Limitierte positivistische Kriminologie und Herausforderungen der Strafrechtsreform*

[Limited Positivist Criminology and the Challenges of Criminal Law Reform]

Karl Härter Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main haerter@lhlt.mpg.de

Die internationale Forschung zur Strafrechtsgeschichte hat in den letzten Jahren die positivistische Kriminologie (wieder-)entdeckt, was nicht zuletzt auch Michele Pifferi, dem Herausgeber der Limits of Criminological Positivism zu verdanken ist. In einer exzellenten Einleitung erläutert er Zielsetzung, wesentliche Fragestellungen und inhaltliche Themen des kohärenten Sammelbandes und nimmt auch eine vergleichende Einordnung der Einzelbeiträge vor. Diese untersuchen die Limitierungen der positivistischen Kriminologie seit ihrer Etablierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der Wirkungen zentraler Ideen auf die Modernisierung des Strafrechts, wobei Gesetzgebung und partiell auch Justizpraxis und Strafvollzug einbezogen werden. Exemplarisch behandelt werden Konzepte wie Begründung und Zwecke des Strafens zwischen Vergeltung und social defense, die Konzeptualisierung des Verbrechers zwischen biologischem Determinismus und freiem Willen und dessen criminal responsibility (Zurechnungsfähigkeit)1 und dangerousness (Gemeingefährlichkeit), Jugendkriminalität bzw. Jugendstrafrecht sowie Individualisierung der Strafe, unbestimmtes Strafmaß und die Kriminalstrafen substituierenden oder ergänzenden Sicherheitsmaßnahmen. Die Frage nach den limits zielt auch auf Gegenpositionen und Widerstand von Strafrechtswissenschaft, Rechtspraxis und Legislative. Von diesem konzisen Themen- und Frageraster ausgehend präsentieren elf ausgewiesene Expertinnen und Experten Einflüsse, Diskurse und Limitierungen der positivistischen Kriminologie, wobei die Beiträge mit einer Ausnahme als exemplarische Länderstudien angelegt sind.

Marco Nicola Miletti behandelt anhand der Reform des Strafverfahrens in Italien Kritik und Widerstände der klassischen Schule gegen die Forderungen der scuola positiva der 1880er Jahre, die keinen Einfluss auf Reform- und Kodifikationsvorhaben gewinnen konnte. Die Strafrechtsreform im deutschen Kaiserreich untersucht RichardF.Wetzell hinsichtlich der Einflüsse und Mitwirkung insbesondere des prominentesten Vertreters der positivistischen Kriminologie, Franz von Liszt. Dessen weiterreichende Vorschläge wurden zwar von Ministerialbürokratie und klassischer Jurisprudenz abgelehnt, da er und andere Kriminologen aber zu Kompromissen bereit waren, konnten sie z.B. hinsichtlich der Etablierung eines zweigleisigen Systems von Kriminalstrafen und Sicherheitsverwahrung einen limitierten Einfluss gewinnen.

Am Fallbeispiel des positivistischen Autors Raymond Saleilles thematisiert James M. Donovan das Problem der Individualisierung des Strafens in Frankreich. Klassische Jurisprudenz und religiös-katholische Prägung dominierten die am freien Willen festhaltenden Reformkonzepte, die letztlich positivistische Einflüsse abwehrten. Ausgehend von einem ausgezeichneten Überblick über die positivistische Kriminologie und Strafrechtsreform in Belgien zeigt Yves Cartuyvels, dass die auch international intensiv diskutierten kriminologischen Konzepte der social defense und dangerousness in ihren biologistisch-deterministischen Ausprägungen zwar abgelehnt wurden. Dennoch entfalteten sie über strategische Kompromisse Wirkung und beeinflussten die Kriminalpolitik und eine spezifisch gegen gefährliche Gruppen/Klassen gerichtete »Sondergesetzgebung« (social defense laws), weil es ein mit den positivistischen Ideen übereinstimmendes allgemeines gesellschaftliches Interesse an der »sozialen Verteidigung« gegen »gemeingefährliche Kriminelle« gab. Solche allgemeinen Wirkungen erkennt auch Heikki Pihlajamäki in Finnland, das aufgrund seiner territorialen Situation und des dominanten Einflusses der deutschen Jurisprudenz freilich keinen Resonanzraum |für den positivistisch-kriminologischen Diskurs bot. Insofern waren direkte Wirkungen positivistischer Kriminologie deutlich begrenzt, für enger begrenzte pragmatische Reformvorhaben (bedingte Verurteilung und Strafen von unbedingter Dauer für gefährliche rückfällige Straftäter) und im Jugendstrafrecht kann Pihlajamäki durchaus Einflüsse nachweisen, die mit dem allgemeinen kriminalpolitischen Diskurs korrespondierten.

