Der Mann ohne Eigenschaften*

[The Man Without Qualities]

Marietta Auer Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main auer@lhlt.mpg.de

Seit drei Jahren ist die monumentale Kelsen-Biographie Thomas Olechowskis nun in der Welt. Die erste Auflage von 2020 war bald vergriffen. Der vorliegenden Besprechung liegt die durchgesehene zweite Auflage von 2021 zugrunde. Änderungen beschränken sich laut Vorwort »auf die Ausbesserung von Fehlern sowie auf Nachträge der zwischenzeitlich erschienenen Literatur […]. Zu größeren Änderungen fand ich allerdings auch keinen Anlass, weil die bis jetzt erschienenen Buchbesprechungen sowie die zahlreichen persönlichen Rückmeldungen, die ich erhielt, in der Summe äußerst positiv waren« (Vorwort zur Zweiten Auflage, X).

Was soll man zu einem Buch noch sagen, das ausweislich der Homepage des Autors seit seiner Veröffentlichung Gegenstand von sagenhaften 42 Rezensionen aus dem In- und Ausland war, einschließlich der Besprechung als »Juristisches Buch des Jahres 2021«, wobei zwei öffentliche Interviews des Autors in Wiener Bibliotheken über sein Werk noch gar nicht mitgezählt sind?1 Dieses Buch ist – und das ist auch für das Verständnis seines Sujets relevant – in Österreich, der ehemaligen Heimat Hans Kelsens, eine Staatsaffäre und ein Medienereignis gewesen. Es handelt sich um ein kuratiertes Werk, das seine Nähe zur Kelsen-Schule nicht verbergen will. Entstanden ist es seit 2003 auf Anregung der damaligen Vorsitzenden des Hans Kelsen-Instituts an der Universität Wien, Robert Walter sowie Clemens Jabloner, ersterer Kelsen-Enkelschüler, »anlässlich der – damals in Vorbereitung befindlichen – Edition der ›Hans Kelsen Werke‹« (Vorwort, VII). Für letztere ist, in Zusammenarbeit mit selbigem Institut, die Freiburger Hans-Kelsen-Forschungsstelle unter Matthias Jestaedt zuständig. Geplant ist unter dem Dach der Mainzer Akademie der Wissenschaften eine Gesamtedition von knapp 18000 publizierten Werkseiten sowie sämtlichen nicht publizierten Werken aus Kelsens Nachlass. Das Projekt ist auf 32 Bände angelegt und soll bis Ende 2042 abgeschlossen sein. Bislang sind acht Bände erschienen.2

Es musste also – und die Assoziation mit Robert Musil ist an dieser Stelle einfach zu naheliegend, als dass sie dieser Rezensentin als erster aufgefallen wäre – eine »Parallelaktion« her, um der zu erwartenden »Kanonisierung« und »Monumentalisierung« Kelsens den angemessenen biographischen Rahmen zu verleihen.3 Mit Blick auf diesen staatstragenden Anspruch lässt das rezensierte Werk kaum einen Wunsch offen. Es handelt sich, wie bereits zahlreiche Rezensenten in vielfachen Varianten bemerkt haben, um eine akribische Forschungsarbeit, die dem »jahrzehntelangen Forschungsdesiderat« einer großen, umfassenden Kelsen-Biographie Rechnung trägt.4 Verarbeitet ist eine »stupende Materialfülle«, die »neben der Berücksichtigung gedruckter Quellen vor allem auf minutiösen Archivrecherchen in einer Vielzahl von Ländern und auf ›oral history‹« beruht.5 Das Werk verfährt übersichtlich chronologisch. Es erzählt Kelsens Lebensgeschichte von der Wiege bis zur Bahre und gliedert diese in aussagekräftige vier Teile, überschrieben »In der Habsburgermonarchie«, »Als Professor an der Universität Wien«, |»Köln – Genf – Prag« sowie »Amerika und die Welt« (25–208; 209–478; 479–671; 673–917).

