Schon immer wurde Kriminalpolitik, sei sie expansiv strafbarkeitserweiternd, sei sie intensiv strafverschärfend, nicht nur durch das Interesse des Staates an seiner eigenen Machterhaltung und -erweiterung angetrieben. Nach Max Weber ist staatliche Herrschaft langfristig auch auf den Legitimitätsglauben der Bevölkerung angewiesen.1 Im Idealfall stützt sich dieser Legitimitätsglaube nicht (nur) auf Traditionen und das Charisma der Herrscher, sondern vor allem auf Gründe, die in rechtlich institutionalisierten demokratischen Verfahren der Wahl und der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung hervorgebracht werden. Der Glaube an die (demokratische) Legalität der Herrschaft ist ein eigener Idealtypus des Legitimitätsglaubens.
Soweit dies der Fall ist, können öffentlich erhobene Kriminalisierungswünsche und Forderungen nach verschärfter Bestrafung bestimmter Delikte vom demokratischen Gesetzgeber nicht einfach ignoriert werden. Die eigentümliche Doppelnatur des Strafrechts wird in rechtsstaatlichen Demokratien öffentlich und damit zugleich politisch: Es garantiert den Schutz der Staatsbürger vor willkürlicher Machtausübung des Staates, soweit dieser sich strafrechtlicher Instrumente bedient, indem es deren Gebrauch wenigstens dem (parlamentarischen) Gesetzlichkeitsprinzip und den Habeas corpus-Grundrechten unterwirft. Gleichzeitig öffnet das Gesetzlichkeitsprinzip in einer Demokratie auch den politischen Raum für kriminalpolitische Forderungen. Sie werden in der Regel von Moralunternehmern erhoben, die für ihre Kriminalisierungswünsche nach politischen Mehrheiten im demokratischen Strafgesetzgebungsverfahren suchen – innerhalb verfassungsrechtlicher Grenzen.
Dabei können sich Moralunternehmer selbst auf die Verfassung, namentlich die Grund- und Menschenrechte, berufen. Auch diese Rechte sind doppelfunktional: Als Abwehrrechte schützen sie den Einzelnen vor dem willkürlichen Zugriff staatlicher Strafmacht, von der Strafgesetzgebung über das Strafverfahren bis zum Strafvollzug. Als objektive Prinzipien begründen sie eine Schutzpflicht oder Schutzverantwortung des Staates für die Grundrechte eines jeden Bürgers gegen Verletzungen durch Dritte, also durch nicht-staatliche Akteure. Zwar ist ein subjektives Recht (ius puniendi) des Opfers gegenüber dem Staat auf Bestrafung des Täters oder ein subjektives Recht potentieller Opfer auf Kriminalisierung schädigender Verhaltensweisen Dritter durch die staatliche Strafmacht (noch) nicht anerkannt. Dem Gesetzgeber wird außerdem von den meisten Verfassungsgerichten eine weitreichende Prärogative sowohl bei der Einschätzung der Strafwürdigkeit schädigender Verhaltensweisen als auch bei der Wahl der Mittel zu deren Prävention eingeräumt (mit der Pflicht, weniger eingriffsintensive alternative Regelungen der Kriminalisierung vorzuziehen).2 Gleichwohl hat die Berufung auf die staatliche Schutzpflicht eine kriminalpolitische Dynamik in Gang gesetzt, deren strafbarkeitserweiternde und -intensivierende Folgen die Funktion des Strafrechts als »Verbrechensbekämpfungs-Begrenzungs-Recht« (Wolfgang Naucke) zu überwiegen beginnen.3 Dies wird im Völkerstrafrecht, wenn auch nicht nur hier, besonders deutlich. Es steht explizit unter dem |Anspruch, potentielle oder aktuelle Opfer vor massiven Verletzungen ihrer elementarsten Menschenrechte zu schützen, von den völkerstrafrechtlichen Tatbeständen bis zum Strafverfahren. Dabei geht es nicht nur um staatliche, sondern auch um para-staatliche Akteure, z.B. in Bürgerkriegen. Schließlich scheint die Bedrohung der Grundrechte durch Dritte, namentlich durch Träger »privater Macht«, wie z.B. große, transnational operierende Wirtschaftsunternehmen, organisierte Kriminalität oder Cyberkriminalität, inzwischen mindestens ebenso gefährlich wie die unmittelbare Bedrohung durch staatliche Macht zu sein.4
Kriminalitätsfurcht lässt sich selbstverständlich auch in einer Demokratie politisch instrumentalisieren, um durch den »symbolischen Gebrauch der Politik«5 den Anschein zu erwecken, soziale Problemlagen und Konflikte durch scheinbar einfache, rasch die öffentliche Aufmerksamkeit und spontane Zustimmung erregende politische Reaktion zu bewältigen. Das Strafrecht gilt wegen seiner Eingriffsintensität, seiner expressiven Bedeutung und der damit einhergehenden Öffentlichkeit als bevorzugtes Mittel dafür. Auf diese Weise lässt sich der Legitimitätsglaube einer durch Kriminalität scheinbar oder zu Recht beunruhigten Bevölkerung zumindest vordergründig und kurzfristig stabilisieren. Ein symbolischer Gebrauch wird von Kriminalpolitik auch dann gemacht, wenn politische Akteure soziale Probleme umdefinieren, d.h. von einer Kategorie – z.B. einer sozial- und wirtschaftspolitischen – in eine andere – die kriminalpolitische – verlagern. So werden immer wieder soziale Ängste verschoben: in die Furcht vor Kriminalität durch gesellschaftliche Randgruppen. Aktuell geht es vor allem um wirtschaftliche Sorgen, konkret um die Angst vor Nachteilen bei der Arbeitsplatz- und Status-Konkurrenz zwischen Teilen der Bevölkerung und vor den damit einhergehenden gesellschaftlichen Anerkennungsverlusten, die als Furcht vor sogenannten verwahrlosten Jugendlichen, vor Ausländern und Zuwanderern oder vor dunklen Machenschaften transnational organisierter Kriminalität artikuliert werden.