Enrique Roldán Cañizares gibt einen eher klassisch orientierten Überblick über den dogmatisch-juristischen Diskurs der beiden wichtigsten »Schulen« in Spanien, die katholische Jurisprudenz und den philosophischen Krausismo. Deren Widerstand verhinderte eine weiterreichende Etablierung positivistischer Kriminologie, die im Grunde nur einen Vertreter hatte. Katholizismus und klassische Jurisprudenz, die an der dogmatischen Dominanz des freien Willens festhielten, markieren folglich die Grenzen positivistischer Kriminologie. Eines ihrer wesentlichen Anliegen war die Reform des Jugendstrafrechts, die Paul Garfinkel anhand des römischen Jugendstrafgerichts im faschistischen Italien untersucht. Insofern geht er über den kriminologischen Diskurs hinaus und bezieht die Justizpraxis exemplarisch mit ein. Dadurch kann er das bisherige Bild des Einflusses der scuola positiva relativieren, denn die Praxis der Jugendstrafgerichtsbarkeit war kaum durch deren Konzepte beeinflusst, sondern folgte den zeitlich weiter zurückreichenden Ideen des Mainstreams der Strafrechtsreformer. Die zunehmende Bedeutung kriminologischer statistischer Daten für die Debatten um Kriminalitätskonzepte und Kriminalitätspolitik in England zeigt Lindsay Farmer auf. Freilich findet sich in diesen kaum eine Akzeptanz der empirischen Kriminologie. Insofern fungierten Kriminalstatistiken nicht als wissenschaftliche Basis für Strafrechtsreformen, sondern deren Nutzung folgte den Trends der Kriminalpolitik und ihnen kam eine verstärkende Funktion z.B. hinsichtlich des Vorgehens gegen habituelle, professionelle oder jugendliche Kriminelle zu. Pragmatisch-rechtspositivistische Ausrichtung und Funktion des Strafrechts als Regierungsinstrument markieren folglich in England die limits positivistischer Kriminologie.

Susanna L.Blumenthal bietet eine detaillierte biographische Fallstudie des »Amateur-Kriminologen« MacDonald, eine Art amerikanischer Lombroso. Obwohl er in Fachzeitschriften publizierte, ausgedehnt korrespondierte und auch legislative Institutionen adressierte, wurde er als Pseudowissenschaftler ausgegrenzt. Insofern kann Blumenthal aufzeigen, wie sich die Strafrechtswissenschaft disziplinär gegen die empirische Kriminalanthropologie abgrenzte, die folglich auch im progressiven Amerika keine Bedeutung gewinnen konnte. In Brasilien wurde die italienische scuola positiva dagegen im strafrechtlich-kriminologischen Diskurs und der Kriminalpolitik weitgehend adaptiert, wie Ana Lucia Sabadell und Dimitri Dimoulis demonstrieren. Anhand der Konzepte Gemeingefährlichkeit, individualisierte Bestrafung und Sicherheitsverwahrung loten sie exemplarisch die Limitierungen des kriminologischen Einflusses auf die Strafrechtskodifikationen von 1890 und 1940 und in der Justizpraxis aus. Die Ideen der positivistischen Kriminologie gewannen vor allem eine symbolisch-kommunikative und kriminalpolitische Funktion, um Modernität zu demonstrieren und die soziale Kontrolle als gefährlich etikettierter Minderheiten und Randgruppen auszuweiten, während das Strafrecht auf seinen etablierten »klassischen« Prinzipien beharrte.

Als einziger bietet der Herausgeber Michele Pifferi eine länderübergreifende thematisch angelegte Studie, die den Wandel des kriminologischen Konzepts der social dangerousness in Wechselwirkung mit dem Prinzip der individual criminal responsibility transnational vergleichend analysiert, und zwar für den internationalen Diskurs wie für Gesetzgebungsvorhaben in europäischen und lateinamerikanischen Ländern. Zwar konnte die social dangerousness aufgrund der Beibehaltung des Gleichheits- und Legalitätsprinzips und der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit weder im Strafrecht noch in der Rechtspraxis implementiert werden. Dennoch entfaltete das Narrativ gemeingefährlicher Verbrecherklassen begrenzte Wirkungen hinsichtlich der Zurechnung und Strafzumessung sowie der Einführung präventiver Sicherheitsmaßnahmen. Letztere unterlagen freilich auch in dem entstehenden zweigleisigen System weiterhin der Rechtsbindung und schlossen keine lediglich auf die subjektive Gefährlichkeit des einzelnen Täters begründete unbegrenzte Strafe bzw. Sicherheitsverwahrung ein.