Und so verfolgt der Leser den 1881 in Prag geborenen »Jahrhundertjuristen«6 auf seinem durchaus schlafwandlerischen Pfad durch fast ein Jahrhundert Weltgeschichte. Dieses reicht vom fin-de-siècle-Wien (42ff.), wo das gesamte Romanpersonal der Wiener Moderne vom bereits erwähnten Musil über dessen »Diotima« Eugenie Schwarzwald und dem »Wiener Kreis« bis zum legendären Professor Freud irgendwie auch mit Kelsen zu tun hat oder dessen Weg kreuzt, über dessen geschickten Aufstieg durch die Wirren des ersten Weltkriegs (195ff.) zum »Architekten« der Österreichischen Bundesverfassung und Richter am Verfassungsgerichtshof (255ff.), den späteren »Sturz« aus dieser Position (437ff.), die Wander- und Exiljahre von Köln über Genf und Prag nach Harvard ab 1930 (481ff.) bis zur Ankunft in der neuen Heimat Berkeley (761ff.), wo Kelsen 1973 nach zahlreichen Einladungen zu Vorträgen und Preisverleihungen auf der ganzen Welt hochbetagt und hochgeehrt stirbt. Wohin auch immer der Protagonist der Erzählung sich wendet, begegnet dem Leser das führende Personal des 20. Jahrhunderts: die Spitzen der Wiener und Weimarer Staatsrechtswissenschaft, an deren Stelle nach Kelsens Vertreibung durch die Nationalsozialisten nahtlos die führenden Köpfe Amerikas und der weiten Welt treten. All das liest sich trotz der großen Stoffmenge flüssig, ja süffig und vermittelt das Kolorit der beschriebenen Milieus mit großer Anschaulichkeit. Wenn es dabei manchmal etwas bunt zugeht – so etwa bei den gleichsam touristischen Stadtvignetten, die allen Schauplätzen vorangestellt sind und denen man etwa Informationen über die Höhe des Kölner Doms (496), die Bedeutung des Boston Symphony Orchestra (680) oder den Skandal über das Fresko Diego Riveras in der Lobby des Rockefeller Center (677) entnehmen kann,7 für das sich Kelsen gar nicht interessiert haben dürfte (s.u.) –, so schadet dies nicht, weil bei alledem immer auch ein dichtes Netz an historiographisch relevanter Information eingewebt wird, etwa zur Bedeutung des Wiener Heimatrechts für die große Zahl von bildungs- und aufstiegswilligen Juden aus Galizien und der Bukowina, die in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende in die Reichshauptstadt Wien strömten und zu denen auch Kelsens Eltern gehörten (44f.).

Was tut nun Kelsen an all diesen Orten? Er hält sich dort nicht einfach auf, sondern publiziert von früher akademischer Jugend an am laufenden Band. So arg konnten die äußeren Umstände gar nicht sein, dass er nicht noch Zeit fand, im Monatsrhythmus zwei oder drei oder noch mehr Aufsätze, Bücher oder Gutachten zu den am Aufenthaltsort jeweils aktuellen Problemen des Staats- und Völkerrechts zu verfassen und »Angriffe« von »Gegnern« der Reinen Rechtslehre zu parieren. Die Grundzüge dieser Lehre lagen indessen bereits seit der Habilitation 1911 fest und wurden in späteren Jahren und Jahrzehnten nurmehr modifiziert und ergänzt. Neuen Forschungsthemen wandte sich Kelsen nur auf Druck äußerer Umstände zu. Das Lebenswerk dieses Gelehrten bestand also darin, einem zu einem sehr frühen Zeitpunkt feststehenden System von einigen wenigen rechtswissenschaftlichen und staatsrechtlichen Dogmen – Trennung von Sein und Sollen, Trennung von Rechtswissenschaft und Politik, Rechtswissenschaft als Normwissenschaft, Wertrelativismus, Identität von Staat und Recht, Recht als Zwangsordnung, Stufenbau der Rechtsordnung, Grundnormtheorie, völkerrechtlicher Monismus – immer wieder neue Anwendungsfelder in geltenden staats- und völkerrechtlichen Problemen zu erschließen, dabei ihre »Gültigkeit« zu erproben, Gegner zu »erledigen« (332f.) und so zu einem immer geschlosseneren und unangreifbareren System der Wissenschaft vom positiven Recht zu gelangen.8 Von dieser Hegemonie der Reinen Rechtslehre im |Werk Kelsens gibt es nur eine einzige größere Ausnahme: Unter dem Titel »Vergeltung und Kausalität« spekulierte Kelsen seit Ende der 1930er Jahre gleichsam von der Außenseite her über die moralgeschichtliche Evolution des Menschen von einem »normativen« zu einem »kausalen« Verständnis von Naturgesetzen, die mit der Evolution von »Naturvölkern« – mit Kelsen: »Primitiven«9 – zu »Kulturvölkern« einhergegangen sei (645ff.). Erst der moderne Kulturmensch verstehe es, Natur und Kultur säuberlich zu trennen und aus ersterer keine Normen mehr herleiten zu wollen, so dass man im Ergebnis doch wieder bei der Reinen Rechtslehre herauskommt. All dies wird in Olechowskis Biographie in eingestreuten Werkzusammenfassungen anschaulich referiert und auf die theoretischen Kernelemente zurückgeführt. Aber geht daraus wirklich hervor, was Kelsens Rechtstheorie leistet und was dabei analytisch unterbelichtet bleibt, weil es dem charakteristischen Reduktionismus des Kelsenschen Rechtsbegriffs zum Opfer fällt?