Allerdings besitzt nach Murray Edelman die Demokratie auch eine gewisse Affinität zum symbolischen Gebrauch der Politik. Wenn um politische Mehrheiten öffentlich gerungen werden muss, kämpfen Moralunternehmer für ihre kriminalpolitische Agenda um die knappe Ressource öffentlicher Aufmerksamkeit, und die Regierungsparteien verteidigen ihre »politische Prämie auf den legalen Besitz der Staats-Macht« (Otto Kirchheimer/Carl Schmitt) angesichts der gleichen Chance konkurrierender politischer Parteien, nach der nächsten Wahl an deren Stelle zu treten. All dies trägt dazu bei, den expressiven, symbolischen und performativen Charakter politischer Aktivität gegenüber ihrer strategisch-instrumentellen Zweck-Mittel-Struktur zu verstärken sowie gegenüber dem Raum öffentlicher, auf rationale Gründe gestützter Deliberation zu immunisieren. Die Frage der empirisch nachprüfbaren Wirksamkeit wird dann ebenso vernachlässigt wie die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und der Rechtfertigung des damit verbundenen Eingriffs in Freiheitsrechte. Gleichzeitig besitzt jedoch ein demokratischer Rechts- und Verfassungsstaat auch die wirksamsten Mittel gegen die darin enthaltenen Risiken. Eine pluralistische Öffentlichkeit, parlamentarische Repräsentation, Gewaltenteilung, verfassungsgerichtliche Kontrollmöglichkeiten einschließlich eines wirksamen Grundrechtsschutzes für Minderheiten gegenüber der jeweiligen Mehrheit sorgen – wenn sie halbwegs gut funktionieren – dafür, dass symbolische Kriminalpolitik nicht zu einem Feindstrafrecht der Mehrheit gegen Minderheiten wird.
Allerdings werden diese strafrechtsbegrenzenden, staatliche Strafmacht zähmenden Mittel des demokratischen Rechtsstaates in jüngerer Zeit zunehmend in Frage gestellt. Ursprünglich enthielt das allgemeine und gleiche Gesetz, soweit es das Resultat eines allgemeinen und inklusiven demokratischen Gesetzgebungsverfahrens ist, auch eine wirksame Sicherung. Jeder Staatsbürger sollte in der Rolle des Mitgesetzgebers einem Gesetz nur unter der Bedingung zustimmen können, dass er es für sich auch in der Rolle des Normadressaten (mit |seinen vorhersehbaren Nachteilen für den Betroffenen) akzeptieren könne (Rousseau, Kant; für Beccaria das zentrale Argument gegen die Todesstrafe6). Diese prozedurale Garantie für die Unparteilichkeit eines demokratischen Strafrechts, das Einzelne weder diskriminiert noch privilegiert, funktionierte aber schon zur Zeit ihrer Schöpfer nicht, als die Lebensverhältnisse noch homogener und überschaubarer waren als heute. Sowohl die ökonomische Entwicklung der Arbeitsteilung und der Globalisierung als auch die sozialen Prozesse der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme sowie schließlich die kulturellen Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung und Diversifizierung von Lebensformen haben dazu geführt, dass die der Verallgemeinerungsoperation innewohnende Nötigung, sich als hypothetischer Mitgesetzgeber in die Lage des von dem Gesetz und seinen Eingriffsfolgen Betroffenen zu versetzen, ihre Unparteilichkeit generierende Wirksamkeit verliert. Damit vergrößern sich die Chancen einer zielgerichteten regulatory capture der Gesetzgebung für die je eigenen Interessen. Minderheiten können sich so auf Kosten der Mehrheit privilegieren, während die Mehrheit die Chance bekommt, Minderheiten zum eigenen Vorteil zu diskriminieren.7 Dies gelingt immer dann, wenn man als Mitgesetzgeber sicher vorhersehen kann, dass nur die jeweils anderen (Minderheit oder Mehrheit) von den negativen Eingriffsfolgen eines Gesetzes in die eigene Lebensführung betroffen sein werden, und wenn es gelingt, dies öffentlich und symbolisch so darzustellen, als würde dadurch das Gemeinwohl vermehrt.
Eine Antwort auf diese Gefahr war schon früh die Begrenzung der demokratischen Strafgesetzgebung durch die eingangs erwähnten, vor allem Minderheiten schützenden Grund- und Menschenrechte. Allerdings ist auch dieser Schutzmechanismus in doppelter Hinsicht zweifelhaft geworden: Erstens durch die oben erwähnte Komplementierung der Abwehrfunktion dieser Rechte gegen staatliche Strafmacht mit der objektivierenden Schutzpflicht-Funktion zur Mobilisierung staatlicher Strafmacht für den Schutz der Rechte Dritter. Eine Folge davon ist, dass beide Funktionen kollidieren oder sogar in ein Nullsummenspiel geraten können: Jede Stärkung der Rechte eines (potentiellen) Straftäters und Beschuldigten wird als Schwächung der Rechte der (potentiellen) Opfer angesehen.8 Zweitens gerät der Schutzmechanismus der Grund- und Menschenrechte in jüngster Zeit in den Sog einer Kritik, die im Namen der Demokratie auftritt und das Recht als Hürde demokratischer Selbstbestimmung in Frage stellt: Das Recht wird gegen die Demokratie ausgespielt, wenn und soweit es die Rechte von Minderheiten gegen demokratische Mehrheiten zur Geltung bringt.9 Kritisiert wird u.a. eine »hyperindividualistische, moralisierende Konzeption der Menschenrechte, von der primär sexuelle und religiöse Minderheiten profitieren, die jedoch nicht auf die Forderungen nach Gleichheit und Freiheit des größeren Teils der Bürgerinnen und Bürger eingeht«.10 Von da aus ist es nicht mehr weit zu der Forderung, dass die Lebensform der Mehrheit (d.h. ihre Normen des Anstands, der Moral, der Sitte) auch strafrechtlich gegen die abweichenden Lebensformen (vor allem sexueller und bestimmter religiöser, aber auch kultureller) Minderheiten geschützt werden müsste, bzw. dass diese nicht durch einen »übertriebenen« Grund- und Menschenrechtsschutz »privilegiert« werden dürfte. Ist dieser Schutz erst einmal erfolgreich vermindert worden, lässt sich mit der Kriminalisierung leicht der nächste Schritt tun.