Die gut geschriebenen, klar strukturierten Beiträge behandeln folglich alle für jeweils länderspezifisches Strafrecht, Jurisprudenz und Reformbestrebungen die zentrale Ausgangsfrage nach den Limitierungen positivistischer Kriminologie. Dies gilt auch weitgehend für die als biographische Fall|studien konzipierten Beiträge, die durch ihre Methodik freilich stärker limitiert sind und Kriminalitätspolitik wie Justizpraxis kaum thematisieren. Die meisten Beiträge sind allerdings breiter angelegt und beziehen auch Kriminalpolitik sowie zumindest teilweise religiöse, politische und rechtskulturelle Kontexte mit ein. Dennoch stellt sich die Frage der Vergleichbarkeit der Länderstudien und der ableitbaren allgemeinen Ergebnisse der Limits of Criminological Positivism, die Pifferi in der Einleitung systematisiert und synthetisiert.

Erwartbar ist, dass wesentliche Widerstände von der »klassischen« Jurisprudenz ausgingen, die den etablierten dogmatischen Konzepten und Prinzipien weiterhin Geltung verschaffte und Gegenpositionen zudem mit der Erhaltung durch Rechts- und Verfassungsstaat gewährter Freiheitsrechte begründen konnte. Allerdings überwindet der Band ältere dichotomische Modelle, die die kriminologischen Diskurse auf die scuola positiva und die Auseinandersetzung mit der »klassischen Schule« reduzieren. Eine wesentliche Limitierung positivistischer Kriminologie bestand vielmehr in der Stabilität des Strafrechts, das sich nur begrenzt empirischen Wissenschaften öffnete und seine juridischen Eigenlogiken und rechtspositivistischen Prinzipien beibehielt. Zudem konnten die Kriminologen ihren eigenen Anspruch auf empirisch-wissenschaftliche Fundierung von Reformvorhaben kaum einlösen. Insofern erwiesen sich gerade die Strafrechtskodifikationen einschließlich der Reformentwürfe, in denen die Kriminologen das eigentliche Vehikel einer Modernisierung erblickten, eher als »Bollwerke« gegen Veränderungen. Einflüsse auf die Gesetzgebung entfalteten sich aber dennoch in Form von Kompromissen und »Sondergesetzen«, die im Übergangsbereich zwischen Strafrecht, Kriminalpolitik und formaler Sozialkontrolle angesiedelt waren und insbesondere Jugendkriminalität und habituelle Kriminelle betrafen. Für diese belegen die meisten Beiträge die stärksten Einflüsse kriminologischer Konzepte wie social defense, social dangerousness und daraus resultierend ein zweigleisiges System von gesetzlich fixierten Kriminalstrafen und juridisch kontrollierten Sicherheitsmaßnahmen. Die geringsten Limitierungen und stärksten Einflüsse lassen sich folglich außerhalb des engeren Bereichs von Strafrecht und Jurisprudenz verorten, wobei der positivistisch-kriminologische Diskurs kaum neue empirische sozialwissenschaftliche Erkenntnisse einspeiste, sondern auch Narrative der kriminalpolitischen Diskurse und Praktiken sozialer Kontrolle transportierte. Insofern können nicht nur die Limitierungen positivistischer Kriminologie innerhalb des Strafrechts, sondern auch deren Interdependenzen mit Kriminalpolitik, Sozialkontrolle und anderen Diskursen als zentrales Ergebnis hervorgehoben werden. In dieser Perspektive bietet der Band über die engere Geschichte der empirischen Kriminologie hinaus auch für die allgemeine Rechtgeschichte wichtige methodisch-konzeptionelle Anregungen, um beispielsweise historische Normativitätsregime hinsichtlich disziplinübergreifender und transnationaler Limitierungen und Interdependenzen zu erforschen.

Notes

* Michele Pifferi (ed.), The Limits of Criminological Positivism. The Movement for Criminal Law Reform in the West, 1870–1940, London/New York: Routledge 2022, 285 S., ISBN 978-0-367-34059-9

1 Übersetzungen ins Deutsche hier und im Folgenden vom Rezensenten.