Eine kritische Auseinandersetzung mit Kelsens Rechtstheorie ist indessen ausdrücklich nicht Ziel der vorgelegten Biographie, die »keine rechtsphilosophische oder rechtstheoretische Auseinandersetzung mit Hans Kelsen« bieten, sondern sich auf eine Untersuchung »rechtshistorischer Natur« beschränken will: Das Buch soll »das Tun und Wirken Kelsens als historisches Faktum betrachten und erklären« (19). Freilich relativiert der Autor diese Aussage sogleich selbst wieder. Wer das Leben Kelsens verstehen wolle, der müsse »auch den Sinn seiner wissenschaftlichen Arbeiten erfassen, muss seine Gedankengänge nachvollziehen, muss tief in alle Wissenschaften, mit denen sich Kelsen beschäftigte – Rechtstheorie, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Rechtsdogmatik und vieles andere mehr – hineintauchen« (20). Und so folgt auf den knapp 900 Seiten der biographischen Abhandlung dann doch eine Gesamtwürdigung von Person und Werk, die sich freilich nicht immer der nachvollziehbaren Neigung entziehen kann, ihren Gegenstand zu idealisieren.10 So »mag der Ausdruck ›Genie‹ für Kelsen sicherlich zutreffend sein« (120); jedenfalls gelte er als »einer der bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts« (928). Natürlich waren seine Vorstellungen »visionär« (574), seine Mahnungen »Kassandrarufe« (641), seine Privatbibliothek »riesig« (668), seine Gutachten »hochpolitisch« (852), sein Start in Harvard »fulminant« (704) und sein lateinamerikanisches Publikum zu Recht auf »das Kommen des Meisters« gespannt (808). »Kelsen sprengte in Wirklichkeit also auch hier alle Vorgaben« (766). Musil:

»Es hatte damals schon die Zeit begonnen, wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub, aber auf mindestens zehn geniale Entdecker, Tenöre oder Schriftsteller entfiel in den Zeitungsberichten noch nicht mehr als höchstens ein genialer Centrehalf oder großer Taktiker des Tennissports. Der neue Geist fühlte sich noch nicht ganz sicher. Aber gerade da las Ulrich irgendwo, wie eine vorverwehte Sommerreife, plötzlich das Wort ›das geniale Rennpferd‹.«11

Kelsen tut man mit derlei hagiographischer Ornamentik indessen keinen Gefallen. Bereits an anderer Stelle wurde eine gewisse Ratlosigkeit darüber ausgedrückt, dass die vorliegende Biographie angesichts der konstatierten Singularität Kelsens auch von der Singularität der ihr gestellten Aufgabe ausgeht: »Eigentliche Vorbilder besitzt die vorliegende Biographie nicht« (21).12 Wie sich die Gefahren des Biographismus und der idealisierenden Verwendung von Schüler- und Ego-Dokumenten auswirken, hätte man etwa am Beispiel Sigmund Freuds studieren können, dessen Leben und Werk sich weit mehr noch als dasjenige Kelsens als exemplarischer Brennpunkt der Ideen- und Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts eignet. Um Freuds Leben und Werk rankten sich bereits zu Lebzeiten die Legenden, die es den zahllosen Biographien und Fiktionalisierungen, die seit Freuds Tod erschienen sind, bereits im Ausgangspunkt unmöglich machten, zur wahren Persönlichkeit des »Meisters« vorzudringen. Freud war sich dessen bewusst und vernichtete schon in jungen Jahren autobiographische Quellen, um es, wie er seiner Braut Martha Bernays berichtete, seinen künftigen Biographen möglichst zu erschweren, |eine Fiktion seiner Persönlichkeit aus Papier zu errichten: »Das Zeug legt sich um einen herum wie der Flugsand um die Sphinx, bald wären nur mehr meine Nasenlöcher herausgeragt; ich kann nicht reifen und sterben ohne die Sorge, wer mir in die alten Papiere kommt.«13