Abgesehen davon, dass eine einseitige ethische Deutung der Grund- und Menschenrechte durch die (vermeintliche) Mehrheit, die ihre eigene, als maßgeblich empfundene Lebensform (unter Absehung von aller Heterogenität und Diversität auch innerhalb der Mehrheit) gegenüber den diversen Lebensformen privilegiert, Grund und Sinn dieser Rechte verfehlt, führt die Entgegensetzung von Recht und Demokratie noch zu einem weiteren Problem. Sie bringt das Risiko eines allgemeineren |Nullsummenspiels mit sich, das am Ende gleichermaßen zur Zerstörung des Rechts wie der Demokratie führt. In einem demokratischen Verfassungsstaat kann demokratische politische Gesetzgebung nur als Prozess einer dynamischen Fortentwicklung und kontinuierlichen Ausgestaltung der Grundrechte angesichts sich permanent verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse gerechtfertigt werden. Umgekehrt verfügt innerhalb dieses Prozesses niemand über ein Interpretationsmonopol. Als ein demokratischer kann er sich nur im Wege einer öffentlichen, deliberativen demokratischen Gesetzgebungspolitik realisieren.11 Dies schließt nicht aus, dass Institutionen wie Verfassungsgerichte ermächtigt werden, in diesen Prozess mit Letztentscheidungsbefugnis zu intervenieren, doch bleiben auch diese Interventionen öffentlich kritisier- und damit langfristig änderbar. Für eine demokratische Kriminalpolitik folgt daraus, dass sie sich auf keinerlei Nullsummenspiele einlassen darf, weder auf dasjenige zwischen Recht und Demokratie, noch konkret auf dasjenige zwischen einem rechtlichen Schutz für den Täter und einem demokratisch legitimierten Schutz für das Opfer. Schutzpflichten gegenüber potentiellen Kriminalitätsopfern müssen daher immer auch Schutzpflichten gegenüber potentiellen Beschuldigten einschließen.
Auf der Seite des Strafrechts ist in jüngerer Zeit dessen expressive oder kommunikative Bedeutung weitaus stärker akzentuiert worden als seine präventive. Das Spektrum reicht von Joel Feinbergs 1965 erschienener Studie The Expressive Function of Punishment über die Arbeiten Andreas von Hirschs zu Just Deserts und Antony Duffs zu Punishment, Communication and Community bis zu Günther Jakobs normgeltungszentrierter Theorie der positiven Generalprävention und Tatjana Hörnles opferzentrierter kommunikativer Straftheorie.12 Die in verschiedenen Varianten behauptete expressive Bedeutung lässt sich auf allen Ebenen, von der Gesetzgebung über die strafjustizielle Anwendung bis zur Verurteilung und Vollstreckung, beobachten. Auf allen drei Ebenen wird dem Strafrecht heute oftmals die Funktion zugeschrieben, gesellschaftliche Wertüberzeugungen zu kommunizieren. Im Einzelnen soll es diese bestärken, im Falle ihrer Verletzung mögliche oder tatsächliche Irritationen über ihre nachhaltige Geltung neutralisieren, das sie verkörpernde Recht wiederherstellen und das Opfer als anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft gemeinsam geteilter Werte restituieren.
Teilweise wird es sogar dafür in Anspruch genommen, einen gesellschaftlichen Konsens über solche Werte zuallererst herzustellen oder Zweifel am Bestehen eines Konsenses zu beseitigen. Die wertartikulierenden, -kommunizierenden, -stabilisierenden und -generierenden Funktionen des Strafrechts scheinen mit je unterschiedlichem Gewicht in einer gleichzeitig individualisierten und globalisierten, fragmentierten und pluralistischen Gesellschaft immer wichtiger zu werden. Nicht primär wegen seiner Effektivität, sondern wegen seiner expressiven Dimension fungiert Strafrecht zunehmend als ein Kommunikationsmedium für die System- und Sozialintegration, überhaupt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.13 Dies auch und möglicherweise gerade dann, wenn der Zusammenhalt vor allem in der subjektiven Wahrnehmung derjenigen bedroht erscheint, die nach dem Strafrecht rufen. Das Strafrecht soll dann gewährleisten, was Emile Durkheim im Jahre 1893 als die »mechanische Solidarität« einer Gesellschaft bezeichnet hat – jene tiefliegende, fundamentale Schicht an Werten, die so zentral für die kollektive Identität einer Gesellschaft sind, dass sie den Beteiligten eigentlich nur in Fällen ihrer Verletzung bewusst werden und dann durch die öffentliche Inszenierung des strafjustiziellen Theaters bekräftigt werden müssen.14 Freilich unterscheidet sich die heutige Situation von derjenigen am Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem dadurch, dass Durkheim die strafrechtlich bloß artikulierte mechanische Solidarität als ein gegebenes soziales Faktum ansah, während es heute oftmals darum |geht, eine solche mechanische Solidarität durch Strafrecht zuallererst herzustellen.
Die expressiv-symbolische Dimension demokratischer Kriminalpolitik und die expressiv-symbolische Dimension des Strafrechts korrespondieren miteinander. Sie be- und verstärken sich wechselseitig. Daher gibt es auch eine besondere Affinität der Demokratie zur Verwendung des Strafrechts als eines symbolischen Kommunikationsmittels. Wer als Moralunternehmer in der demokratischen Öffentlichkeit für ein Kriminalisierungsprojekt wirbt, gibt damit performativ zu verstehen, dass er es ernst meint, weil es für ihn um zentrale kollektive Werte der Gemeinschaft geht, die durch abweichendes Verhalten gefährdet seien, so dass es des Strafrechts bedürfe, um einen brüchigen Konsens wiederherzustellen oder einen Konsens zuallererst herzustellen Wer mit dem Strafrecht argumentiert, appelliert an die Tiefenschicht der mechanischen Solidarität.15 Dies scheint vor allem dann zu geschehen, wenn es, wie in gegenwärtigen pluralistischen und individualistischen Gesellschaften üblich, Dissens, Streit und Konflikt über die angemessenen Deutungen der grundlegenden gemeinsamen Wertüberzeugungen gibt sowie über die Frage, welche politischen Folgerungen daraus für eine gelingende System- und Sozialintegration gezogen werden können und sollen. Das Strafrecht soll dann performativ-deklaratorisch diejenigen Werte bekräftigen, verstärken oder gar zur Geltung bringen, die jeweils für grundlegend gehalten werden. Dies gilt z.B. für so weit auseinanderliegende Gebiete wie das Wirtschafts- und das Sexualstrafrecht gleichermaßen. Auch wenn es sich um multinormative Forderungen handelt – hier die Pflicht, ein Wirtschaftsunternehmen gut zu führen, indem Manipulationen bei Geschäften, Steuerdelikte oder Korruption vermieden werden; dort die Pflicht, die psycho-physische Integrität im Verhältnis der Geschlechter zu achten und Fürsorge walten zu lassen, nicht zuletzt auch im Verhältnis Erwachsener zu Kindern –, fungiert das Strafrecht gleichermaßen in beiden Fällen als Kommunikationsmedium. Multinormativität wird durch Strafrecht als ein theatralischer Monolog über basale Normen des Zusammenlebens, in der Sprache der mechanischen Solidarität, kommuniziert.
