Neue Erkenntnisse zur Nichteinhaltung von EU-Recht*

[New Findings on Non-Compliance in EU Law]

Nina Cozzi Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main cozzi@lhlt.mpg.de

In den letzten Jahren ist ein wachsendes Misstrauen gegenüber der Europäischen Union zu beobachten. Mehrere Staaten, populistischer und nicht-populistischer Orientierungen, haben die eigene Funktion in und Zugehörigkeit zur EU hinterfragt. Insbesondere seit dem Brexit haben verschiedene europäische Länder komplexe rechtliche und institutionelle Gespräche über die zentrale Bedeutung der EU in ihren nationalen Rechtssystemen geführt. In diesem Zusammenhang und innerhalb des allgemeinen akademischen Diskurses zum Europarecht betrifft eine zentrale Diskussion die Nichteinhaltung des EU-Rechts durch ihre Mitgliedsstaaten, d.h. staatliches Verhalten, das nicht mit den Verpflichtungen aus nationalem, internationalem oder EU-Recht übereinstimmt (4).

Zu dem Thema wurde bereits viel veröffentlicht, das 2021 erschienene Buch von Tanja A. Börzel aber bietet einen innovativen Einstieg in die Debatte und stellt die etablierte Herangehensweise an das Thema in Frage. In der Einleitung nimmt Börzel vorweg, dass sie mit ihrem Buch dreierlei zu klären beabsichtigt, nämlich 1. wie das unterschiedliche Verhalten der Mitgliedsstaaten bei der Nichteinhaltung des EU-Rechts zu rechtfertigen sei, 2. welche Gründe für den seit den 1990er Jahren zu konstatierenden Rückgang der Nichteinhaltung auszumachen seien und 3. welche Unterschiede bei der Nichteinhaltung der Vorschriften in verschiedenen Politikbereichen vorliegen.

Obwohl die Europäische Kommission die Nichtbeachtung von EU-Vorschriften seit mehreren Jahren als »systemisches« und »pathologisches« Problem bezeichnet, legt Börzel im ersten Kapitel des Buches dar, dass es keine Hinweise dafür gebe, dass die Europäische Union ein Problem mit der Befolgung ihrer Vorschriften habe (13).1 Ausgehend von einer Definition der verschiedenen Formen von Nichteinhaltung und einer äußerst sorgfältigen Analyse der methodischen Herausforderungen, mit denen sich diejenigen konfrontiert sehen, die sie erfassen wollen, stellt die Autorin zunächst die Berlin Infringement Database vor, aus der sie im Weiteren die für ihre Analyse herangezogenen Daten schöpft (14–24). Es handelt sich dabei um eine Datenbank mit detaillierten Informationen zu jedem Vertragsverletzungsverfahren, einschließlich der Rechtsgrundlage, der Art des Verstoßes und des erreichten Stadiums für alle 13367 Einzelfälle, in denen die Kommission zwischen |1978 und 2017 einen Verstoß gegen EU-Recht registriert hat (27).

Diesem ersten, eher technischen Kapitel schließen sich das zweite und dritte Kapitel an, die zwei Schwerpunkte von Börzels Forschung behandeln. Im zweiten Kapitel werden drei Faktoren vorgestellt, die die Nichteinhaltung der Vorschriften in den Mitgliedsstaaten auf unterschiedliche Weise beeinflussen: Macht, Fähigkeit und Politisierung (»power, capacity, and politicization«, PCP-Modell, 38–45). Die Autorin macht deutlich, dass diese drei Faktoren je nach analysiertem Mitgliedsstaat individuell gewichtet werden müssen. Die EU-Institutionen sind die einzigen Akteure, die einen Einfluss auf diese drei Variablen haben, ihre Wirkung bei Nichteinhaltung abschwächen und somit eine Analyse der Schwankungen der Verstöße im Laufe der Zeit und im Verhältnis zur politischen Umsetzung ermöglichen. Diese Methode erlaubt es der Autorin, Annahmen darüber zu treffen, welche Mitgliedsstaaten in welchen politischen Sektoren und über welchen Zeitraum am stärksten zur Nichteinhaltung der Vorschriften neigen (55).