Nun mangelt es auch im Fall Kelsens an autobiographischen Quellen (21f.), ohne dass sich dieser ebenso wie Freud gezielt um deren Vernichtung bemüht hätte. Umso mehr stellt sich die Frage, wer eigentlich die Persönlichkeit hinter dem paradigmatischen Lebensweg eines exilierten Gelehrten des 20. Jahrhunderts einerseits und den zahlreichen hier minutiös zusammengetragenen Anekdoten von banaler Alltäglichkeit andererseits war, und eine Antwort wird nicht recht erkennbar. Kelsen war – was hier mitgeteilt, aber sogleich durch Spekulationen über unerkannte Hochbegabung beiseitegeschoben wird – ein in jeder Hinsicht durchschnittlicher Schüler und Student, der bis zur Promotion niemandem durch besondere Begabung aufgefallen war (46ff., 57ff., 88ff.). Ein Mann des populären Geschmacks, der »in den Supermarkets von Berkeleys […] mit Kennerblick sowohl die einladenden Aufschriften der Konservenbüchsen wie die Kurven der Verkäuferinnen studiert« und »mindestens einmal die Woche […] ins Kino [geht], um sich zu entspannen; je anspruchsloser der Film […], desto besser« (859). Ein Freund derber Scherze, der einem ihm lästigen lateinamerikanischen Gastgeber sinngemäß das f-Wort auf Französisch anempfiehlt: »Eh bien, mon vieux, va faire l’amour!« (811), der seinen 1933 bei erster Gelegenheit zu den Braunen übergelaufenen Kölner Ex-Assistenten Friedrich August Freiherr v.d.Heydte zum »deutschen Gruß« vor der Kulisse der San Francisco Bay auffordert (866) und der H.L.A. Hart bei einer Podiumsdiskussion in Berkeley derart den Satz »Norm is norm!« ins Gesicht schreit, dass dieser mit seinem Sessel hintenüberkippt (891). Musil:

»Denn wenn sich im Lauf der Zeit die gewöhnlichen und unpersönlichen Einfälle ganz von selbst verstärken und die ungewöhnlichen verlieren, so daß fast jeder mit der Sicherheit, die ein mechanischer Zusammenhang hat, immer mittelmäßiger wird, so erklärt das ja, warum trotz der tausendfältigen Möglichkeiten, die wir vor uns hätten, der gewöhnliche Mensch nun einmal der gewöhnliche ist! Und es erklärt auch, daß es selbst unter den bevorzugten Menschen, die sich durchsetzen und zu Anerkennung kommen, eine gewisse Mischung gibt, die ungefähr 51% Tiefe und 49% Seichtheit hat und den meisten Erfolg findet.«14

Ein »Held« war Kelsen übrigens nicht, wie er selbst immer wieder betont (547, 776). 1933 hatte er nichts dagegen, in Köln die Hakenkreuzflagge herauszuhängen, »da es schließlich jedermann mache« (547); seinen alten österreichischen Dienstrevolver warf er aus Angst vor Entdeckung »in eine Bananenschale eingewickelt in den Rhein« (547). Mit der Emigration in die USA wartete er buchstäblich bis zur letzten Sekunde (668), während sein Hauptaugenmerk in den verschiedenen breit referierten Korrespondenzen mit Köln, Genf, Prag und den USA stets der hartnäckig verhandelten Besoldung und vor allem den »Ruhegenüssen« galt (486ff., 564f., 574ff., 612f., 814ff.). Politik interessierte ihn nicht (684); gleichwohl war er unter der Prämisse einer »sauberen Trennung von Recht und Politik« (790) laufend gutachterlich für die jeweils aktuellen politischen Interessen des internationalen Rechts tätig (593ff., 732ff., 745ff., 798ff., 852ff.). Eine Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Salamanca neben Francisco Franco lehnte er ab, wollte die Urkunde dann aber doch gerne per Post zugeschickt bekommen (865f.). Die entscheidende Frage bei alledem lautet: Wo war Kelsen originell und wo war er nur exemplarisch? Wo war er Pionier, der durch seine Ideen die Rechtstheorie und Weltpolitik voranbrachte, wo dagegen nur kongenialer Exponent des Zeitgeists, Medium des 20. Jahrhunderts und Souffleur des modernen Rechtsbegriffs, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort erschien, um das metaphysisch |depravierte Gerüst des technokratischen Rechtspositivismus zu errichten, dessen die Zeit bedurfte? Musil:

»Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle.«15

Die vorliegende Biographie erweckt den Eindruck, dass Kelsen immer und überall der Erste und Originellste war, der maßgebliche Akteur auf allen wissenschaftlichen und politischen Bühnen, die er betrat; immer derjenige, um den sich alles drehte. So werden die zahlreichen polemischen Auseinandersetzungen, die er zeitlebens mit wissenschaftlichen Kontrahenten führte, paradigmatisch etwa diejenige mit seinem Schüler Fritz Sander (321ff.), durchweg so geschildert, dass Kelsen von Anfang an im Recht war und am Ende obsiegte, wodurch sein Ruhm und Großmut mit den unterlegenen Abtrünnigen beständig wuchs, während diejenigen, die es dann immer noch nicht glauben wollten, zur Strafe gänzlich in der Bedeutungslosigkeit versanken. Bezeichnend ist, dass viele dieser Auseinandersetzungen, wiederum paradigmatisch diejenige mit Sander, Prioritätsfragen zum Gegenstand hatten. Dabei muss man Kelsen gar keinen Plagiarismus unterstellen, um zu konstatieren, dass er mit vielen Begriffsschöpfungen – etwa mit der Unterscheidung zwischen »Rechtsnorm« und »Rechtssatz« (695)16 – eben nicht der erste war, sondern nur besonderes Geschick darin besaß, zeitgenössischen Topoi vor dem reduktionistischen Hintergrund der Reinen Rechtslehre besonders klare, anscheinend wertneutrale und »wissenschaftliche« Bedeutungen zu verleihen. Im 20. Jahrhundert reichte das aus, um ein Paradigma der Rechtswissenschaft zu begründen.

Wo die Grenzen der Leistungsfähigkeit desselben liegen, zeigt sich indessen deutlich an der angloamerikanischen Rechtstheorie, die sich von der Reinen Rechtslehre nie recht überzeugen lassen wollte und es bis heute lieber mit dem vom Sessel gefallenen H.L.A.Hart hält (892). Die Gründe dafür werden in Olechowskis Biographie so dargestellt, als seien sie ganz und gar unverständlich – »diese Kritik war nur selten substantiiert« (702) – und gewissermaßen eine geschmäcklerische Laune des amerikanischen Publikums, dem Kelsens Theorie »einfach […] zu europäisch, zu theorielastig, zu kantianisch« war (702). Dabei liegt hier der entscheidende blinde Fleck des Paradigmas der Reinen Rechtslehre: Selbstverständlich ist diese insoweit »zu kantianisch«, als sich die »großen« Dualismen zwischen Sein und Sollen, Natur und Kultur, Recht und Moral, zwischen der straff hierarchisierten Innenseite des Rechts und seiner in die imaginierte Grundnorm verdrängten Außenseite wie ein Webfaden durch all ihre konzeptionellen Emanationen ziehen. Wenn die Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts eines gezeigt haben dürfte, dann dies: Keine dieser »großen« Trennungen lässt sich durchhalten, und wo sie als epistemische oder praktische Dogmen verabsolutiert werden, richten sie mehr Schaden als Nutzen an.17 Warum sollte es etwa so sein müssen, dass Rechtsordnungen ihre Geltung nur in der hierarchisch strukturierten Form eines »Stufenbaus« beglaubigen können? Aus dem Blick gerät dadurch der Nomos der kulturellen Ordnungen, ohne den das Recht nicht wie ein Fisch im normativen Wasser schwimmen könnte,18 die Horizontalität rechtspluralistischen Denkens und ganz generell die Möglichkeit eines nichthierarchischen, nicht-obrigkeitlichen, nicht-imperialistischen Ver|ständnisses von Recht, Staat, Völkerrecht und Zwischenstaatlichkeit.19 Warum soll andererseits die Geltung einer unäquivok etatistischen Rechtsordnung mit ihrer sehr realen Zwangsgewalt am Nadelöhr einer imaginierten »Grundnorm« hängen, nur damit zwischen Recht und Realität um der Reinheit der Theorie willen keine Befleckung entstehe? So könnte man lange fortfahren. Es genügt festzuhalten, dass gerade letzteres der rechtsrealistisch imprägnierten amerikanischen Rechtstheorie nicht vermittelbar war – im Gegensatz zur Lehre H.L.A. Harts, die derlei Umstände vermeidet.20