Beginnend mit Hobbes’ Aristoteles-Kritik, fortgesetzt von Kant, dann explizit thematisiert bei Constant 1819 und Hegel 1821, profiliert sich die Demokratie der Moderne in ihrer Differenz zur Antike an ihrem Verhältnis zur individuellen Freiheit.16 Für die Antike war politische Autonomie qua inklusiver Partizipation jedes (männlichen, erwachsenen, freien) Bürgers an der Gesetzgebung widerspruchslos kompatibel mit einer individuellen Lebensführung, die sich der kollektiven Identität, dem gemeinschaftlichen Ethos des guten Lebens, zu unterwerfen hatte. Öffentliche Zensur des sittlichen Verhaltens der Einzelnen ging Hand in Hand mit politischer Autonomie. Die Moderne etabliert das gleiche individuelle »Recht auf subjektive Freiheit«,17 das eine autonome Lebensführung ermöglicht, die zwar durch eine demokratische Gesetzgebung als ein System gleicher Rechte für jeden Bürger ausgestaltet werden muss, aber außer der Befolgung dieser Gesetze keine Identifikation mit einem kollektiven Ethos fordert. Was durch diese Gesetze nicht verboten ist, bleibt rechtlich erlaubt, auch wenn es der allgemeinen Sittlichkeit widerspricht. Die Autoren demokratischer Gesetzgebung sind Personen mit gleichen Freiheitsrechten und bleiben dies auch als Adressaten. Freiheit ist primär negative Freiheit gegenüber willkürlichen Eingriffen des Staates und solchen von Dritten.
Der Vorrang negativer Freiheit darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Bedeutung sich keineswegs in der Abwehr von Eingriffen und dem Verharren in bloßer Passivität erschöpft. Es handelt| sich primär um eine Freiheit der Mobilisierung, der Bewegung, eine Freiheit der »Zirkulation« sowie der Aktivität und Aktivierung, und zwar sowohl der Personen als auch der Sachen.18 Deutlich wird dies u.a. an der Gewerbefreiheit, der Befreiung der Arbeitskraft aus feudalen Bindungen sowie, nicht zuletzt, der Freiheit des Eigentums an beweglichen wie unbeweglichen Sachen. Eduard Gans hat dies in seinen über Hegels Rechtsphilosophie gehaltenen Vorlesungen Ende der 1820er Jahre wohl am deutlichsten zum Ausdruck gebracht: »Herr des Eigentums zu sein heißt im höchsten Sinn, sich dessen im vollen Bewusstsein entäußern zu können. Dieses Vermögen unterscheidet die menschliche Person vom Tier.«19 Nach Foucault ist es diese dezentrale Freiheit der Zirkulation, mit der sich der moderne Staat und andere Institutionen sozialer Kontrolle als Bio-Macht etablieren. Sie setzen auf die Freiheit eines jeden Bürgers, das eigene Leben im Austausch mit anderen freien Personen so zu gestalten, dass das Leben der Bevölkerung insgesamt produktiv gesteigert und sicher wird. Dies setzt freilich voraus, dass jeder Einzelne in vielfältigen Sozialisationsprozessen der Subjektivierung in das Netz von Einstellungen und Verhaltensweisen eingewoben wird, das ihn zum eigenverantwortlichen und gleichzeitig für die Bevölkerung vorteilhaften Gebrauch der Freiheit befähigt.
Damit wird zugleich sichtbar, dass das Recht der subjektiven Freiheit von Voraussetzungen abhängt, die gesellschaftlich hergestellt und reproduziert werden müssen. Dies zu gewährleisten wird auch zu einer Aufgabe des Rechts, spätestens dann, wenn es um die Kompensation der massiven sozialen Ungleichheit geht, die schon bestand, als das gleiche Recht auf subjektive Freiheit sich langsam durchzusetzen begann, und sich als Folge der entsprechenden gesellschaftlichen Praxis vor allem in den ökonomischen Verhältnissen verschärfte. Das 19. und mindestens die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sind durch politische Kämpfe gekennzeichnet, die darauf abzielten, das formal gleiche Recht auf subjektive Freiheit zu materialisieren. In größerem Umfang und dauerhaft gelang dies freilich erst, als demokratische Gesetzgeber sich dieses Ziel zu eigen machten und den modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaat schufen.20
Im Prozess der demokratischen Materialisierung des gleichen Rechts auf Freiheit wächst dem Strafrecht die Aufgabe zu, im Konzert mit anderen Rechtsgebieten die freiheitsfunktionalen Voraussetzungen zu ermöglichen und vor Funktionsstörungen durch abweichendes Verhalten zu schützen.21 Dies geschieht vor allem durch die Expansion des Strafrechts zum Schutz kollektiver Rechtsgüter über den schon geltenden Schutz des Staates, des Geldes und, mit nachlassender Bedeutung, der christlichen Religion hinaus, z.B. mit den Rechtsgütern der Funktionsfähigkeit verschiedener Märkte, des Wettbewerbs oder einzelner Modalitäten des Zahlungsverkehrs, schließlich auch des Interesses der Solidargemeinschaft an der Gewährleistung des Aufkommens der Mittel für die Sozialversicherung (§ 266b StGB). Das wohlfahrtsstaatliche Paradigma bringt komplementär dazu einen sozialtherapeutischen Diskurs über den Delinquenten hervor, der Kriminalität als Effekt von Störungen der komplexen und fragilen Prozesse der Subjektivierung und Sozialisierung thematisiert, durch welche der Einzelne sich so zu organisieren lernt, dass er von der Freiheit einen biopolitisch funktionalen Gebrauch macht. Sie sollen durch Resozialisierung behoben oder wenigstens soweit reduziert werden, dass der Delinquent in der Lage ist, künftig ein äußerlich straffreies Leben zu führen.22
Das wohlfahrtsstaatliche Paradigma einer demokratisch materialisierten Freiheit erweist sich freilich in wenigstens zwei Hinsichten als zunehmend prekär: Erstens verdeutlicht die Transformation moderner Gesellschaften in Risikogesellschaften die Störungsanfälligkeit der komplexen sozialen Teilsysteme durch globale Aufmerksamkeit erregende Katastrophen wie den schweren Reaktorunfall 1986 in Tschernobyl. Gerade komplexe Technologien lassen sich auch nicht mehr durch die Subjektivierung von Verhaltenspflichten im eigenverantwortlichen Verhalten von Individuen und eine entsprechende Expansion von Fahrlässigkeitstatbeständen so einfach auffangen wie zuvor noch im motorisierten Straßenverkehr. Darüber| wird der Staat zunehmend zum Präventionsstaat, der bereits weit im Vorfeld einer Gefahr interveniert – im Namen einer Sicherheit, die zum Super-Grundrecht aufgewertet wird und demokratische Strafgesetzgebung zur Expansion treibt. Zweitens wird das Recht auf gleiche subjektive Freiheit mit zunehmender Komplexität moderner Risikogesellschaften und gleichzeitiger kultureller und gesellschaftlicher Pluralisierung von Wertüberzeugungen selbst mehr und mehr als ein Risiko wahrgenommen. Stand am Beginn der Moderne das aktivistische Freiheitsverständnis im Zeichen von Risikoaffinität und -bereitschaft vor allem im ökonomischen System, als Chance innovativer Produktivität mit dem Risiko von Scheitern und Verlust,23 tritt jetzt die destruktive Seite deutlicher hervor. Die erforderlichen Prozesse der Subjektivierung und Sozialisierung, des ständigen Überprüfens und Korrigierens eigener Absichten und Überzeugungen wird unter diesen Bedingungen selbst vulnerabel.
