicht auch etwas zu falsifizieren und zu mäkeln gäbe. Für ein Buch über das regierende Sitzen fordert der Fußnotenapparat erstaunlich oft dazu auf, von hier nach da zu springen. Ist man auf einer Seite angelangt, heißt es in den Fußnoten, man solle auf einer anderen Seite des Buches lesen. Immer wieder finden sich auch Verweise, man solle in anderen Büchern mal nachsehen, also das berühmt-berüchtigte ›Siehe-Woanders‹, ohne genau zu erklären, warum man eigentlich woanders nachschauen sollte. Man hat doch ein Buch gekauft, kein Abo abgeschlossen. Das ist sicher der übliche deutsche Apparat, der auch in der Sorge um das Urheberrecht lieber zu oft als zu selten auf anregende Kollegen weiterverweist. Aber wenn man sich schon entscheidet, nicht für ein Fachpublikum zu schreiben, dann kann man sich entweder so einen unruhestiftenden Apparat sparen oder aber man macht ihn trotzdem gründlicher. Sonst kann der Text auch werden, was zu viele Köche verderben, nämlich Brei. Mit seiner Adressierung eines breiten Publikums belastet sich Schönberger nicht damit, bestimmte Begriffe zu schärfen, nicht mal damit, sie zu verwenden. In begleitenden Vorträgen und Vorträgen zu dem Buch, vor allem einen Vortrag vor dem Bonner Kolleg, ist aber deutlich geworden, dass er sein Buch begrifflich in der Nähe zu Claude Leforts Überlegung zur Form und Demokratie sieht. Lefort verwendet den Begriff mise-en-forme, die Übersetzer schreiben teilweise »Formgebung«, teilweise »In-Form-Setzen«. Das halte ich bei aller rekursiven Anlage, gerade wegen ihr, für eine gute Idee. Umso mehr vermisse ich aber eine Schärfung seiner Interpretation Leforts (oder anderer Ansätze zur Frage nach der Form und zu dem, was sie bewegt).

5. Das Fachpublikum wurde nicht adressiert, es darf sich beklagen. Mir wird es mit den Anekdoten dann an bestimmen Punkten doch zu viel. Muss man wirklich nochmal was zu Franz-Josef Strauß, Joschka Fischer und zu diesem Guttenberg lesen, wenn das nun wirklich nicht die Wissenschaft vom Sitz schärft, nicht einmal auf dem Gegenstand sitzenbleibt, sondern abschweift? Der leere Stuhl der Kanzlerin markiere das Ende Guttenbergs, schreibt Schönberger an einer Stelle. Das kann stimmen, aber er markiert auch den Anfang Guttenbergs, denn am Anfang des Buches und immer wieder kommt Schönberger auf die prinzipielle und damit anfängliche Leere von Stühlen zu sprechen (er orientiert sich schließlich an Lefort). An diesen anekdotischen Stellen schleift Schönberger seine Motive ab, als würde er sie selbst nicht so ernstnehmen und scharf sehen. Dennoch überwiegt der positive Eindruck, es mit einem ideen- und materialreichen Buch zu tun zu haben, besser noch: Es markiert auch damit wohl erst einen Anfang in Schönbergers neuem Forschungsinteresse. Am besten: Dieses Buch gibt den Forschungen zur objektorientierten Rechtswissenschaft, den neo-materialistischen Ansätzen und der Kulturtechnikforschung aus einem großen Herzen der Staatsrechtslehre Schub und neuen Schwung.

Notes

* Christoph Schönberger, Auf der Bank. Die Inszenierung der Regierung im Staatstheater des Parlamentes, München: C.H. Beck 2022, 282 S., ISBN 978-3-406-79159-8