Nun sei Olechowskis großes Werk gerade um solcher Einsichten willen allen Lesern ans Herz gelegt, die sich für Rechtstheorie, Rechtsgeschichte und politische Geschichte des 20. Jahrhunderts interessieren – die »unreine« Untrennbarkeit aller drei Arenen lässt sich an Kelsens Leben und Werk exemplarisch studieren. Was kann uns Kelsen heute noch sein? 1939 verfasste W.H.Auden anlässlich des Todes von Sigmund Freud einen poetischen Nachruf, in dem er den verstorbenen Schöpfer der Psychoanalyse nicht als Person, sondern als »Meinungsklima« würdigte, das sich längst vom Individuum gelöst hatte und buchstäblich zu einer Lebensbedingung der Nachgeborenen geworden war wie das Wetter, über dessen Diktat zu schimpfen bekanntlich auch ganz sinnlos ist:

»If some traces of the autocratic pose,the paternal strictness he distrusted, stillclung to his utterance and features,it was a protective colorationfor one who’d lived among enemies so long: if often he was wrong and, at times, absurd,to us he is no more a personnow but a whole climate of opinionunder whom we conduct our different lives:Like weather he can only hinder or help«21

Kelsen, der Freud den wesentlich größeren Ruhm nicht gönnte (370),22 hätte dies vermutlich nicht als Kompliment empfunden. Es ist aber eines, das zum 20. Jahrhundert passt.

Notes

* Thomas Olechowski, Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers, unter Mitarbeit von Jürgen Busch, Tamara Ehs, Miriam Gassner und Stefan Wedrac, 2., durchges. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck 2021, XXIII+1029 S., ISBN 978-3-16-160205-4

1 https://rechtsgeschichte.univie.ac.at/team/thomas-olechowski/publikationen/monographien/https://rechtsgeschichte.univie.ac.at/team/thomas-olechowski/publikatio nen/monographien/ (abgerufen 15.04.2023); Reinhard Zimmermann, Juristische Bücher des Jahres – Eine Leseempfehlung, in: JuristenZeitung 76 (2021) 991–997, 993f.

2 https://www.adwmainz.de/projekte/hans-kelsen-werke/informationen.htmlhttps://www.adwmainz.de/projekte/hans-kelsen-werke/informationen.html; https://kelsen.online/informationen/das-projekthttps://kelsen.online/in formationen/das-projekt; https://www.mohrsiebeck.com/mehrbaendiges-werk/hans-kelsen-werke-493900000?no_cache=1https://www.mohrsiebeck.com/mehrbaen diges-werk/hans-kelsen-werke-49390 0000?no_cache=1 (jeweils abgerufen 15.04.2023). Dazu unverblümt Reinhard Mehring, »Viel Papier beschrieben/und im Irrtum geblieben« ? Thomas Olechowskis kolossale Kelsen-Biographie, in: Der Staat 59 (2020) 451–462, 462: »Die Masse der Bände wird den durchschnittlichen Leser […] geradezu erschlagen und die Komplexität des Werkkosmos droht für den Nachwuchs zum Dissertationsgrab und zur akademischen Sackgasse zu werden.«

3 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften I, hg. v. Adolf Frisé, 27. Aufl., Hamburg 2012; dazu bereits Mehring (Fn. 2), 451f.

4 Exemplarisch Martin P. Schennach, in: Juristische Blätter 144 (2022) 130–132, 130.

5 Schennach (Fn. 4), 130.

6 Vgl. Manfred H. Wiegandt, Der Jahrhundertjurist. Thomas Olechowskis monumentale Kelsen-Biographie, in: Recht und Politik 57 (2021) 104–121.