Freiheit wird jedoch nicht nur zu einem sozialen Risiko für die Funktionsfähigkeit ihrerseits störungsanfälliger sozialer Teilsysteme. Auf der Seite der Individuen wird dieses Risiko so erfahren, dass mit zunehmender Abhängigkeit des Einzelnen in seiner autonomen Lebensführung von der gelingenden Inklusion in die sozialen Funktionssysteme zugleich dessen Verletzlichkeit größer wird. Je mehr Pluralisierung und Individualisierung in einer Gesellschaft zunehmen, desto komplexer und anspruchsvoller wird für jeden Bürger die Aufgabe, sich im Verhältnis zu anderen zu einem Selbst zu formieren, das auch inklusionsfähig ist. Auch wenn Individualisierung und Sozialisation stets Hand in Hand gehen, wird unter den aktuellen Bedingungen jedem Einzelnen vollends bewusst, in welchem Maße und Umfang das jeweils eigene Selbst von gelingender sozialer Kooperation mit anderen abhängt.24 Wie Rudolf Stichweh gezeigt hat, ist der Beginn der Moderne durch »Inklusionsrevolutionen« geprägt, durch welche es jedem Individuum möglich wird, an allen gesellschaftlichen Teilsystemen zu partizipieren, während diese Systeme sich gleichzeitig global erweitern. Jedes Individuum »kommt als Inklusionsadresse in Frage«.25 Da jedoch kein Individuum permanent und in allen Funktionssystemen gleichzeitig inkludiert sein kann, unterscheidet es sich von anderen gerade durch die jeweils individuelle Kombination von Inklusionen und Exklusionen: »Jedes Individuum ist der Möglichkeit nach in jedem Funktionssystem inkludiert, aus der Reaktion auf die Vielzahl der Inklusionsmöglichkeiten und vollzogenen Inklusionen ergibt sich die Form der modernen Individualität. Jedes Individuum ist in diesen Realisierungen von Inklusion von jedem anderen Individuum unterschieden und ist genau deshalb als ein Individuum zu erkennen.«26 In dem Maße, wie das Individuum von solchen singulär kombinierten Inklusionen27 abhängig wird, steigt seine Verletzlichkeit, die im schlimmsten Fall in dauerhafte Exklusionen umschlägt.
Prozesse der Individuierung und der Subjektivierung unter Bedingungen moderner pluralistischer Risikogesellschaften mit Vollinklusion in globale Kommunikationssysteme sind anspruchsvoll, langwierig und prekär, erfordern Offenheit gegenüber anderen ebenso wie die Fähigkeit, sich abzugrenzen und sind daher prinzipiell konfliktträchtig. Sowohl das Selbstverhältnis als auch die jeweils eigene Handlungs- und Konfliktfähigkeit formieren sich stets nur vorläufig innerhalb eines unabschließbaren Prozesses. Dies gilt vor allem dann, wenn man nicht mehr in lokalen und traditionalen Gemeinschaften mit hergebrachten Normen, festgefügten Rollen und Erwartungen sowie langfristigen Bindungen aufwächst und sein Leben führt. Sich in einer sozialen Welt zu bewegen, die durch eine Pluralität von Werteordnungen, eine hohe Diversität von Lebensformen, wechselnde oder prekäre Bindungen und ein hohes Maß an Individualisierung gekennzeichnet ist, führt zu einer latent (oder manifest widersprüchlichen) Erfahrung: derjenigen eines erheblichen Freiheitsgewinns, einer Befreiung aus vorgegebenen Rollen|erwartungen, und gleichzeitig einer intensivierten Abhängigkeit von den kommunikativen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen, unter denen dies allein durch Inklusion möglich wird.28
Die Erfüllbarkeit dieser Voraussetzungen und damit das Gelingen der Inklusion ebenso wie das Vermeiden von irreversiblen Exklusionen werden ungewisser. Eine besondere Relevanz scheint dabei vor allem die soziale Dimension der Anerkennung zu besitzen, auf die jeder Einzelne angewiesen ist, ohne sie jedoch unter Bedingungen des Pluralismus sicher erwarten zu können.29 Es besteht daher ein latent paradoxes Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und notwendiger Abhängigkeit von den anderen unter Bedingungen der Ungewissheit. Es handelt sich um Ungewissheit über das künftige Verhalten der anderen (die aus der Freiheit der anderen sowie aus der Pluralität der Werte und der Diversität ihrer Lebensformen und damit generell aus ihrer jeweiligen Fremdheit resultiert), über die Konfliktträchtigkeit notwendiger sozialer Kooperationen (und damit die Ungewissheit über Art und Ausgang des Konflikts) und die Offenheit der Zukunft (die Ungewissheit über das, was – vor allem im Verhältnis zu den anderen – kommen wird).
In einem elementaren Sinne sind diese drei miteinander zusammenhängenden Arten von Ungewissheit konstitutiv für das Zusammenleben der Menschen in einer natürlichen Umwelt.30 Sie lassen sich daher auch nicht vollständig beseitigen; außerdem würde mit der Verwandlung von Ungewissheit in Gewissheit jenes Freiheitspotential verloren gehen, das im spontanen und zufälligen Neu-Anfangen-Können eines jeden Menschen steckt.31 Angesichts des Risikos, jederzeit in existentielle Bedrohungen umschlagen zu können, lassen sie sich nur erträglicher machen durch soziale Bindungen, die zugleich auch Selbstbindungen sind, paradigmatisch durch das Versprechen.
