Drei Dimensionen der Gleichheit im Europarecht*

[Three Dimensions of Equality in European Law]

Anna Quadflieg Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main quadflieg@lhlt.mpg.de

Giovanni Zaccaroni ist Dozent für Europarecht an der juristischen Fakultät der Universität Mailand-Bicocca und hatte zuvor Forschungs- und Lehraufträge an Forschungseinrichtungen in Malta, Irland und Luxemburg inne. Seine Studie zu Gleichheit und Nichtdiskriminierung in der EU erschien in der Reihe Elgar Studies on European Law and Policy, die sich zum Ziel setzt, das Verständnis für Europarecht und europäische Politik zu fördern. Das Buch überrascht durch ein schlankes Format. Auf rund 200 Seiten kommt es mit fünf Kapiteln aus. Neben der Einleitung und den Schlussfolgerungen wird die Arbeit durch drei Analyseeinheiten, »Gleichheit als ein Wert«, »Gleichheit als ein Prinzip« und »Gleichheit als ein Recht«,1 strukturiert. Die jeweiligen Unterkapitel auch im Inhaltsverzeichnis anzugeben, hätte den Leser*innen einen besseren Einstieg in die Studie ermöglicht.

»Können wir Gleichheit und Nichtdiskriminierung als grundlegende Elemente der EU-Rechtsordnung betrachten?« (1) Die Forschungsfrage, die Zaccaroni seiner Arbeit voranstellt, hat rhetorischen Charakter. Ziel seiner Studie ist es vielmehr, Gleichheit als einen Wert, ein Prinzip und ein Recht in der europäischen Rechtsordnung zu verorten und ihre Bedeutung sowie Wechselwirkungen aufzuzeigen (1–4). Mit dieser Herangehensweise findet der Autor einen neuen Zugang zu dem bereits aus vielen Perspektiven untersuchten Thema. Eingangs legt Zaccaroni fest, dass er nicht zwischen Gleichheit und Nichtdiskriminierung differenziert, weil er davon ausgeht, dass sie im Europarecht gleichbedeutend verwendet werden. Eine Auseinandersetzung mit dem Beziehungsverhältnis von Gleichheit und Nichtdiskriminierung hätte die Drei-Dimensionen-Analyse gleichwohl stärken können, zumal Zaccaroni später auf das ambivalente Verhältnis eingeht.

Das zweite Kapitel, »Gleichheit als ein Wert« fällt im Vergleich zu den anderen kurz aus. Zaccaroni zeichnet die Unterscheidung von Gleichheit und substanzieller Gleichheit nach. Er differenziert utilitaristische Gleichheit, Wohlfahrtsgleichheit und Ressourcengleichheit einerseits sowie sozialdemokratische und distributive Konzepte der Gleichheit andererseits. Dabei gesteht er ein, dass zwar der europäische Gleichheitsgedanke von verschiedenen Strömungen geformt wurde, dass »es [aber] kein spezifisches Konzept gibt, das das EU-Modell exakt wiedergibt« (16). Doch sei grundsätzlich die Gleichheit als Wert ein leitendes, wenn auch nicht bindendes Motiv für die Gesetzgebung und die Rechtsprechung der Europäischen Gemeinschaft.

Die Abhandlung zu »Gleichheit als ein Wert« wirkt wie ein Auftakt zu Zaccaronis eigentlicher Analyse, der Wechselwirkung von Prinzip und Recht. Obwohl die Studie sich insbesondere der Gleichbehandlung von Frauen und Männern widmet, was historisch gut begründbar ist, behandelt sie die Gleichheit als Wert fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der neueren europäischen Genderpolitik (28–33). Wer erwartet, dass die Studie darauf eingeht, wie sich die Gleichheit als ein Wert, insbesondere in Bezug auf das Verhältnis von Frauen und Männern, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte und so die Auslegung von Gleichheit als Prinzip und als Recht beeinflusste, wird enttäuscht. Indem er auf eine historische Hinführung weitgehend verzichtet, klammert Zaccaroni aus, dass Frauen in der längsten Zeit der Gleichheitsgeschichte nicht einbezogen und Männer zum Maßstab für Gleichheit gemacht wurden. Ebenfalls unberücksichtigt bleibt, dass der EuGH das Prinzip der Gleichheit bereits ab den 1970er Jahren unter neuen Wertevorstellungen ausformte.