Nachdem sie dieses Bild skizziert hat, gibt Börzel im dritten Kapitel die Antwort auf die erste Frage ihres Buches, warum einige Mitgliedsstaaten trotz ihrer langjährigen EU-Mitgliedschaft im Allgemeinen mehr zur Nichteinhaltung des EU-Rechts tendieren als andere. Die sicherlich interessanteste und innovativste Erkenntnis ist, dass je größer die Unterstützung für die EU in einem bestimmten Land ist, desto höher auch die Wahrscheinlichkeit ist, dass dieses Land die Vorschriften nicht einhält. Der Grund dafür liegt in der Analyse der unterschiedlichen Gewichtung der drei Elemente des PCP-Modells, das im Übrigen der Prämisse folgt, dass die Kosten, die von den Mitgliedsstaaten aufgewendet werden müssen, um die Vorschriften einhalten zu können, ausschlaggebend sind für die Einhaltung der EU-Vorschriften: Offenbar ist es wahrscheinlicher, dass Mitglieder gegen EU-Rechtsvorschriften verstoßen, je weniger sie sich gegen diese Kosten wehren können. Darüber hinaus zeigt Börzel weitere interessante Ergebnisse auf: Gerade die euroskeptischen Mitgliedsstaaten halten die EU-Gesetzgebung am meisten ein (87). Das liegt daran, dass diese Länder eher gegen die EU und ihre Politik mobilisieren, was ihren Regierungen die Möglichkeit gibt, für sie vorteilhaftere Gesetze oder Konditionen auszuhandeln. Vor diesem Hintergrund lässt sich besser verstehen, warum Dänemark das Land ist, das das EU-Recht am besten einhält, während Italien die meisten Verstößen in der gesamten EU begeht (83). Diese Ergebnisse sind insofern innovativ, als sie einige der gängigsten Annahmen in Studien über die Nichteinhaltung von EU-Rechtsvorschriften widerlegen, z.B. dass die ost- und mitteleuropäischen Länder zusammen mit den euroskeptischen Ländern am schlechtesten abschneiden.

Die Politisierung ist der zentrale Faktor um zu verstehen, warum die Nichteinhaltung der Vorschriften, anders als man intuitiv glauben könnte, in den letzten Jahren nicht zugenommen hat, sondern seit Mitte der 1990er Jahre einen rückläufigen Trend aufweist. Im vierten Kapitel des Buches klärt Börzel ihre zweite Frage, indem sie darlegt, dass dieser allmähliche Rückgang vor allem auf zwei miteinander verbundene Faktoren zurückzuführen ist, nämlich Entpolitisierung und Übertragung von Befugnissen. Der Effekt der Entpolitisierung durch die Übertragung an die Kommission reduzierte die Nichteinhaltung des EU-Rechts, weil die Umsetzung des EU-Rechts für die Mitgliedsstaaten dadurch weniger kostenintensiv wurde (137). Im Gegensatz dazu führen neue Richtlinien zu höheren Kosten und damit zu einer häufigeren Nichtbeachtung, da ihre Umsetzung teurer ist als Änderungen oder Modifizierungen der Richtlinien selbst (129). Dies liegt daran, dass neue Rechtsvorschriften eher politisiert werden und ihre Verabschiedung daher nicht an die Kommission delegiert werden kann.

Im letzten Kapitel des Buches schließlich gibt die Autorin eine Antwort auf die dritte Frage, nämlich warum in einigen politischen Sektoren die Vorschriften stärker missachtet werden als in anderen. Sie stellt insbesondere heraus, dass sich die Verstöße gegen das EU-Recht auf wenige Politikbereiche beschränken. Am häufigsten wird gegen die marktkorrigierende Politik verstoßen, weil sie mit höheren Kosten verbunden ist, die eher politisiert werden können.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Börzels Band einen wertvollen Beitrag zur Erforschung und Debatte der Nichteinhaltung von EU-Vorschriften leistet. Mit einem bemerkenswert umfangreichen Korpus an Sekundärliteratur und einer Fülle an statistischen Daten gelingt es ihr, eine Reihe etablierter Überzeugungen ins Wanken zu bringen. Damit kann dieses Werk zu einem wegweisenden Maßstab für all diejenigen werden, die bereit sind, den veralteten Ansatz der Non-Compliance-Studien zu hinterfragen.

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Notes

* Tanja A.Börzel, Why Noncompliance. The Politics of Law in the European Union, Ithaka/London: Cornell University Press 2021, XVI + 263 p., ISBN 978-1-5017-5339-8

1 Übersetzungen ins Deutsche hier und im Folgenden von der Rezensentin.