In jüngerer Zeit hat vor allem die feministische Kritik das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Abhängigkeit unter Bedingungen der Ungewissheit akzentuiert. Dieses Spannungsverhältnis wird erfahrbar und sichtbar an der basalen Verletzlichkeit des je eigenen Körpers, die aus der gleichzeitigen Ausgesetztheit und Angewiesenheit des Lebens eines Menschen im Verhältnis zu anderen resultiert. Nach Judith Butler ist diese ursprüngliche Relationalität des menschlichen Lebens noch vor jeder Individualisierung und Subjektwerdung als Person gegeben.32 Als solche hat sie einen ontologischen, aber keinen essentialistischen oder statischen Charakter. »Diese Verletzlichkeit ist zwar ontologisch, aber nicht unabhängig von sozialen und politischen Bedingungen zu denken. Sie ist ein existenzielles Gemeinsames, aber sie ist zugleich relational, historisch und geografisch unterschiedlich. Die ungleich verteilte Verletzlichkeit hat damit etwas sowohl Trennendes, als auch etwas Verbindendes.«33 Da diese Verletzlichkeit eines jeden Einzelnen letztlich unüberwindbar bleibt, kann soziale Kooperation nur gelingen, wenn sie akzeptiert und nicht verdrängt wird. Letzteres ist aber, so lautet die feministische Kritik, in nach wie vor überwiegend patriarchalisch strukturierten Gesellschaften der Fall. Das sozial nach wie vor dominante Ideal des »autonomen Selbst« im Sinne einer autarken (maskulinen) Ich-Identität speist sich aus der Verdrängung der ursprünglichen Verletzlichkeit und Relationalität des menschlichen Lebens.
Dazu gehört auch das Reaktionsmuster der aggressiven Abwehr und der projektiven Identifikation des Fremden und Anderen mit dem Kriminellen und Bösen.34 Die naheliegende Vermutung, dass die Akzentuierung der ontologischen Verletzlichkeit des menschlichen Lebens zur Rechtfertigung verstärkter Kriminalisierungsforderungen dienen könnte, trifft daher so nicht zu. Vielmehr ist es der Wunsch nach Verdrängung dieser basalen Disposition, die den Ruf nach verstärktem Schutz durch Strafrecht und Strafe laut werden lässt. Soll das Bewusstsein der eigenen und wechselseitigen Verletzlichkeit nicht in aggressive Projektionen auf bedrohlich, gefährlich oder feindselig wahrgenommene Dritte, aber auch nicht in lähmende Ängste, Passivität, Rückzug und Selbst-Marginalisierung umschlagen, bedarf es des sozialen Vertrauens. Vertrauen lässt sich jedoch nicht administrativ| herstellen, sondern nur unter günstigen Randbedingungen von den Beteiligten selbst generieren. Zu den begünstigenden Randbedingungen gehört die Geltung grundlegender Normen des gleichen Respekts und der gleichen Sorge (Dworkins »equal concern and respect«35). Dieses Vertrauen ist eine essentielle Ressource der Freiheit verletzlicher Personen unter Bedingungen gesellschaftlicher Ungewissheit. Deutlich wird dies an einer erhöhten Sensibilität für Diskriminierungen und andere Formen der Marginalisierung und Exklusion, also der Verletzung des Rechts, als ein Gleicher in seiner sowie eine Gleiche in ihrer Verschiedenheit anerkannt zu werden.
Wenn die These zutrifft, dass das Spannungsverhältnis von individueller Freiheit und sozialer Abhängigkeit in pluralistischen, diversen (und kapitalistischen) Gesellschaften zu einer gegenüber der ontologischen Disposition noch einmal intensivierten Erfahrung von Verletzlichkeit im Verhältnis des Einzelnen zu den anderen führt, so hat dies kriminalpolitisch ambivalente Folgen: Sie verstärkt die Sensibilität für und intensiviert die Aufmerksamkeit auf Verletzungen durch die Ausübung privater Macht sowie, vor allem, auf verletzende Nebenfolgen und Risiken. Die Reaktion darauf kann in zwei entgegengesetzte Richtungen zielen. Die eine zielt rückwärtsgewandt auf das verzerrte Ideal eines autonomen (maskulinen) Selbst, das sich mit Hilfe der repressiven und präventiven staatlichen Strafmacht gegen eine Welt von Fremden und Feinden zur Wehr setzt. Eine strafbarkeitserweiternde und -verschärfende Kriminalpolitik wäre dann das Symptom einer regressiven, maskulinen Politik des sich aggressiv abgrenzenden, dabei die eigene Verletzlichkeit verdrängenden Selbst. Die andere Reaktion zielt wiederum auf eine extreme Position, wofür es ebenfalls einige Indizien gibt: Der ontologische Status der Verletzlichkeit besitzt eine Affinität zum Opfer-Diskurs.36 »Verletzlichkeit« hat einen unaufhebbaren subjektiven Erfahrungsaspekt, der sich in der individuellen, im schlimmsten Fall traumatischen Betroffenheit des Opfers manifestiert. Dieser Aspekt ist nur begrenzt verallgemeinerbar, er kann nur unter denjenigen geteilt werden, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben. Das traumatisierte Opfer ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es unter einem fundamentalen Verlust an Vertrauen leidet, also jener basalen Voraussetzung für ein individuell freies Leben unter den oben genannten Bedingungen gesellschaftlicher Ungewissheiten. Daher fordert der Opfer-Status politisch eine »Politik der Nähe«, der Empathie oder der »Aufmerksamkeit für das Besondere«,37 die sich auch in einer verstärkten kriminalpolitischen Mobilisierung äußern kann. Die expressiv-symbolische Dimension des Strafrechts wird deshalb oftmals dafür benutzt, das Vertrauen in stabile Anerkennungsverhältnisse im Sinne gleichen Respekts und gleicher Sorge durch Dritte, durch die anderen, einzufordern. Als (heterogene) Beispiele ließen sich die jüngsten Strafrechtsreformen der Verschärfungen des Sexualstrafrechts und des besonderen strafrechtlichen Schutzes für Polizisten und Unfallrettungskräfte in Deutschland nennen, darüber hinaus alle strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Maßnahmen zur Stärkung des Opferschutzes. Für diese Tatbestände ist charakteristisch, dass sie auf eine verbreitete Akzeptanz sowohl bei Teilen der Strafrechtswissenschaft als auch bei der Bevölkerungsmehrheit stoßen oder sogar durch diese gefordert wurden.38|