7 Manchmal lohnt eine Nachrecherche. Diego Riveras Fresko »Man at the Crossroads« (1933) war auf Veranlassung des damaligen Direktors des Rockefeller Center, Nelson (nicht John D.Jr.) Rockefeller, noch vor der Enthüllung wieder zerstört worden, weil es in einem versteckten Bildausschnitt eine Szene mit Lenin zeigte, der die Hände von Arbeitern zusammenführt. Im rezensierten Werk wird dies wie folgt kommentiert (677): »John D.Rockefeller Jr. war ein Philanthrop, aber kein Sozialist und schon gar kein Idiot.« Zur doch etwas tieferen Bedeutung der Sache bis hin zu aktuellen Debatten um Kunstfreiheit und Bildzensur Marlene Grunert, Urheber versus Eigentümer. Amerika streitet über zwei Wandgemälde, die sich kritisch mit der Sklaverei befassen, in: FAZ Nr. 87 v. 14.04.2023, 13.

8 Übersichtlich dazu jüngst Horst Dreier, Hans Kelsen. Zur Einführung, Hamburg 2023, 99–134.

9 Noch unschönere Begriffe finden sich etwas verschämt in einer Fußnote (647 Fn. 882). Immerhin werden sie nicht verschwiegen.

10 Ähnlich Schennach (Fn. 4), 131: »natürliche Komplizenschaft«.

11 Musil (Fn. 3), 44.

12 Kritisch unter Verweis auf die Debatte über wissenschaftliche Biographik auch Schennach (Fn. 4), 131.

13 Sigmund Freud, Martha Bernays, Spuren von unserer komplizierten Existenz. Die Brautbriefe, Bd. 4, hg. v. Gerhard Fichtner, Ilse Grubrich-Simitis, Albrecht Hirschmüller, Frankfurt am Main 2019, 361. An derselben Stelle macht sich Freud über seine künftigen Biographen lustig: »Wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ›Entwicklung des Helden‹ recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden.« Zum Ganzen Andreas Mayer, Wie schreibt man keine Freud-Biographie?, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XIV (2020) 68–84.

14 Musil (Fn. 3), 117.

15 Musil (Fn. 3), 150.

16 Grundlegend zur Unterscheidung zwischen »Rechtsnorm« und »Rechtssatz« bereits Eugen Ehrlich in seiner erstmals 1913 erschienenen »Grundlegung der Soziologie des Rechts«; vgl. Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 5. Aufl., Berlin 2022, 61. In seinem polemischen Verriss der Erstauflage dieses Werks (dazu im rezensierten Band 165ff.) konnte Kelsen mit der später von ihm adaptierten Unterscheidung noch nicht viel anfangen: »Eine Differenzierung zwischen ›Rechtssatz‹ und ›Rechtsnorm‹ ist zwar nicht rätlich, kommt aber dennoch vor«; Hans Kelsen, Eine Grundlegung der Rechtssoziologie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1914/15) 839–876, 846.

17 Statt aller Fabian Steinhauer, Die Größe der Trennung, in: Unter dem Gesetz. Zettelkasten, Schaufenster und Schirm, https://fabianstein hauer.tumblr.com, dort zu finden durch Eingabe der Suchtermini »Größe der Trennung« und scrollen bis zum Ende der Seite (abgerufen 15.04.2023).

18 Grundlegend Robert M.Cover, The Supreme Court 1982 Term. Foreword: Nomos and Narrative, in: Harvard Law Review 97 (1983) 4–68.

19 Grundlegend Andreas Engelmann, Rechtsgeltung als institutionelles Projekt. Zur kulturellen Verortung eines rechtswissenschaftlichen Begriffs, Weilerswist 2020, 43–53.

20 H.L.A.Hart hat keinerlei Probleme damit, für die Gesamtgeltung der Rechtsordnung auf die Akzeptanz durch die Rechtsunterworfenen und damit auf ein faktisches Geltungskriterium abzustellen; vgl. H.L.A. Hart, The Concept of Law, 2. Aufl., Oxford 1994, 116f.

21 W.H.Auden, In Memory of Sigmund Freud, 1939, in: ders., Collected Poems, ed. by Edward Mendelson, New York 1991, 273–276, 275 (Strophenform weggelassen); vgl. auch Mayer (Fn. 13), 68.

22 Kelsen über Freud 1953, zitiert im rezensierten Band (370): »Der Freud war ja nicht Professor, Freud war ja Privatdozent. Er hatte nur später den Titel eines Professors bekommen, und das ist in akademischen Kreisen ein himmelweiter Unterschied zwischen einem Professor und einem nur mit dem Titel bekleideten Privatdozent.«