Im Kapitel »Gleichheit als ein Prinzip« veranschaulicht Zaccaroni zunächst die weithin anerkannte programmatische Natur von Prinzipien im internationalen Recht (40–54). Diese stellt er den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gegenüber und zeigt so, wie die Rechtsprechung |dem Prinzip der Gleichheit zu Geltung verhalf. Dabei wird unter anderen der zweite Defrenne-Fall vorgestellt, bei dem der EuGH Mitte der 1970er Jahre auf Grundlage von Art. 119 des Vertrags über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV), der sich auf gleiches Entgelt für Frauen und Männer bei gleicher Arbeit bezieht, die sozialen Ziele bekräftigte (67–69). Die Bedeutung von Art. 119 EWGV, der zwar von den Mitgliedstaaten vernachlässigt wurde, aber eben nicht, wie Zaccaroni schreibt, rein programmatischer Natur war, bleibt in diesem Zusammenhang unklar. Vielmehr zeigt Zaccaroni anhand weiterer Diskriminierungstatbestände – Nationalität, Alter, sexuelle Orientierung, »Rasse«, Behinderung und Religionszugehörigkeit –, wie der EuGH das Prinzip der Gleichheit gestärkt hat und an welche Grenzen es stieß (78–105).

Im vierten Kapitel widmet Zaccaroni sich der »Gleichheit als ein Recht«, wie es sich im Rahmen der europäischen Primär- und Sekundärrechtsentwicklung manifestierte. Zaccaroni unterscheidet dabei zwischen Normen, die sich einzelnen Diskriminierungstatbeständen widmen und solchen, die allgemeiner auf Gleichheit abzielen. Die EU sei hinsichtlich der Gleichheit und Nichtdiskriminierung ihrer Zeit voraus gewesen (111). Die Ausführungen zum Wert der Gleichheit reichen allerdings nicht weit genug, die Wechselwirkung der Dimensionen Wert und Recht zu prüfen und zu hinterfragen, wie die ersten Gleichheitsgrundsätze in das europäische Recht einzogen. Unklar bleibt auch, warum die ersten Richtlinien zur Entgeltgleichheit (1975) und zur Gleichbehandlung von erwerbstätigen Frauen und Männern (1976) nur in Fußnoten erwähnt werden, waren sie doch der erste Schritt zur rechtlichen Verankerung des Gleichheitsprinzips. Zaccaronis Fokus liegt auf den ab der Jahrtausendwende verabschiedeten Richtlinien sowie der im Jahr 2000 proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union und darauf, wie sie die Rechtsprechung des EuGH prägten.

Die Argumentation des Autors kulminiert schließlich in der Feststellung, dass die drei Dimensionen von Gleichheit und Nichtdiskriminierung die wirtschaftliche und die soziale Integration der Europäischen Union vereinten. Insgesamt erweist sich die Studie als anspruchsvoller Diskursbeitrag zur europäischen Rechtsentwicklung, der sich in seiner Komplexität an ein interessiertes Fachpublikum richtet. Dabei hätte eine stärkere historische Perspektive insbesondere das Argument der Wechselwirkung von Gleichheit als ein Wert einerseits und Gleichheit als ein Prinzip sowie Gleichheit als ein Recht andererseits durchaus bekräftigen können. Ein gründliches Lektorat sollte Fehler, wie den Vornamen der Klägerin in einem der berühmtesten Fälle des europäischen Sozialrechts zu verwechseln (67), beheben. Neuheitswert hat die Arbeit vor allem dadurch, dass Zaccaroni die drei Dimensionen der Gleichheit im Europarecht klar benennt und unterscheidet, wo sie andernorts wenig oder gar nicht differenziert betrachtet werden. Vor allem aber setzt er Gleichheit als einen Wert, ein Prinzip und ein Recht zueinander in Bezug und arbeitet so die Interaktion – insbesondere von Prinzip und Recht – heraus. Er strukturiert damit den Blick, den wir auf den Platz und die Bedeutung von Gleichheit im Europarecht haben, neu.

Notes

* Giovanni Zaccaroni, Equality and Non-Discrimination in the EU. The Foundations of the EU Legal Order, Cheltenham: Edward Elgar Publishing 2021, 232 S., ISBN 978-1-78990-459-8

1 Übersetzungen aus dem Englischen hier und im Folgenden von der Rezensentin.