In Teilen der (deutschen) Strafrechtswissenschaft gibt es inzwischen eine Tendenz, auf diese Entwicklungen durch eine entsprechende Deutung der normativen Position des Adressaten strafrechtlicher Verhaltensnormen zu reagieren. Der primären strafrechtlichen Verhaltensnorm wird eine Sekundärnorm im Sinne einer generellen Pflicht zu rechtstreuem Verhalten hinzugefügt. Ulfrid Neumann hat schon 1985 in seiner Auseinandersetzung mit Hruschka kritisch von einer »Verdoppelung der normativen Bindung des Adressaten« gesprochen.39 Michael Pawlik formuliert dies am deutlichsten, wenn er betont, »dass eine freiheitliche Ordnung ohne die ständige Bemühung der Bürger um Rechtlichkeit nicht überleben kann«.40 Diese Pflicht zur Bemühung um Rechtlichkeit wird als »Bemühensobliegenheit« jedes Verhaltensnormadressaten gefasst, sich selbst so zu organisieren, dass die Rechte und Güter des anderen gewahrt werden. Es handelt sich also um die Pflicht eines jeden gegenüber sich selbst, sich so zu disponieren, dass er Situationen und Verhaltensweisen meidet, die eine Verletzung strafrechtlicher Verhaltensnormen zur Folge haben können. Im Grunde geht es um eine generalisierte Sorgfaltspflicht, wofür auch die Genese dieser Konzepte aus den strafrechtsdogmatischen Versuchen einer Relativierung des Unterschieds zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit (Fahrlässigkeit als Vorstufe des Vorsatzes) spricht. Im Falle einer (vorsätzlichen oder fahrlässigen) Verhaltensnormverletzung kann dann die »unzureichende Erfüllung jener Bemühensobliegenheit«41 zum Ausgangspunkt der subjektiven Zurechnung gemacht werden. Frauke Rostalski spricht davon, dass jeder Einzelne eine »individuelle[n] Pflichtenstellung als Bürger«42 innehabe, sich die strafrechtlichen Verhaltensnormen so anzueignen, dass tatbestandliche Erfolge vermieden werden. Tatjana Hörnle spricht aus der 2. Person-Perspektive (d.h. der Perspektive des Opfers) davon, dass neben der Feststellung der Verletzung einer geltenden strafrechtlichen Verhaltensnorm »die Person, der ein Vorwurf gemacht werden soll, in begründeter Weise als diejenige zu identifizieren ist, die unter Missachtung von Rücksichtnahmepflichten gegenüber anderen eine Normverletzung begangen hat«.43 Während bei Pawlik und Rostalksi also eine Art Staatsbürgertugend des Adressaten strafrechtlicher Normen gefordert wird, rechtfertigt Hörnle die Pflicht zur Rücksichtnahme aus dem moralischen Verhältnis der 2. Person-Perspektive (unter Bezugnahme auf Jay Wallace). Ganz gleich, ob Staatsbürgertugend oder moralische Rücksichtnahmepflicht – in beiden Fällen handelt es sich um eine Art allgemeiner Solidaritätspflicht jedes Einzelnen, welche dem öffentlichen Strafrecht vorgelagert wird. Auf diese Weise wird das »Leitbild des guten (Mit-)Bürgers« zum neuen Leitbild einer Kriminalpolitik der Verletzlichkeit. Die Orientierung an diesem Leitbild muss nicht mit unmittelbar strafbarkeitserweiternden und strafverschärfenden Folgen einhergehen, aber sie könnte zu einer verstärkten Kontrolle und Prävention durch informationstechnologische Beobachtung, Überwachung, Datensammlungen und Datenaustausch führen.44
Wie bei allen neuen kriminalpolitischen Projekten bleibt abschließend die Frage, ob die demokratisch mit guten Gründen gerechtfertigten Ziele mit den Mitteln des Strafrechts auch wirklich erreicht werden können. Dass pluralistische und diverse Gesellschaften unter Bedingungen eines globalisierten Kapitalismus mit Organisationen privater Macht, die tief und mit weitreichenden Folgen in die Lebensführung aller Bürger eingreifen können, auf ein hohes Maß an sozialem Vertrauen, auf basale Normen des gleichen Respekts und der Sorge, auf ein Bemühen jedes Einzelnen um Rechtlichkeit (z.B. compliance in Wirtschaftsunternehmen) und um gegenseitige Rücksichtnahme angewiesen sind, wird niemand bezweifeln. Aber kann das Strafrecht, auch ein symbolisch-expressives Strafrecht, diese ungeheure Aufgabe| schultern?45 Abgesehen davon überfordert diese neue Konzeption eines Pflicht-Strafrechts auch die Normadressaten. Es mutet ihnen unter Bedingungen wachsender sozialer Ungleichheit und Unsicherheit in einem globalisierten Kapitalismus mit prekären Lebensbedingungen und wachsender privater Macht zu, sich als ein moralisches Subjekt der Pflicht zur Rücksichtnahme oder als Bürger-Subjekt der Bemühung um Rechtstreue zu organisieren. Wie oben (unter Nr. 5) gezeigt, gelingt schon die Subjektivierung von Sorgfaltsnormen im Umgang mit komplexen und riskanten Technologien kaum noch. Wenn überhaupt, wäre das nur dann gerechtfertigt, wenn alle Adressaten strafrechtlicher Verhaltenspflichten auch deren Autoren, also tatsächlich Mit-Strafgesetzgeber wären.46
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* Überarbeiteter Vortrag, der 2017 in dem Workshop Strafrecht, Sicherheitsgewährleistung und Diversität in rechtshistorischer Perspektive am Instituto de Investigaciones de Historia del Derecho, Buenos Aires, (gemeinsam mit dem MPIeR) und 2019 beim deutsch-griechischen Strafrechts-Symposion, Aristoteles-Universität Thessaloniki gehalten wurde. Beide Veranstaltungen waren Teil des gemeinsam mit dem MPIeR realisierten Forschungsprojekts zu Multinormativität innerhalb des Exzellenzclusters EXC 243 Die Herausbildung normativer Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main 2012–2019. Eine dritte Version wurde schließlich 2020 im Dienstagsseminar des Instituts für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main diskutiert. Ich danke allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für ihre hilfreichen Diskussionsbeiträge.
1 Weber (1976) 122ff. (Kap. III. 1).
2 Vgl. nur BVerfGE 143, 53.
3 Naucke (1982) 564; Günther (2013a).
4 Naucke (2012); dazu Becker/Rönnau (2018).
5 Edelman (1964); Hassemer (1989); Kunz (2010).
6 Dagegen erhebt Kant den Einwand, dass es keine Strafe sei, »wenn einem geschieht, was er will, und es ist unmöglich, gestraft werden zu wollen« (Kant [1797] A 203). Freilich hält auch Kant daran fest, dass »ich, als Mitgesetzgeber« das Strafgesetz gegen mich »als einen des Verbrechens Fähigen, folglich als eine andere Person« abfasse (ebd.; Hervorhebungen K.G.).
7 Günther (2005a).
8 Garland (2001) 11.
9 Mathieu (2017). Vgl. dazu Günther (in Vorbereitung).
10 Mathieu (2018) (Übersetzung K.G.).
11 Habermas (1992) 629; Habermas (2013); Günther (1988) 298.
12 Für einen Überblick s. Garland/Duff (Hg.) (1994); Duff (2001); für die deutschsprachige Diskussion s. Günther (2014); Hörnle (2017).
13 So z.B. Gärditz (2015) 23: »Strafrecht ist in einer säkularen Gesellschaft, die ihre Institutionen kühl durchrationalisiert hat, damit eine verbliebene Wärmequelle [sic!] gesellschaftlich integrierender Symbolik geblieben, die über eine schlichte Setzung von Rechtsfolgen hinausgreift.« Vgl. auch ebd., 87, wo von den »gemeinschaftsstiftenden Funktionen des Strafrechts« die Rede ist.
14 Durkheim (1988) 118ff. (2. Kap.).
15 Gärditz (2015) 84, spricht in diesem Sinne affirmativ vom »Strafrecht in seiner vorrationalen Undeutlichkeit«, das »urtümliche Bedürfnisse nach sozialer Kontrolle befriedige«, weswegen »die konstitutionelle Positivierung des Strafrechts […] gerade die hintergründigen Erwartungen und Ethiken des Strafens für eine verfassungstheoretische Analyse interessant (mache)«. Interessant heißt dann, dass die Konstitutionalisierung des Strafrechts und deren verfassungstheoretische Analyse »die Nabelschnur zur Metaphysik« des Strafrechts nicht »endgültig […] kappen« dürfe (85). Zum Strafrecht als säkularisierte und rationalisierte Antwort auf das Problem der Theodizee s. kritisch Günther (2005b).
16 Hobbes (1984) 133f. (17. Kap.); Constant (1972) 365; Hegel (1970) § 124.
17 Hegel (1970) ebd. und § 260.
18 Foucault (2004) 78.
19 Gans (2005) 93.
20 S. statt vieler Grimm (1987); Böckenförde (1991) 143.
21 Dazu ausführlicher Günther (2016) 520.
22 Foucault (1976) 391ff.; Garland (1985).
23 Vgl. z.B. Hayek (1944/2014) 131.
24 Vgl. nur Habermas (1988) 187.
25 Stichweh (2016) 167, 221 und öfter.
26 Stichweh (2020).
27 S. dazu auch Reckwitz (2017).
28 Zu dieser von Anthony Giddens und Ulrich Beck entwickelten Deutung und ihren kriminalpolitischen Folgerungen s. Günther (2016) 520; Günther (2013b).
29 Pistrol (2016); Honneth (2018).
30 Darauf hat Hannah Arendt in ihren Schriften immer wieder aufmerksam gemacht.
31 Arendt (2018).
32 Butler (2012); Butler (2014); vgl. dazu auch Pistrol (2016).
33 Moser (2017).
34 Ebd.
35 Z.B. Dworkin (1986) 213.
36 Günther (2012); Reckwitz (2017) 428.
37 Rosanvallon (2010) 233.
38 Vgl. dazu (kritisch) Kölbel (2019). Als dritte Alternative für Reaktionen vor allem auf Gewaltdelikte ist in Umrissen eine Transformative Justice-Bewegung erkennbar, die vor allem aus den spezifischen Vulnerabilitäts-Erfahrungen sexualisierter Gewalt gegen Frauen und LGBTQs sowie rassistischer Gewalt gegen people of colour auf anspruchsvolle informelle, lokal arbeitende Netzwerke der Kommunikation zielt, in denen eine gemeinschaftliche Klärung von Gewaltakten und Verantwortungsübernahme möglich werden soll, um so Transformationsprozesse, vor allem bei den Tätern, auszulösen, und zwar jenseits einer formalisierten Sozialkontrolle und eines staatlichen Sanktionsapparates. Aufschlussreich dazu der Erfahrungsbericht des Berliner Transformative-Justice-Kollektivs, das sich unter dem Druck überfordernder Erwartungen an informelle transformative Konfliktbewältigung aufgelöst hat: https://www.transfor mativejustice.eu/de/transformation-auch-fur-uns/. Die Bewegung als solche ist freilich vielfältig und transnational, mit Schwerpunkten in Nordamerika, siehe https://www.what reallymakesussafe.com/#/home. Ob und inwiefern es sich dabei um ein Projekt der »Sicherheit von Links« handelt (so Brazzell [2017]) und/oder um eine Fortsetzung jener Gefängnisreform- und Abolitionsbewegungen, die auf entsprechende Traditionen einzelner Gruppen des Protestantismus wie die Quäker zurückgeht (vgl. dazu Freitag [2014] 18), so z.B. bei Morris (2000), bedürfte genauerer Forschung. In eine ähnliche Richtung bewegt sich mit Blick auf die Prävention von Straftaten mit konkreter Schädigung von individuellen Opfern die Kritik an Polizei und Polizeigewalt, vgl. nur Vitale (2017) und Loick (2018).
39 Neumann (1985) 389, 398; jetzt auch: Neumann (2019) 455.
40 Pawlik (2012) 371, Fn. 661.
41 Pawlik (2012) 371.
42 Rostalski (2016) 80.
43 Hörnle (2013) 51–53.
44 Vgl. dazu Burchard (2019) 537ff.
45 Nach Gärditz (2015) 83f. kommt es auf die empirisch nachweisbare Wirksamkeit des Strafrechts gar nicht an: »Der Zauber des Strafrechts (sic!) besteht […] gerade in dem grellen Kontrast von Eingriffsschärfe und auffälliger Unterbilanz an empirischer Wirksamkeit sowie Rationalisierbarkeit. Strafrecht als staatliche Reaktion auf Normbrüche brauchen wir nicht, weil Funktionsmechanismen valide belegt oder ein Nachweis der sozialen Steuerungskraft erbracht wäre. Wir brauchen es, weil sein sozialer Sinn als öffentlicher Kommunikationsbeitrag unmittelbar verstanden wird.«
46 Günther (2005c).